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Mein Schneider.

. Kleider machen ebenso sehr Leute, wie Leute Kleider machen. Aber Kleider machen die Leute nicht bloß schön, sondern unter Umständen auch zornig, aufgeregt und böse. Hat zum Exempel ein Herrlein ein neues Hemd mit Einsatzkragen, so gibt es zwei Fälle, in welchen der Zorn losbrechen kann. Entweder ist der Kragen zu eng und drückt das Herrlein auf den Hals und auf jene natürliche Vorstecknadel, die die Halszierde des männlichen Geschlechtes ist und das Gesicht wird kirschrot und die Augen treten aus den Höhlen und dem Herrlein wird es angst und bang zu Mute, bis es endlich den Kragen aufreißt und ihm so wohl wird wie einem Malefikanten, den man eben noch frisch und lebendig vom Galgen geschnitten hat. Oder aber der Halskragen ist zu weit und das Halstuch zieht sich bedenklich hinauf und ist ein immerwährend Auf- und Abfahren, wie wenn Kinder auf einem Balken sitzen, und der eine hinauf und der andere hinunter segelt; zuletzt sieht der ganz natürliche Hals hervor, so daß das Herrlein endlich des Kampfes müde wird, die Binde mitsamt dem Kragen wegreißt und alles hemdenfabrizierende Frauenvolk Dinge heißt, die weder wohllauten, noch lieblich zu hören sind. – Oder aber man hat einen Rock vom Schneider gekriegt, der über der Brust so eng ist, daß der Knopf diese Engherzigkeit nicht mehr aushält und flüchtig wird, während derselbe Rock unten um die Lenden schlottert, als ob der Inhaber seit Jahren die Bantink- oder Abmagerungskur gebrauchte. Kurz, wer in diesem Stück einige Erfahrung gemacht und zudem noch ein Liedlein von der edlen Männergeduld zu singen weiß, wird mir beipflichten, wenn ich sage, daß es um einen geschickten Schneider kein geringes Ding ist, dieweil bei so vielen günstigen Gelegenheiten zum Böswerden eine wenigstens dadurch aus der Welt geschafft wird.

Seitdem der Verfasser seinen letzten Schneider gehabt, von dem er erzählen will, ist er um ein gut Teil noch sanftmütiger geworden, als er bereits gewesen zu sein in aller angeborenen Bescheidenheit sich rühmt. Mein Schneider verstand seine Kunst aus dem Fundament und wußte mich so gut zu kleiden, daß kein Mensch merkte, daß ich an einem Herzfehler leide, den ich mit der ganzen Menschheit teile. Aber manches habe ich noch von ihm gesehen und gelernt, was mir lieber war als alle Röcke, die er mir brachte, mitsamt dem, der mir einst an einem warmen Sommertag gestohlen wurde.

Es war im November 18.., als die Magd mir meldete: »draußen steht ein sonderbarer Herr, der Sie zu sprechen wünscht.« Ich hatte seit lange keinen »sonderbaren« Herrn mehr gesehen, da heutzutage so ziemlich ein Herr aussieht wie der andere und der Allerweltshobel der Bildung nachgerade alles wegschleift, was einen Menschen vom anderen unterscheidet. So ließ ich ihn denn herein. Er war allerdings ein sonderbarer Herr. Er mochte ausgangs der Sechziger sein; das Gesicht war verwittert und durchgefroren; auf dem Haupte saß eine ganz respektable Perücke, die im vorigen Jahrhundert jedem Haarkräusler Ehre gemacht hätte. Das Auge hatte etwas Kluges, fast Stechendes im Blicke. Der alte Herr bemühte sich sichtlich, einen hellen Sonnenschein über das Gesicht ziehen zu lassen. Die großen Vatermörder und das etwas verblichene, weiland sehr brillante Halstuch, die große geblümte Sammetweste hatten bessere Tage gesehen, nur die mit Luftlöchern versehenen englischen Schuhe waren neueren Datums. Die Summe aber seiner ganzen Erscheinung und seines Aufwartens deutete unwiderleglich auf: »Schneider«.

Er hatte einen Empfehlungsbrief in der Hand, den er mir überreichte, dieses Inhaltes:

Paris, den ... 18..

Euer Wohlgeboren

empfehle ich den Ueberbringer, den maître tailleur Herrn ..., der sich längere Zeit in Paris aufgehalten und daselbst einen stillen, eingezogenen Lebenswandel geführt hat. Er will sich in Ihrer Stadt niederlassen und ich empfehle Ihnen denselben zur Unterstützung.

Ergebenst

Das war also der Lobebrief, den der sonderbare Herr hatte. Wer schon mehr solche Briefe gelesen, wird allmählich vorsichtig; denn man lobt auch manchen fort und sich vom Halse weg. Die Erfahrung macht einen leider in der Welt nicht barmherziger, wohl aber klüger, aber was hilft die große Klugheit? Sie greift auch daneben. »Ach, lieber Herrgott« – so hat der Verfasser schon manchmal gedacht, – »wenn Du Deine Sonne nur über die Gerechten und Würdigen scheinen lassen wolltest, da könnte man das ganze Jahr Gas brennen in der Welt!« Den Verfasser gelüstete es auch, seine Erfahrungsweisheit an den Mann zu bringen, damit, daß er nicht sogleich bereit sei, jedem ersten, besten zu helfen und sagte darum:

»Warum kommen Sie denn gerade hierher?«

»Well, Sir,« d. h. zu deutsch: »Wohl, mein Herr,« antwortete der Schneider, »ich dachte, hier sind reiche Leute, die was zu verdienen geben und sind dabei wohltätig, wie ich gehört habe.« –

»Gewiß,« antwortete ich ihm, »aber wir haben schon Schneider genug und einer nimmt dem andern schon das Brot weg.«

»Well, Sir, aber es kommen immer neue Leute auf die Welt, die müssen alle Kleider haben. Ein Schneider ist wie ein Bäcker und Schuster, Kleider und Nahrung müssen wir haben, das steht auch in der Bibel.«

Ich machte noch eine Weile in diesem Zweikampf fort, Gang gegen Gang; aber er wich jedem Hieb und Stich gewandt aus und wußte immer was Neues zu sagen, so daß ich anfing, den Mann zu bewundern. Zuletzt gab ich ihm an einige hochmögende Herren einen Empfehlungsbrief mit und sagte ihm, er solle nun einmal mit angeln. Richtig fing er auch noch an demselben Tage einen etwas älteren Rock, der ihm zum Verjüngen mitgegeben wurde. Da der Mann nicht mehr kam, dachte ich, daß sein Geschäft schon flott ginge, als er eines Tages an die Türe klopfte. Da stand er denn draußen. Aber es war nicht mehr der Mann von früher. Die vierzehn Tage hatten ihn gewaltig verändert. All die Zuversicht, das Feuer in den dunklen Augen war gewichen. Einsilbig und zerstreut antwortete er mir auf meine Fragen nach seinem Wohlergehen. Endlich stand er auf.

»Well, Sir,« hob er noch einmal im alten Ton an, »ich habe noch eine Bitte. Machen Sie mich glücklich oder unglücklich, ich werde es als aus Gottes Hand annehmen. Ich bin ein unglücklicher Mann. Die Sache ist kurz. Mein Hauswirt wollte bezahlt sein, ich konnte ihm nichts geben, weil ich nichts habe. Was tut er? Er heißt mich ausziehen und behält meinen Koffer und auch die Kleider des Herrn, die ich zu ändern hatte, das ist das schlimmste.«

Ich schrak zusammen und überdachte gleich die Tragweite seines Unglücks, und mein Geldbeutel fing an, Zuckungen zu bekommen, denn er merkte gleich, worauf es ging. Dahin war's also mit meiner Empfehlung und Gutherzigkeit gekommen! Die Summe war nicht klein, aber die Ehre meiner Empfehlung mußte ich retten. Aber ich glaubte, ich müsse doch ein Exempel statuieren und ihn zappeln lassen. Ich hielt ihm eine, meiner Meinung nach, sehr wohl gesetzte Rede über seinen Leichtsinn und meine große Verlegenheit, in die er mich brächte, und ließ ihn gehen. Aber Redehalten und Helfen ist zweierlei. Es ist was Wunderbares mit den Menschenkindern. Leute, die oft keine drei Worte herausbringen können, werden mit einem Male beredt, wie weiland der berühmte Redner Demosthenes, wenn sie einmal bei schicklicher Gelegenheit in den Sack greifen sollen. Da fließt der Mund über, aber notabene, nicht weil das Herz voll, sondern weil es leer ist. Item: Manchen Menschen lernt man erst am Geldbeutel kennen, denn mancher hat sein Herz nicht unter den Rippen, sondern im Geldbeutel und schreit, wenn man ihn dran greift. Ist doch auch merkwürdig, daß der barmherzige Samariter, als er den armen Israeliten im Blute liegen sah, keine lange Reden gehalten hat vom Alleinreisen, oder über die schlechte Polizei geschimpft und dergleichen, sondern abgestiegen ist und ihm geholfen hat. –

Als der Schneider so still hinausging und so betrübt den Kopf hängen ließ auf der Straße, hätte ich ihn am liebsten zurückgerufen, aber eben bog er um die Ecke und da war's vorbei.

Zum Glücke aber begegnete er einer mitleidigen Seele, deren Namen der Verfasser aus angetrauter Liebe nicht sagen darf; die redete den betrübten Mann frischweg an und fragte ihn, was ihm denn sei, er sehe ja so ganz anders aus als letzthin. Da erzählte er ihr noch einmal sein Unglück und sie bestellte ihm einen Anzug für den Herrn Sohn. Da war's um den Verfasser geschehen. Denn eine Stunde danach stellte er sich fröhlichen Angesichts ein und bat um gütige Anweisung beim Tuchhändler und Seidenspinner und Knopfmacher, dazu um Auslösung seiner großen Schere, ohne die er nichts machen könne und seines vortrefflichen Bügeleisens, was alles der schnöde Wirt in Verwahrsam habe.

Da ging's dem Verfasser mit Grundeis und dem Schneider war geholfen. Von dem Wirte zog er aus und mietete sich hoch, nahe am Himmel, ein Dachstüblein und richtete sich häuslich ein. Seine Kleider empfahlen ihn, das Schifflein hob sich vom Boden auf und begann flott zu werden. Von früh bis spät arbeitete er, zahlte jeden Vorschuß auf Heller und Pfennig zurück. Wohl war er fröhlich und doch lag's wie ein Druck auf ihm. Wenn er so dasaß, mit der großen Brille auf der Nase und der Perücke auf dem Kopfe und schneiderte, oder an seinem kleinen Sparofen, in welchem er neben seinem Bügelstahl die kunstgerechtesten Koteletts und Beefsteaks briet, da setzte ich mich manchmal zu ihm. 's war Winter und draußen so unwirtlich wie's nur sein konnte. Ich hatte etwas bei ihm zu bestellen; des Schneiders Ofen brummte in allen Tonarten. Ich setzte mich auf seine Pritsche und dachte: »Heut' oder nie wirst Du in dies Leben einen Blick tun.« Daß mein Schneider kein gewöhnlicher Schneider war, war mir längst klar. Wer aber einmal mit den Menschenkindern verkehrt hat, merkt gar bald, daß etliche den Eindruck machen, als ob hinter ihnen schwere Stürme und Wetter lägen. Es pflügt die Zeit mit eisernem Pfluge ins Gesicht etliche unverwüstliche Furchen, die auch nicht über Nacht gekommen. Geht auch einmal ein Lächeln darüber, wie ein milder Sonnenschein, so sehen sie doch auch unterm Lachen vor. So war's auch bei meinem Schneider. Der konnte einen manchmal aus den alten Augen so wehmütig anschauen, und der Mund zuckte oft so schmerzlich zusammen, als ob längstvergangene Tage noch einmal reden wollten. Drum faßte ich ihn diesmal fest unter dem Brusttuche an und ging geradewegs auf ihn zu, faßte mir ein Herz und sagte:

»Ihr habt mir so manchmal von Eurem Vertrauen auf Gott gesagt, Meister, und ich habe gesehen, wie Ihr's auch in allen Dingen praktiziert. Ihr kommt fleißig zur Kirche und lest auch in Gottes Wort, – wo habt Ihr das her? Ist's einstudiert, oder habt Ihr's erlebt? Meister, mir scheint, Ihr habt ein schwer Leben hinter Euch! Ist's nicht so?«

Da schaute er mich groß an, es kämpfte in ihm, ob er was sagen sollte oder nicht, den Bündel abwerfen und sich's leicht machen, oder ihn fortschleppen. Eine Weile besann er sich, endlich sagte er:

»Herr – Ihr seid der erste Mensch, dem ich alles sagen will. Da und dort hab' ich wohl mal einem einen lustigen Streich erzählt. Solch' Erzählen ist mir vergangen. Aber wenn ich Euch eine Liebe tun kann und einen Dienst dann will ich's tun. Wenn ich mal tot bin, könnt Ihr's erzählen, vielleicht, daß sich einer oder der andere was daraus zu Herzen nimmt.«

Ich setzte mich zurecht und lauschte. Manches ist mir entfallen, anderes ist nebensächlich oder gehört ins Grab – die Hauptsachen, die mir geblieben, will ich, nach seinem Wunsch, erzählen. Scheint's manchem eine gar zu ernste Geschichte, so denke ich, es schadet das bißchen Ernst nicht. Wer nicht ernst sein kann, kann auch nicht wahrhaft fröhlich sein. Beide gehören doch zusammen: Scherz und Ernst, wie das Jahr seinen Frühling und auch den Winter hat und wie unser Herrgott mit rechter Wage in jedem Jahr seine Freude und sein Leid wägt.


S' war im Mecklenburgischen, nicht weit von der Ostsee, in einem stattlichen Dorfe. Da läutete es am Anfang dieses Jahrhunderts an einem Julitage mit allen Glocken zusammen. Einer der reichsten Bauern sollte zu Grabe getragen werden. Der Küster mit der Schuljugend und manchem »Barfüßer« darunter war an dem Sterbehause und sang. Hinter dem Sarge, der aus dem Hause getragen wurde, ging eine junge Frau mit einem vierjährigen Knaben an der Hand? der weinte, weil er die Mutter weinen sah. Denn was das bedeute, daß man ihm seinen Vater hinaustrage, wußte er noch nicht. Das wußte aber die Mutter um so besser. Sie war fremd ins Dorf gezogen und hatte geheiratet und dieweil ihr Mann lebte, hielt er die Hand über ihr. Aber jetzt war ihr, wie wenn das Dach vom Hause gerissen wäre, und Schnee und Regen hineinfielen. Nur halb hörte sie den Trost des Pfarrers an, daß Gott der Witwen und Waisen Tröster sei und ihr Richter. Es muß eben erst im Herzen still geworden sein, ehe Gottes Stimme drin reden kann; denn so lange der Mensch redet, ist sein Gott still. Nachdem der Sarg versenkt war, ging sie mit ihrem Büblein heim. Nicht lange danach brachen aber schon die Wetter los. War's im Ehevertrag nicht ganz klar oder sonst die Erbschaftspapiere nicht ganz in Richtigkeit – kurz – es dauerte nicht lang, so machten die Verwandten von des Mannes Seite Anspruch auf Herauszahlung oder auf den Hof. Da blieb ihr nichts übrig, als den Hof daranzugeben, weil sie doch nicht mit fremden Leuten wirtschaften wollte, und zog ins Witwenhaus hinter dem Hof und ließ diesen den Verwandten, von deren Gnade sie leben mußte. Das ist aber ein sauer und schwer Ding, wenn man selbst einmal auf dem Hofe gesessen und anderen Almosen gab, sie selber nehmen zu müssen. – Das Knäblein, das sie an der Hand damals hatte, wuchs mittlerweile heran. Der Vormund, der Schneider im Orte, dachte: »Das Schneiderhandwerk hat allewege auch einen goldenen Boden, drum soll Dein Mündel ein Schneider werden.« Und als die Konfirmation vorüber war, saß der Knabe auf der Butik und arbeitete mit Nadel und Schere an den groben Bauernwämsern und langen Röcken, von denen einer aussah wie der andere. Der Schnitt war nicht von gestern noch von heute, und das Modeblatt konnte der Meister füglich entbehren. Darum überkam den Lehrjungen gar manchmal die Langeweile, absonderlich wenn draußen seine Kameraden auf der Wiese spielten, während er ihre Wämser flicken mußte. Er saß dann träumend da und sah durch die kleinen Scheiben und auch durch die, die der Vormund aus Sparsamkeit von Papier hatte machen lassen, hinaus. Drum langte zuweilen der Vormund mit der großen Elle, die mit Eisen beschlagen war, hinüber nach dem Lehrjungen und maß ihm fürs Träumen den Rücken nach der ganzen Länge, wiewohl er schon zum voraus wußte, wie lang er war. Der Vormund war kein übler Mann, aber alt und griesgrämlich dazu und dachte: »Die Nuß ist nur darum süß, weil sie eine schwere Jugend gehabt hat,« so muß es auch mit Deinem Mündel sein.

Daran dachte er freilich nicht, daß man etliche Leute weich, aber auch etliche hart schlägt und daß die Rute immer mit dem Vaterunser umwickelt sein muß, darin die Bitte steht: »Vergib uns unsre Schuld, als wir vergeben unsern Schuldiger«.« So aß denn der Schneiderlehrling ein paar Jahre Tränenbrot, und nur seine Mutter strich ihm mit ihrer Liebe und Trost manchmal Honig drauf. Freilich hat's der Lehrling hintennach eingesehen, daß die Zucht doch nicht so übel war; denn der Verstand kommt nicht vor den Jahren, und es geht den Alten auch nicht besser, die erst bei der Züchtigung unseres Herrgotts weinen, und hintennach einsehen, »wie gut er meinet«. – Die Lehre ging zu Ende und der Gesellenbrief wurde ihm in allen Ehren ausgestellt, nachdem er dem Ortsschulzen einen regelrechten Rock untadelig gemacht hatte. Nun sollte er nach Hamburg ziehen. Wiewohl er ein Schneider war, ist's ihm doch zu Mute gewesen, wie dem Gymnasiumsschüler, der als Bruder Studio auf Universitäten zieht, dem die goldene Freiheit winkt, und der auf der Straße jetzt ganz ungeniert vor dem Herrn Professor sogar seine lange Pfeife rauchen und angesichts seiner ins Wirtshaus zum großen Schoppen gehen darf, ohne daß der Professor fragt: »Sie, Herr Rosenbusch, wie kommen Sie mir vor? Kennen Sie den Paragraph nicht?« So zog auch das Schneiderlein aus die Schneideruniversität mit seinem Abgangszeugnis und statt den lateinischen und griechischen Büchern hatte er ein nagelneues Bügeleisen und eine Schere samt ein paar Dutzend Nadeln.

Der Abschied von der Mutter wurde ihm gerade so schwer, wie ihm der vom Meister leicht wurde. Mit vielen Tränen hörte er ihre Ermahnungen an und versprach, sein bestes zu tun, ein braver Mensch und Schneider zu werden und ein guter Sohn zu bleiben. Der Vormund reiste selbst mit seinem Schüler nach der Stadt, um ihn dort einem alten Geschäftsfreunde zu empfehlen, von dem er seine Tuche bezog. – Es war schon stark dunkel, als sie Hamburg vor sich liegen sahen. Am Himmel war ein lichter heller Schein, den die Lichter der Stadt hinaufwarfen. Da nahm der Vormund den Gesellen bei der Hand und sagte, auf den Lichtstreifen deutend: »Mein Sohn, sieh', das ist die große Stadt Hamburg, die so dunkel vor Dir liegt. Große Städte sind dunkel und ist viel Finsternis drinnen. Aber sieh', es ist doch ein Lichtstreif darüber am Himmel; das kommt von den vielen Lichtern her. So ist auch noch hier in der dunklen Stadt mit ihren Sünden ein heller Lichtstreif, der am Himmel hinzieht und hinaufweist, an den halte Du Dich.« – Was der Vormund mit dieser dunkelen Rede gewollt hat, ist dem jungen Schneiderlein freilich erst hintennach klar geworden. –

Der Geschäftsfreund besorgte einen tüchtigen Meister für den Gesellen, der Vormund nahm Abschied, ging in die Heimat zurück und brachte der Mutter noch die letzten Grüße von ihrem Sohn. Dazumal war's nicht wie heute in den Meister-Häusern. Die Gesellen wohnten noch beim Meister, hatten ihr Essen, das der Meister selbst mitaß, und nicht wie heute, wo er sich im »Hotel« was besonderes geben läßt um 11 Uhr »von wegen der Herren Kunden« und ihm dann nichts schmeckt von dem, was die Meisterin bringt. Des Samstag abends gab's ein neues Hemde, wie der frischgefallene Schnee so weiß. Wenn schon Feierabend war, saß der Meister doch noch fort an der Arbeit und war der flinkste dabei. Es muß ein frommer Mensch gewesen sein, dieser Meister, nicht mit dem Mund allein, sondern auch mit dem Herzen und Wandel; denn meinem Schneider standen die hellen Tränen in den Augen, als er von ihm erzählte. Am Samstag war immer am frühesten Feierabend, denn bei ihm fing der Sonntag schon am Samstag an, und nicht wie bei manchem erst am Montag. Man sagt sonst den Schneidern nach, daß sie was Windiges an sich hätten und die leichte Nadel sie auch leichtfertig mache, nach dem alten Sprichwort: »Wie der Herr, so das Geschirr« – aber windige Leute gibt's überall und in jedem Stand, selbst auch da, wo man sie gar nicht vermuten sollte. Aber es gibt keine Regel ohne Ausnahme und der Hamburger Meister war so wuchtig, als ob er seines Zeichens ein Grobschmied gewesen. Denn er litt auf der Bude nichts von Windbeutelei und wenn so ein »Pariser« zugereist kam und um Arbeit fragte, da examinierte er die Kreuz und Quere, ob nicht irgendwo ein fatales Lüftlein aus ihm herausblase.

Der Hausfreund des Meisters war ein würdiger alter Jugendlehrer, ein freundlicher Greis mit silberweißen Haaren, recht so, wie er für die Jugend paßt. Da sieht der geneigte Leser mich vielleicht groß an und fragt: »Um Verzeihung, wo so? Ist nicht ein junger Lehrer besser denn ein alter?« Aber der Verfasser ist auch keiner von denen, die auf den Mund gefallen sind, sondern antwortet: Ja wohl, passen sie gut zusammen. Mich dauern immer die kleinen Schulbuben, die so einen frischgebackenen, grasgrünen »Herrn Lehrer« aus dem Seminar oder von der Universität bekommen. Sie haben meist so große Dinge im Kopf vom »was werden wollen«, daß ihnen die Kleinen so vorkommen, wie dem Riesenfräulein von der Nideck die Bauern auf dem Feld, die sie auf die Hand nahm und mitsamt dem Gaul und Pflug in ihre Tasche steckte. Und doch ist so ein kleines Männlein, der mit seinem Ranzen in die Schule geht, auf dem zum Ueberflusse noch in roten Buchstaben die Anfangsbuchstaben des Namens stehen, damit das Männlein nicht verloren gehe, auch was wert. Ist doch ein Kinderherz wie eine Blume oder meinethalben auch wie ein Tannenbäumlein oder sonst ein Stück aus dem Pflanzenreich. Die können beide das Herumdoktoren nicht vertragen; wer viel dran herumschneidet, verdirbt's. Die Alten aber wissen, wie man solch' ein Büblein zu behandeln hat und der Respekt ist schon von selber da vor einem grauen Haupt. Kommt daher, daß die Alten nicht weit zum Himmel und die Jungen nicht weit vom Himmel haben, und können einander drum besser verstehen. Drum ist's so eine Privatansicht vom Verfasser, daß ein alter Lehrer mehr für die Kleinen tauge und, damit die jungen Lehrer nicht müßig gehen, können sie an der großen Jugend sich probieren. Item die alten Doktoren sind die besten Kinderärzte, das kommt von der Praxis. – Also der Jugendlehrer war der Hausfreund und auch der mecklenburgische Schneidersstudent fühlte sich zu ihm hingezogen und nicht selten saß er da und ließ Nadel und Faden fallen, wenn der Alte kam. Dem Hausfreund gefiel der aufgeweckte Jüngling mit seinen blonden Flachshaaren, den frischen roten Wangen und den treuherzigen Augen, so daß er dem Meister sagte: Auf den habt acht, daß er nicht verdorben wird, es wäre jammerschade.

An den Sonntagnachmittagen ging der Meister regelmäßig nach der Nachmittags-Kirche in St. Nikolai zu dem Hausfreunde. Der hatte vor der Stadt ein kleines Haus, auf dessen Hinterseite ein großer, mit Reblaub und Winden umsponnener Vorsprung war, auf dem viele Leute Platz hatten. Im Garten stand ein Bienenhaus, dort hatten sich Seidenhasen eingenistet, kurz aus allen Reichen der Natur hatte der alte Mann fleißig gesammelt, wovon er seinen Kindern aus einem lebendigen Buche Unterricht geben konnte. Nachdem man zusammen den Kaffee getrunken und die beiden Alten ihre Meerschaumpfeifen geraucht, kamen abends gegen hundert Kinder, meist aus der lieben Armut, die sich in dem Garten tummelten. Der Alte zeigte ihnen die schon oft gesehenen Schätze wieder, spielte und sang traute Lieder mit ihnen. Danach tönte ein Glöcklein und die ganze Kinderschar kam zusammengelaufen unter der Reblaube und auf der Treppe; jeder hatte sein Plätzchen und nun lehrte sie der Alte mit so freundlicher, herzgewinnender Art, daß alle an seinem Munde hingen. Dann fragte er sie und wußte aus allen ein Fünklein herauszuschlagen. Es waren die lieben Bilder aus der Bibel, die er ihnen vormalte, wie sie kein Maler besser hätte treffen können. Dann betete er mit ihnen so schlicht und einfältig, als ob er selber eins von den Kindern wäre.

Dem Schneidergesellen ging das Herz dabei auf; er setzte sich mitten unter die Kinder, gab Antwort wie sie und wußte selber manchmal was zu erzählen, das er zu Hause gehört. Das gefiel dem Alten so gut, daß er oft, wenn er des Sonntags müde geworden, den Schneidergesellen an seiner Stelle einmal forterzählen ließ, der seine Sache auch ganz vortrefflich machte. Oftmals dachte er, »ach, könntest Du nur auch so ein Lehrer oder gar ein Pfarrer werden, das wäre doch besser als ein Schneider.« Als er einmal dem Alten diesen Wunsch vortrug, sagte der ihm: »Mein Sohn, bleib' in dem Berufe, darin Du berufen bist; werde Du ein braver Schneider, dann kannst Du in Deinem Hause ein Segen werden. Der Rock tut's nicht und das Amt auch noch nicht.« Vieles hörte er von dem Jugendlehrer, was ihm tief ins Herz ging, und seiner Mutter schrieb er so glücklich, als ob er im Paradiese wäre. Er lernte die schönsten Lieder und betete mit den Kindern gerade so lieb, wie der Alte. –


Jahre sind dahin, der Jugendlehrer war eines Sommertags, als er herausgegangen unters umsponnene Dach und über der linden Luft eingeschlafen war, völlig eingeschlafen zur ewigen Ruhe; noch im Tode das stille, milde Antlitz behaltend. – Wir aber sind jetzt tief in der Nacht in einer krummen winkligen Gasse, in deren Mitte im Keller eine Schenke war. 's ist schon dunkel Nacht. Unten sitzen beim Kartenspiel vier Gesellen, die hoch um Geld spielen. Das blasseste Gesicht aber gehörte einem jungen Manne an, der in dem Anfang der Zwanziger stehen mochte. Er war der leidenschaftlichste im Spiel, die anderen immer überbietend an frecher, gottloser Rede und hohen Einsätzen. Der dampfende Grog erhitzte die Köpfe noch mehr und der Streit war da. Es waren zwei der Spieler aneinander geraten, die sich gegenseitig Betrug vorwarfen. Ehe die beiden andern, darunter der blasseste war, es verhindern konnten, hatte der eine der Streiter dem anderen das Messer tief in den Leib gestoßen, so daß er mit einem gellenden Schrei zusammenbrach. Der Wirt stürzte herein und die Gäste ihm nach, um des Täters habhaft zu werden, den sie auch faßten, daher die beiden andern eiligst entflohen. Draußen liefen sie in entgegengesetzten Richtungen fort und verloren sich bald in dem Gewirre der großen Stadt. Zu Hause angekommen, packt in der Nacht noch der eine »Blasse« seine Sachen zusammen, eilt still aus dem Hause und ging nach Altona hinüber, von da seine Spur vollkommen verloren ging. Und dieser war – mein Schneider.

Der Meister hatte es nicht wehren können, daß nicht auch unter sein Dach einst ein durchtriebener Mensch kam, der wohlgeübt in aller Verstellung sich dem Meister von der vorteilhaftesten Seite zu erkennen gab. Regelmäßig ging er zur Kirche, kam auch mit zu dem alten Jugendlehrer, so daß sich mein Schneider innig und arglos an ihn anschloß. Der aber wußte nur zu gut ein junges unerfahrenes Herz zu gewinnen. Erst säete er in dem Herzen des Gesellen ein feines Mißtrauen gegen den Meister, als ob der ihn ausnütze, während er doch sein bester Geselle sei, und als er merkte, daß das Feuer gefangen, lockte er ihn aus dem Hause, hielt ihn frei auf eigenen Lustpartieen, bis er ihn endlich in seine Gesellschaften führte und den jungen Mann zuletzt bis in den Schlamm hinabzog.

Wohl merkte der Meister, so sorgfältig auch der Geselle es verbarg, die Veränderung und warnte ihn väterlich. Da brauste er aber auf und sagte, er sei kein Kind mehr und man müsse die Welt sehen u. s. w., so daß der Meister zuletzt schwieg und nur dicke Tränen im Auge hatte. Das Haus des Lehrers mied er unter immer neuen Entschuldigungen und es war ihm ein Stein vom Herzen, als er hörte, daß der Alte tot war. Vom Meister war er weggezogen. Zwar ging es nicht ohne innere Unruhe ab und hundertmal war er daran, umzukehren zum Meister, aber die falsche Scham und der Spott der Kameraden hielten ihn zurück. »Du bist doch verloren, denn Du bist abgefallen,« dies Wort verließ ihn nicht mehr. Alle Sprüche, die er wußte, wandten sich gegen ihn und hatten nichts als Stacheln, denen wollte er entfliehen und stürzte sich immer tiefer hinab ins wüsteste Leben. So trafen wir ihn an jenem Abend.

Hier kam ein langer Gedankenstrich in der Erzählung, denn der Schneider hielt sich beide Hände vors Gesicht. Die Rede wurde unzusammenhängend, ich merkte, daß er noch immer, während sein Mund redete, an der Vergangenheit hing, so daß ich da fortfahre, wo der Zusammenhang und die Erzählung wieder klar floß.


Wer in dem Anfang der dreißiger Jahre zu Stockholm in Schweden gewesen wäre und just einen Rock gebraucht und nach dem ersten Schneider gefragt hätte, wäre ohne weiteres auf eine der Hauptstraßen gewiesen worden, wo sich in der Mitte ein großes stattliches Herrschaftshaus als das Geschäft des ersten schwedischen Schneiders ankündigte. Ueber dem Geschäfte das vergoldete Wappen des Schwedenkönigs und darunter große Glasfenster mit allen möglichen fertigen Kleidern und Stoffen. Der Inhaber war selten sichtbar, dafür fungierten in einem Ankleidesalon zwei Geschäftsführer, in elegantester Kleidung gleich die neuste Mode darstellend. Nur bei besonders hervorragenden, mißstalteten Persönlichkeiten erschien der Herr selbst, um mit fachmäßigem Blicke schnell seine Dispositionen zu treffen, wie ein General in der Schlacht, oder ein berühmter Operateur bei besonders interessanten Fällen. Sonst aber saß er in einem mit prächtigen Teppichen belegten Arbeitszimmer, in welchem er auch hohe Herrschaften empfing. Einen Stock höher wohnte seine Familie. Seine Frau war eine Schwedin, schön, stolz und vornehm, was das Zeug halten wollte. Die beiden Söhne wurden von einem Hofmeister regiert und zugeschnitten für die Welt, wie unten die Tücher für die Kunden. Denn die sollten einmal was »Besseres« werden als ihr Vater, 's gibt ja solche Leute, die vor ihren Kindern ihren eigenen Stand heruntersetzen, so daß der Sohn ordentlich Mitleid mit dem »Herrn Vater« kriegt und sich's zur Ehre rechnet, wenn er sich seiner nicht gerade schämt. Es verging keine Woche, in der nicht große Gesellschaft gehalten wurde, und dabei erschienen nicht etwa die Kollegen des Herrn, sondern hohe Geldleute, Kaufherren, Beamte und auch mancher Edelmann verschmähte des Schneiders Küche nicht, der nebenher mit seiner Frau es vortrefflich verstand, den liebenswürdigsten Wirt zu machen. Von des Schneiders Herkunft wußte niemand etwas, als nur das eine, daß er ein Deutscher war, der des früheren Meisters Tochter geheiratet hatte und durch Fleiß und Geschicklichkeit sich voran gebracht. Zwar fehlte es nicht an Leuten, die noch etwas mehr wissen wollten und es nicht begreifen konnten, woher das Geld alles kam, das bei den Festen reichlich drauf ging. Auch hatte der Schneider noch mehrere Absonderlichkeiten. An besonderen Tagen schloß er sich ein wie weiland die schöne Melusine und durfte niemand zu ihm herein, da arbeitete er ganz für sich, aber ohne Nadel und Faden. Die Gesellen glaubten, er hecke da die neuen Moden aus und probiere was ganz Besonderes fürs Handwerk, die andern meinten, er zähle sein vieles Geld. Er wußte aber am besten, was er tat. Sodann durfte außer einem alten ergrauten Hausdiener niemand dabei sein, wenn die Tuchballen aus England, Frankreich und Deutschland kamen. Die Gesellen glaubten wieder, er mache dann was mit dem Zeuge und verhexe es, daß es einen schönen Glanz kriege Aber er wußte auch da am besten, was er tat.

Dann und wann ging er auch auf Wochen fort und niemand wußte wohin, selbst seine Frau nicht, und wenn er wieder kam, ging's flotter her im Hause denn zuvor. Manchmal freilich war der Herr nicht wohlaufgelegt und niemand durfte ihm nahen. Seine Stirne hing voll trüber Wolken, wie am Novemberhimmel. Aber niemand als nur der Herr selbst wußte, daß es Gewitterwolken waren und zwar von den lichtgrauen, die auf den schwarzen stehen und manchmal hellgelb gefleckt sind, aus denen gemeiniglich ein furchtbarer Hagel fällt. Solche Wölklein kommen und gehen wieder und wird auch der Himmel heiter, als ob nichts war. Aber sie kommen doch wieder. Erst ziehen sie über die Stirn des Menschen, danach sammeln sie sich über dem Haus; erst grollt's in der Ferne, dann wetterleuchtets und mit einem Male ist ihre Stunde da, wo sie das Haus mitsamt den Insassen und wolkigen Stirnen niederschmettern. Vielleicht hat der geneigte Leser auch schon einmal bei Leuten zugesehen, wie die Wetter heraufzogen und weiß es, wenn er einmal nach Tirol oder der Schweiz gereist ist, daß wenn die Wetter sich zurückziehen und wieder kommen, es wie mit dem unsauberen Geiste ist, von dem Lucae am 11. zu lesen ist, der auch eine Weile ausfährt und dann sieben ärgere mitbringt, als er selber ist. In Schweden aber kann's auch blitzen.

Es war kurz nach Neujahr 1836. Draußen stürmte es und die Schneeflocken trieben durcheinander, daß man keinen Hund zum Haus hinaus gejagt hätte. Um so heimischer aber war's in den warmen und duftigen Sälen des berühmten Schneiders. Er gab seine Neujahrsfete und hatte alles aufgeboten, seine Gäste zu unterhalten. Herren vom Adel hatten sich eingefunden, reiche Kaufleute; jung und alt, alles wirbelte durcheinander, wie draußen der Schnee. Die Spieltische wurden für die alten Herren zurechtgerückt, die schon lange darauf brannten, wie ein hartgesottener Raucher auf seine Pfeife; die junge Welt tanzte zum Klange von sechs Fibeln, die Diener reichten Eis und Champagner herum und alles war schwedisch vergnügt. Die Säle waren so dicht besetzt, daß einer den anderen verlor.

Da, mitten im Feste, öffnete sich im Hinterhause hinter dem Magazine, durch das man auf verschlungenen Gängen gelangte, eine kleine Pforte und heraus trat und in den bereit stehenden Schlitten hinein ein Mann tief in Pelz gehüllt. Der Koffer war schon aufgeladen, auf ein Zeichen flog das Pferd davon zur Stadt hinaus nach der Gothenburg. Der Reisende wachte hell und trieb zur Eile an den Haltestationen und erreichte noch im Morgengrauen den Hafen. In einem kleinen unscheinbaren Wirtshause ließ er halten, wo ein Frühstück auf ihn wartete; bald trat auch ein wetterbrauner Seemann herein, der den Fremden zu kennen schien. In ungezwungenster Weise, als ob sie längst Freunde wären, unterhielten sie sich und verließen dann kurz darauf das Wirtshaus miteinander. Die Wirtin hatte nichts verstanden, denn die beiden redeten eine ihr durchaus fremde Sprache und nur die eine Sprache verstand sie, als der Fremde ihr ein Goldstück gab mit dem Bemerken, den Schlitten und den Kutscher gut zu beherbergen, bis er wiederkäme. – Seit jener Zeit wartet auch die Wirtin und ist darüber längst gestorben. Eine Stunde nachher saß der Fremde auf einem großen nordamerikanischen Schiffe, das eben seine Anker lichtete. In Stockholm war's auch Morgen geworden: die Gäste hatten sich verabschiedet, umsonst hatten sie den Herrn des Hauses gesucht. Der Bediente, der den Herrn besorgte, aber gab zur Antwort, als man ihn fragte: der Herr sei gewiß unwohl geworden, denn, er sei auf sein Zimmer gegangen, das er hinter sich abgeschlossen. Als der Mittag bald herankam und nichts sich regte, auch keine Antwort erfolgte, erbrach man die Türen und fand – das Nest leer.

Das Bett war unberührt, auf dem Tisch, lag ein versiegelter Brief, der alles besagte und die Frau auf den Blitzstrahl vorbereitete, der in den nächsten Tagen das Haus treffen sollte.

Während seines Geschäfts hatte der Schneider noch ein großartigeres, anderes getrieben, ein Schmuggelgeschäft im größten Stil. Seine Ballen Tuch, die er empfing, waren inwendig mit Waren aus aller Herren Länder gefüllt, so hatte er die Regierung, jahrelang betrogen. Durch die Bestechung der Beamten war ihm alles geglückt und mit ungeheurem Gewinn verkaufte er durch Unterhändler wieder die Waren ins Innere. Darum ließ er niemand bei der Visitation der Ballen hinzu. Nachgerade hatte man aber Unrat gerochen und der große Aufwand fiel den Leuten auf. Denn das konnte nicht alles vom ehrsamen Schneiderhandwerk kommen, wiewohl er auch da gehörig zu schneiden verstand. Dazu hielt er im geheimen eine Art Spielbank, wozu nächtlicher Weile sich allerhand, auch sehr vornehmes Volk einfand; und das war auch aufgefallen, denn es ging nicht immer friedlich dabei her. Er hatte da bedeutende Summen verloren und auch sonst noch allerlei faule Spekulationen gemacht – er sah den Sturz voraus und wollte ihm entrinnen, was ihm auch gelang. Seiner Frau Vermögen, das sie ihm zugebracht, da sie seines reichen Vorfahren Tochter gewesen, in dessen Geschäft er gekommen, hatte er sicher gelegt, er aber hatte mit seinem Helfershelfer, dem Kapitän des nordamerikanischen Schiffes, alles abgemacht, um ohne Rumor zu entfliehen und der Schande aus dem Wege zu gehen. Da saß er denn vorn am Deck und schaute lang noch nach dem Lande starr hin, hielt sich den Kopf, den brennend heißen, und ließ sich ihn kühlen vom Seewind, blickte bald auch in die Wellen, die so hoch herbrausten gegen das Schiff und hatte so seine sonderlichen Gedanken dabei; denn ihm war's, als wäre alles hinabgesunken in einen unergründlichen Schlund: Ehre, Gewissen, Familie – alles. Der aber so auf dem Deck saß und gen Amerika fuhr, das war – mein Schneider.


»Sie haben gehabt weder Glück noch Stern,« – heißes in einem Liede, so ging's in den ersten Zeiten. Die Reise war schrecklich. Wochenlang fuhr das Schiff vom wütendsten Sturm gejagt auf dem großen Weltmeere hin und her. Dem Schneider war's, als ob der Sturm nur ihm gelte, wie einst Jona, dem Propheten, und daß das Wetter der große Steckbrief Gottes sei, den er ihm nachsende und darauf geschrieben stände: Wo bist du? Beten – das konnte er nicht, und es schauderte ihm vor dem Tod; er verkroch sich zwischen den Kisten und Ballen und suchte einzuschlafen; aber da weckte ihn wieder das Aechzen des Schiffes, das in seinen tiefsten Fugen auseinander zu gehen schien. Wohl zog das Bild der Mutter, die stille, selige Zeit in Hamburg an seinem inneren Gesicht vorüber – aber die Erinnerung an die dunklen Keller und an die Herrlichkeit in Stockholm verschlang alles wieder. »Du bist doch verloren,« sagte er immer wieder vor sich hin. Und so machte auch der Sturm mit allen seinen Schrecken keinen weiteren Eindruck auf ihn, als nur eben den des Schreckens. Man sagt sonst wohl – »Not lehrt beten« und »wer nicht beten kann, der gehe auf's Meer, da wird er's lernen« – aber 's ist eben doch nur halb wahr. Die Not lehrt auch fluchen und stehlen, nicht bloß beten. Und das Herz ist mitunter auch ein trotzig Ding. Da hämmern dann alle Schläge das Herz nicht weich, sondern hart. – Als er in Newyork angekommen war, suchte er Beschäftigung, aber fand keine. Das Geld, das er mitgenommen, schützte ihn zwar vor der äußersten Not, und auch der Kapitän tat sein möglichstes; aber ein Geldstücklein nach dem andern schwand. Da schrieb er in seiner Not an seine Frau: sie habe das Glück mit ihm geteilt, ob sie nicht auch das Unglück teilen wolle. Sie wollten wieder von vorne anfangen und es besser machen. Wenn sie etwas Geld vorstreckte für die erste Anschaffung, dann werde es gehn. Da wartete er denn auf den Brief und die Monate waren ihm Ewigkeiten, bis endlich der Brief kam. Aber der war schwedisch, voller Vorwürfe und harter Worte, ohne Mitleid stieß die Frau ihn zurück, der sie in so große Schande gebracht. Denn das sei das ärgste. Sie schalt ihn einen Dummkopf, der sich selbst verraten hätte, denn niemand hätte es geahnt und die Leute hätten sich wieder beruhigt. Sie schrieb ihm zuletzt, daß sie ihn angeklagt hätte, um ihn los zu sein. Er möge hingehen, wohin er wolle. Kein Wort von seinen Kindern, keinen Gruß schrieb sie ihm. Da war er dran, sich das Leben zu nehmen, wenn nicht sein Kamerad, der Schiffskapitän, gekommen und ihm zugeredet, kein »Esel« zu sein, da er doch das Pulver nicht wert wäre. Er fahre nach Westindien, da könne er auf dem Schiff Koch werden, denn das verstehe er ja noch von seinen großen Gesellschaften her. Er schlug ein, ließ die Nadel liegen und wurde Koch und bald Hausmeister auf dem großen Schiffe. Da sah er denn viele Länder und Sitten und schlug sich in lustigem Leben sein Elend und seine Kinder aus dem Kopfe. »Er sei nun doch einmal verloren und verstoßen,« das war sein stehender Trost. Jahrelang ging die Reise; denn das Schiff nahm immer wieder weitere Ladung an. Dazwischen verdiente er sich auf dem Schiffe ein schönes Stück Geld, denn nebenher fing er wieder sein Schneidergeschäft an, das vortrefflich ging. In den großen Hafenplätzen brachte er seine fertigen Kleider, aus »London« – aus »Paris« mit ungeheurem Gewinn unter. – Der Kapitän sah, wie sein Schützling zunahm. Aber das war ein finsterer Mensch. Er spielte hoch mit seinen Fahrgästen und brauchte Geld, da fing er an, den Schneider anzugehen. »Du bist mir dein Glück schuldig, Freund,« so hub er an einem Tage an, »du wirst mir mit einigen lumpigen hundert Dollars helfen.«

Der Schneider erschrak zum Tode und bat den Kapitän, er solle doch Mitleid mit ihm haben, er habe alles verloren und wolle sich jetzt wieder etwas erwerben, um neu anzufangen.

»Kerl, du bist wohl toll,« grinste der Kapitän ihn an, »du meinst wohl, ich hätte dich umsonst mitgenommen? Schweige still, Schneiders-Vögelchen und gib keinen Laut, sonst mache ich dich auf immer still, denn das Meer ist still und verschwiegen.«

Da gab ihm denn der Schneider fast alles von seinen ersparten Dollars von der Arbeit vieler Jahre. Und der Kapitän strich sie ein ohne Quittung. »Das ist die große Welt, mein Söhnchen,« sagte er zu ihm, »bald alles und bald nichts.«

Der Schneider hatte sich's ausgemalt, wie er neu anfangen und seiner Frau doch nochmal schreiben wollte, wenn's ihm besser ginge, aber »du bist doch verloren,« so tönte es wieder in furchtbarstem Grimm, und er sann nun auf Flucht aus den Klauen des Raubtieres. Das Schiff lag vor Anker in einem westindischen Hafen. Der Kapitän hielt scharf Wache auf den Schneider. Der aber war auch klug. Er hatte sich eine Strickleiter zu verschaffen gewußt, die er in seinem Bette verborgen hielt. Sein bares übriges Geld band er sich um den Leib und zog seine leichtesten Kleider an, ließ alles andere im Stich und stieg in einer hellen Nacht, als alles schlief, die Strickleiter hinab und tauchte ins Meer und schwamm dem Hafen, der eine Viertelstunde weit sein mochte, zu. Die Schildwache hörte das Plätschern und rief den Schwimmer an, der aber tauchte tief unter, denn er war ein trefflicher Schwimmer. – Als dem Kapitän gemeldet wurde: »Mann über Bord,« dachte er gleich an den Schneider und ließ nach seiner Koje sehen; richtig, er war fort. Der Kapitän befahl das Boot zu lösen und ihm nachzueilen. Der schwimmende Flüchtling hörte noch, wie man das Boot löste und die Ruderer sich fertig machten. Da faßte ihn die furchtbarste Verzweiflung, der Weg dehnte sich, die Küste wollte ihm schwinden vor den Augen. Mit der letzten Kraft schwamm er unter dem Wasser fort, nur zuweilen auftauchend, um Atem zu schöpfen. Da bemerkte er, wie das Boot eine falsche Richtung einschlug, und es ward ihm leichter ums Herz. Er fühlte bald Boden und kletterte den hohen Steindamm hinan. Dort sank er vor Erschöpfung nieder.

Wie lange er dort gelegen, das wußte er nicht, denn als er aufwachte, befand er sich in einem Spital mitten unter Kranken. Matrosen, die am Strand gegangen waren, hatten ihn gefunden und halb tot nach dem Seemannsspital gebracht. Ein furchtbares Fieber raste in ihm, in seinen Phantasien erzählte er von Stockholm, von Betrug und Verfolgung, dann griff er wieder nach dem Gurt am Leibe, worin sein letztes war und fand es nicht, denn das hatte man ihm aufgehoben. Im Spital galt's für ausgemacht, daß man hier einen Verbrecher, und zwar einen ganz absonderlichen vor sich habe, der gewiß den Schiffsherrn bestohlen, den man nur gesund werden lassen wolle, um ihn vor Gericht zu stellen. Nach Wochen genas er und das Gericht meldete sich. Da er nichts von Papieren bei sich trug und ihm jeder wegen seiner Reden mißtraute, so warf man ihn in ein finsteres Gefängnis, in eine entsetzliche Gesellschaft von Menschen. Man wollte erst die Rückkehr seines Schiffes erwarten, um zu hören, ob er kein Dieb sei. Monate vergingen; er erbat sich Arbeit, die ihm auch gegeben wurde. Man bewunderte sein Geschick, und als er den Direktor des Gefängnisses aufs beste gekleidet hatte, versprach ihm dieser seine Hilfe. Die Gefangenschaft wurde erträglicher und nach etlichen Wochen wurde er frei. Da lag denn die Welt wieder vor ihm, mit ihrem Kampf und Leid. Er schwankte lange, was er tun sollte, ob sein altes Geschäft wieder anfangen oder etwas Neues beginnen.

Die Goldgruben von Kalifornien waren eben erst entdeckt und er beschloß, dahin zu wandern. Mit einem dunkeln Mann, den er im Gefängnis kennen gelernt, machte er sich auf den Weg, beide gut bewaffnet bis an die Zähne. Die Reise war unter unendlichen Mühsalen und Entbehrungen zu Ende gekommen. Auch der dunkle Mann hatte eine Vergangenheit und zwar eine furchtbare. Er hatte seinen leiblichen Bruder erschlagen im Streite über einer Erbschaft. Lange Jahre hatte er dafür in einsamer Zelle gesessen und war als ein gebrochener Mann herausgekommen. In den Nächten warf er sich unruhig im Schlafe umher und schrie oft laut, suchte den Tod und fand ihn nicht. Der Schneider wußte sich oft nicht mehr mit ihm zu helfen und verfluchte sein Schicksal, das ihn an diesen Mann gefesselt hatte. Kurz ehe das Ziel erreicht war, in einem großen, undurchdringlichen Walde, kam der Mann zum Sterben. Das Fieber hatte ihn völlig verzehrt.

»Ich kann nicht mehr. Es geht zu Ende, Schneider,« sagte er mit matter Stimme. Dann faßte er ihn mit einmal krampfhaft und rief ihm zu: »Bete, Schneider, wenn du beten kannst und einen Gott im Himmel und ein Herz im Leibe hast. Bete, sage ich dir und wenn du's nicht kannst, so lerne es jetzt.« Da zog's wie ein Ton aus alten besseren Tagen über den Schneider, er kniete neben dem im Todeskampfe ringenden Kameraden. Was er beten sollte, wußte er nicht, nur etliche Trostsprüche fielen ihm ein. Der Sterbende wurde aber ruhiger und schaute ihm dankbar ins Auge.

»Das hätte ich nicht gedacht von dir, Schneider, daß du das könntest, ich sage dir« – da stockte der Atem und der Mann war tot.

»Es war die furchtbarste Nacht meines Lebens, ich mit dem Toten allein in dem Wald, und hell schien der Mond durch die Zweige auf das stille Angesicht« – fuhr der Schneider fort. – »Ja, jenes Mal war's nahe daran, daß ich umgekehrt wäre, denn ich dachte, Blutschuld hast du doch keine auf dem Gewissen und kannst noch eher umkehren, als der da es gekonnt hätte.«

Aber als die Nacht vorbei war, da war auch wieder beim Schneider alles vorbei. Er nahm die Waffen, die Uhr und das Geld des Gestorbenen zu sich, grub mit seinem Hirschfänger ein Grab und legte ihn hinein und deckte ihn mit Moos und Zweigen zu und erreichte folgenden Tages San Francisco.

Ich übergehe die Goldgräberzeit und will nur sagen, daß über diesem Kapitel das Wort stand: »Gelebt wie ein Heide.« Von morgens bis abends rastlos arbeitend, in größter Armut und Entbehrung lebend legte er jeden Pfennig zurück und sandte die kleinen Summen an ein Bankhaus im Norden; aber finster, ohne Gott noch Menschen zu grüßen, gehaßt und gefürchtet wegen seiner stechenden Augen und Reden. »Ich hatte nur zwei Gedanken: Reich werden und mich rächen an der Welt.« Und es gelang ihm, das erste zu werden. Nach Jahren hatte er sich eine schöne Summe zusammengegraben und machte sich von dannen. Fast wäre er dabei ums Leben gekommen. Als die Nachricht von seinem Weggehen ruchbar ward, hatten es etliche darauf angelegt, ihn zu überfallen. Der Schnelligkeit seines Pferdes dankte er es allein, daß sie ihn nicht einholten. Die Kugeln sausten rechts und links um ihn und seinen Diener, aber sie trafen nicht. –


In der Veranda eines schönen Sommerhauses in Virginien, vor welchem ein hoher Springbrunnen seine Künste trieb und sein Wasser auf großblättrige Blumen in Regenbogenfarben herabwarf, saß, seine Zigarre vor sich hindampfend und Kaffee schlürfend, ein älterer Herr. Sein ganzes Aussehen machte den Eindruck des Wohlbehagens und Reichtums. Die Zeitungen, die vor ihm lagen, mußten nicht gerade Angenehmes enthalten haben, denn seine Stirn umwölkte sich zusehends. Er klingelte und zwei Negersklaven erschienen. »Sattelt die Pferde und reitet hinüber nach ... zur Post und fragt, ob nicht Briefe und Nachrichten da sind und hört in der Stadt, was man sagt vom Kriege.« Die Diener eilten weg. Der Herr ging durch die weiten Plantagen, in denen seine Sklaven arbeiteten; wenn sie ihn auch grüßten, so lag doch in dem Gruße etwas, das dem Herrn nicht verborgen blieb. Der amerikanische Krieg des Nordens gegen den Süden war ausgebrochen, die Heere der Union rückten immer näher. Das Heer des Südens erschöpfte sich in furchtbaren Märschen und Verlusten. Immer höher in die ältere Männerklasse drang der Ruf und die Aufforderung, zum Heere zu stoßen. Kein Wunder drum, wenn der bejahrte Pflanzer fürchtete, demnächst abgeholt zu werden. Große Summen hatte er bereits bezahlt, sein Haus in der Stadt lag voll Soldaten und trotz seines immer noch ansehnlichen Vermögens wußte er doch oft nicht, wovon leben. –

Die Nachrichten lauteten bedenklich, noch bedenklicher aber der Brief eines Geschäftsfreundes, dessen kurzer Inhalt war: »Er möge sich auf der Hut halten. In der Stadt gehe es bereits schon toll zu. Er sei als ein Anhänger der Union angesehen; wie lange sein Haus noch in der Stadt stehe, das könne niemand sagen, er möge es aber getrost verloren geben. Da er auch draußen gehaßt sei, so rate ihm der Freund, möglichst schnell das Seine in bares Geld zu verwandeln und sich aus dem Staube zu machen, ehe man ihn unter die Armee stecke.« – Der Pflanzer faltete den Brief zusammen, ging noch einmal durch die Plantagen, als ob nichts geschehen, und bereitete in der Nacht alles vor zu einer schleunigen Flucht. Aber die Aufpasser schliefen auch nicht. Als der Pflanzer in Verkleidung fortritt, ritt er gerade in ein Piket Südsoldaten hinein, die sein Haus schon rings umstellt hatten und ausgesandt waren, ihn zu fangen. Sie befahlen ihm, mit ihnen umzukehren, seine Waffen zu holen und mit ihnen zu ziehen. Sie schleppten ihn in die Stadt vor eine Art Kriegsgericht, das ihn wie einen Deserteur behandelte, ihm sein Geld abnahm, ihn seiner Habe verlustig erklärte und ohne weiteres in das Heer einrangierte. Meilenweit ging's durch tiefe Schluchten und wilde Wege mit einem ganzen Trupp geworbenen und erpreßten Gesindels der Armee entgegen. Mit wunden Füßen, aufs äußerste erschöpft, kam der Pflanzer dort an. Zwei ganze Jahre zog er durch verlorene Gefechte, Wildnisse und Entbehrungen mit dem Heere. So oft er auch fast sterbend darniederlag oder in den Gefechten den Tod suchte, er starb nicht und fiel nicht.

Da geschah es, daß die Division an einen Hafenplatz kam. In dem Pflanzer tauchte der Gedanke auf, sich die Schiffe zu besehen, ob irgend eines unter fremder neutraler Flagge fahre. Und er fand eines. Es war ein dänisches. Da er des Dänischen mächtig war, stahl er sich unversehens weg zu dem Schiffs-Kapitän, bei dem er sich als einen gepreßten Dänen aus Helsingör ausgab. Er bat, ihn als Koch mitzunehmen, da er diese Kunst verstände. Der Kapitän willigte auch ein und zog ihm ein Kochhabit an, und so entkam er seinen Verfolgern, die das neutrale Schiff nicht untersuchten. Der geneigte Leser weiß aber, wen er vor sich hat und würde auch unter dem weißen Kleide des Koches » meinen Schneider« erkannt haben, denn niemand anders war es.

Ja es war ihm wunderbar geglückt seit seiner Abreise aus Kalifornien. Er hatte sich in einer Südstadt niedergelassen und mit dem ersparten Gelde wieder sein Geschäft in großartiger Weise betrieben. Er besaß ein Geschäftshaus in der Stadt, während er vor der Stadt sich eine herrliche Plantage gekauft, auf welcher er leichtsinnig, unbekümmert um Gott und Welt, ein herrliches Leben führte. Stieß ihm auch da und dort aus seiner Vergangenheit etwas auf, so war's allemal der letzte Satz: »doch verloren,« womit er sich immer wieder tröstete. So hatte ihn mitten im Wohlleben der Krieg ereilt, der sein ganzes Glück vernichtete. Die Kriegsjahre hatten ihn vollends alt gemacht. Wohl versah er seinen Dienst auf dem dänischen Schiffe, dessen Kapitän bald merkte, daß er ein »schwedisches Dänisch« spreche. Ihm hatte er einen Teil seines Lebens erzählt und aus Mitleid setzte er ihn als einen Kranken bei der Ankunft in Southampton schon ab, versah ihn mit Geld und entließ ihn.


In der Rue Charonne zu Paris im Quartier St. Antoine, dem Arbeiterviertel, hoch in einer Dachstube finden wir » meinen Schneider« wieder. Er ist nicht mehr zum Erkennen. Tagelang stiert er von seiner hohen Warte hinaus in das Dächermeer, auf das er herabsieht, auf das große, lustige Paris. Er ist den Tag über wieder ausgewesen, um Arbeit und um Unterkunft in einem großen Geschäfte zu bitten, – man hat ihn betrachtet und zu »alt« gefunden. Ein wenig Flickarbeit, das ist alles, was er heimgebracht. – Als er krank in England ans Land gestiegen war, kam er durch die Fürsorge des Kapitäns in ein Spital. Dort besuchte eine reiche Quäkerin oftmals die Kranken und der, wie sie glaubte, schwermütige Däne zog ihr besonderes Interesse auf sich. Als er wieder besser war, hatte sie stundenlang an seinem Bette gesessen; was sie von ihm hörte, waren abgerissene Stücke seines Lebens. Die Liebe, mit der sie zu ihm sprach, rührte und bewegte ihn tief und vielleicht wäre ihm damals schon sein Herz aufgegangen, wenn er sich nicht geschämt hätte. So was Köstliches es ist um das Rechte sich schämen, um diesen lichten Abendsonnenschein der verlorenen Unschuld des Menschen, so was Trauriges ist's um das Falsche sich schämen, sich selbst nicht die Wahrheit einzugestehen und vor Menschen sie aus Scham verhehlen. Und doch fangen die Bäume immer erst an in die Tiefe hinabzuwachsen und alles, was der Mensch von Schmuck an sich tragen will ohne Wurzel in der Tiefe, taugt so viel, wie wenn die Kindlein am lichten Sommertag in der Gluthitze einen schönen Schloßgarten in den Sand pflanzen mit abgerissenen Blumenköpfen und Laubwerk, alles in den Sand stecken und darüber ihre Freude haben. Am Abend ist alles hin und vorbei – dieweil es keine Wurzel hatte. Die Quäkerin half dem Schneider nach London und gab ihm eine Empfehlung mit an »Freunde«, die ihm auch zur ersten Einrichtung halfen. Da lernte er einen Kollegen kennen, einen Engländer, der ihm vorschlug, die Sache mehr ins Große zu treiben und zugleich auch ein Geschäft in Paris zu gründen, um in London die Pariser und in Paris die englische Mode zu vertreten. Da anfangs das Geschäft gut ging und der Associé die Reisen machte, ging der Schneider darauf ein. Der Associé sollte mehr den »kaufmännischen Teil« des Geschäftes übernehmen, während dem Schneider der »technische« bleiben sollte. An einem schönen Tage aber wurde dem Schneider diese Teilung klar: Er hatte gearbeitet und der Associé hatte das Geld eingezogen und sich aus dem Staube gemacht. Der Schneider folgte ihm nach Paris, um seiner habhaft zu werden, aber der hatte sich längst »ins Innere« zurückgezogen. Um seinen Gläubigern in London zu entgehen, blieb der Schneider in Paris und dachte da sein Fortkommen zu finden. Aber diesmal gelang's nicht. Die wenigen Franken, die er übrig behalten, gingen zur Neige; überall abgewiesen, dazu alt und etwas hinkend am Fuße, wollte niemand ihn nehmen. Da stieg seine Not aufs äußerste. In zwei Tagen kaum ein Brot, als Lager das Bündel Kleider, die er noch hatte! So trieb ihn die Verzweiflung einmal wieder hinaus an einem Abend in das Innere der Stadt. Er ging an einem Hause vorbei, das mitten zwischen die Häuser gebaut war und aus dem ihm, täuschte ihn sein Ohr nicht, ein deutscher Choral entgegentönte. Jahre waren verflossen. Er meinte eine deutsche Singgesellschaft zu finden und trat durch den Torweg und befand sich in einer Kirche. Es war die Kirche der Billettes. Die Predigt und der Gottesdienst waren deutsch. Unter der Rede überkam ihn ein Gefühl, als müsse alles über ihm zusammenstürzen; er wollte hinaus und konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Seine Jugend, sein ganzes Leben stand mit unauslöschlichen Zügen vor ihm. Er hörte die Predigt nicht mehr, merkte auch nicht, wie der Gesang zu Ende ging und die Menge sich verlor und er allein noch in der schwach erleuchteten Kirche zurückblieb. Da erblickt ihn der Sakristan, der ihn aufrüttelte: »Herr, Ihr seid wohl eingeschlafen? Macht Euch fort, die Kirche wird geschlossen. Habt Ihr was Besonderes aber noch, so trefft Ihr den deutschen Pfarrer noch in der Sakristei, ich werde Euch den Weg zeigen.«

Fast willenlos folgte er dem Manne und traf einen jungen deutschen Prediger, der ihn nach seinem Begehren fragte. Wie er dazu kam – er wußte es selbst nicht, er sagte ihm: »Ich sterbe Hungers hier, helfen Sie mir, wenn Sie können.«

Der Geistliche notierte sich seine Wohnung, gab ihm etwas Geld für die Not und am folgenden Tage war er schon bei ihm. Als er die Wahrheit seiner Aussagen bestätigt fand, half er ihm durch die Mittel der evangelischen Gesellschaft auf, die besonders der Tausende von Deutschen sich annahm, und hinterließ ihm außer Geld ein Neues Testament. Der Schneider kannte das Buch wohl, legte es aber mit einer gewissen Aengstlichkeit zur Seite und versprach, bei gelegener Zeit darin zu lesen. – Alle Versuche, ihn unterzubringen, schlugen fehl, die Geldmittel waren nicht so reich, einen Menschen ohne Verdienst zu ernähren.

Dort in der Rue Charonne ist ein großes Haus, darin Waisen und verwahrloste deutsche Kinder und alte gebrechliche Leute Aufnahme finden. Dahin kam der Schneider regelmäßig am Abend, am Kamin sich zu wärmen. Da war unter den Greisen auch manches gebrochene Leben, das nach wilder Fahrt und Schiffbruch hier im fremden Paris an diesem stillen Ufer des Asyls landete. Man erzählte sich bei dem Dampf der kurzen Holzpfeife seine Schicksale, und der Schneider sah, daß er nicht allein war mit seinem wilden Leben. Aber in manchem dieser Greise war's friedlich und still geworden nach dem Sturm und auch auf dem Angesichte lag was davon. Zu einem solchen, einem alten hessischen Gassenfeger, fühlte sich der Schneider besonders hingezogen. Es war eine hohe Gestalt mit scharfen Zügen und einem wallenden schneeweißen Haar, wie man sie am Vogelsberg wohl trifft. Der Sturm hatte ausgebraust, und nun lag eine liebreiche Milde über dem Angesicht und in den großen hellblauen Augen, wie wenn die Sonne nach dem Gewitter auf die Blumen und Zweige scheint, die noch voll der schweren Regentropfen hängen. Er verstand's, mit »müden« Leuten zu reden, nicht bloß mit Europa- und Deutschland-Müden, sondern mit denen, die mit dem Liedlein singen:

»Ich bin die Welt durchlaufen,
Daß ich's schier müde bin.«

Der nahm sich den Schneider aufs Korn und folgte ihm eines Abends mit auf sein hohes Dachlogis und redete mit ihm. Was er geredet hat, das hat unser Herrgott im Himmel gehört und bei dem soll's auch aufgehoben bleiben. Es gibt aber Gespräche, wovon man die Empfindung behält, als habe jemand aus einer besseren Welt mit einem geredet. So war's dem Schneider. Die beiden saßen tief bis in den frühen Morgen hinein ohne Licht, und 's war doch Licht. Beim Weggehen schlug der alte Gassenkehrer dem Schneider einen Spruch auf, den bat er zu lesen. »Hier steht er, Herr,« sagte mein Schneider zu mir und griff nach seinem Testament. Ich las: »Alles was mir mein Vater gegeben hat, das kommt zu mir – und wer zu Mir kommt, den will Ich nicht hinausstoßen.« »Seht, da ist's licht geworden und seitdem ist's wieder wie in den alten Tagen von Hamburg. Ich war ein Deserteur unseres Herrgottes und stellte mich vor sein Kriegsgericht, aber ich bin freigesprochen und die paar Jahre, die ich noch habe, will ich ihm desto besser dienen. Nun wissen Sie alles. Hier in diesem Bündel sind die Papiere, die nehmen Sie 'mal mit und lesen sie, und hier am Bein sehen Sie den Schuß. Ich bin zu nahe am Grab, um mit einer Lüge aus der Welt zu gehen.«

* * *

Es war tief in die Nacht hinein geworden über seiner Erzählung. Denn das ging nicht so glatt weg, wie es der Verfasser erzählt, sondern zwischen hinein gab's Herzstöße und oft lautes Weinen. Manchmal war's, als könne er nicht weiter, als müsse er einen hohen Berg hinaufklimmen, den er nicht ersteigen könnte. Forschend, ja manchmal fast ängstlich lauernd, sah er mich an, daß es mir just nicht geheuer ward, zumal er noch die große Perücke abgelegt und greisenhaft drein schaute mit den wenigen Haaren, die noch um Ohr und Hals sich kräuselten. Seine Stimme klang bald hohl, bald hob sie sich wieder unter dem Wogen des Herzens. Er wollte wissen, ob ich ihn nun verachtete – da ich solches alles von ihm gehört. Das sagte er nicht, darauf wartete er. Ich reichte ihm die Hand und wiederholte sein Wort: – »nicht hinausstoßen.« Er küßte sie mir und ich eilte durch die dunklen Straßen. Seitdem vermied er es, wie auch ich, irgendwie auf die Geschichte seines Lebens zurückzukommen. Nur war er heiter, fröhlich wie ein Kind, das seinen Eltern das volle Herz ausgeschüttet hat. Es ging ihm im Geschäfte gut, seiner Kunden wurden immer mehr und reiche Leute nahmen sich seiner an, die ihn mit mehr Geld versahen, als ich es vermochte. Nur das eine machte ihm Sorge, ob er alles wohl heimzahlen könnte. Er stand nahe den Siebzigern. An seine Söhne hatte er vergeblich geschrieben, sie hatten ihm nicht geantwortet.

Da kam eines Tags der Küster in Eile zu mir, im Krankenhause läge ein Mann tot, den man etliche Male bei mir gesehen hätte und den ich kennen müsse. Ich konnte mir nicht denken, wer es war und eilte hin. Da lag er denn im kunstlosen Sarge, der alte Herr – mein Schneider. Abends zuvor hatte er dem Hauswirte geklagt über Schwindel und Schmerzen in der Brust, war dann in seine Kammer gegangen und hatte sich gelegt. Da dieselbe abgelegen war, so hatte niemand wohl sein Rufen gehört, als der Schlag ihn traf. Des Morgens kam sein Geselle zur Arbeit und da niemand ihm öffnete, ließ er mit dem Wirt die Tür aufbrechen. Da sah er seinen Meister zum Bett herausgesunken, das Haupt zur Erde, noch lebend, aber ohne Bewußtsein. Wenige Minuten, nachdem er ins Krankenhaus getragen war, ist er verschieden.

Mit seiner Leiche ging niemand außer mir. Die vier abgehärmten Träger schauten mich verwundert an, als ich so ganz allein mit ihnen den weiten Weg zum hohen Friedhof antrat. Draußen sprach ich wenige Worte über den Spruch: »Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen,« und betete über seinem Grabe. Niemand hatte ihn gekannt, allen war er aufgefallen, ich allein wußte von ihm.

Eines hatte er mich gelehrt, von dem ich auch wünschte, daß der geneigte Leser aus dieser Erzählung es mit mir lernte: »Stoße niemanden hinaus, du weißt nicht, wen du hinausstößest.« Auch in einem Schneider kann ein Leben verborgen liegen, das dir zu denken gibt. Darum sieh nicht bloß auf die Kleider, die Leute machen, sondern auch auf die Leute, die Kleider machen und gedenke dabei an dein letztes Kleid, das man dir ohne deine Bestellung machen wird.

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