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Des Wassermüllers Friedel.


Auf dem Hofe des Wassermüllers herrschte große Bestürzung. Der Wassermüller hatte über dem Haupte seines Friedels die Peitsche geschwungen und den Sohn von Haus und Hof gejagt. Mit der Peitsche noch in der Hand stand die große, kräftige Gestalt des Wassermüllers neben einem Mühlsteine, der aufgerichtet auf dem Hofe lag, mit dem linken Arme auf den Stein gestützt. In seinen Mienen lag noch wilder Zorn und seine Augen starrten regungslos in den Bergbach, der die Mühlräder trieb.

Des Wassermüllers Mädel, die Susel, stand an die Hausthür gelehnt und hielt die Schürze vor die weinenden Augen, während ihr jüngerer Bruder Gottfried neben ihr auf der Steinbank saß und dann und wann mit dem mehlweißen Aermel die Thränen aus den rothgeweinten Augen wischte.

Die beiden Müllerburschen sah man durch die Hausthür in der Mühle im eifrigen Gespräche und bestürzt zum Wassermüller hinüberblickend.

Des Wassermüllers Frau saß nicht fern von ihrem Manne auf einem Holzblocke und weinte heftig. Sie hatte die weißleinene Schürze vor die Augen gepreßt und die bloßen Arme auf die Knie gestützt. Indem sie zu ihrem Manne aufblickte, der noch bewegungslos dastand, erhob sie sich, schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Du hast Dich im Zorn übereilt, Wassermüller,« redete sie ihn an. »Du hast über Deinem Sohn den Stock geschwungen, hast ihn mit Schimpf und Schande von Haus und Hof gejagt. Der Junge ist davon gelaufen, geh' ihm nach, Wassermüller, und hol' ihn zurück.«

Der Wassermüller antwortete nicht, sondern blickte starr in den Bach.

»Der Friedel ist unser Erstgeborner,« fuhr die Frau fort. »Denk' daran, wie Du ihn selbst aus der Taufe hobst, weil sein Pathe, Dein Vater, nicht kommen konnte, es werden morgen achtzehn Jahre – nun treibst Du ihn fort von seinem väterlichen Erbtheil –« und sie brach bei diesen Worten wiederum in heftiges Weinen aus.

Der Wassermüller richtete sich in die Höhe und wiederkehrender Zorn leuchtete aus seinen Augen. »Wer,« rief er, »sagt, daß ich den Buben von seinem Erbtheil gejagt habe? Die Mühle ist mein, ich bin Herr derselben und bleibe es, so lange ich will. Ich will nicht solche Lotterbuben um mich dulden. Der Junge ist achtzehn Jahre alt, kann er nicht Müller werden und arbeiten, wie ich es thun mußte? Thut's etwa gut, daß er den ganzen Tag fiedelt und dudelt, hat er schon ein Stück Brod damit verdient? Ich will meine Kinder nicht zu Bettelvolk heranziehen und zu etwas Anderm taugt die Fiedel nicht.«

»Sei vernünftig, Wassermüller,« bat die Frau. »Bedenk, wie sehr erst kürzlich der Herr Pfarrer den Friedel wegen seines Spiels gelobt hat; er wird gewiß ein tüchtiger Musikant werden.«

»Sei ruhig, Frau,« herrschte der Wassermüller. »Mag der Herr Pfarrer sagen, was er will, so thue ich doch, wie es mir gefällt, denn in meinem Hause bin ich Herr. Ich habe den Buben fortgejagt und meine Schwelle betritt er nicht wieder. Ich hab's ihm oft gesagt, er hat das Fiedeln nicht gelassen, nun mag er's haben. Sein Erbtheil, die Fiedel hat er, und wie die nährt, hat man an Deinem Vater gesehen; er wär' verhungert, hätt' ich ihn nicht ernährt.«

Ein tiefer Schmerz zuckte bei diesen Worten über das Antlitz der Frau. Sie hatte zum ersten Male in des Wassermüllers Zorn von ihm den Vorwurf gehört, daß sie eines armen Musikanten Kind sei; aber daß er es ihr schon lange im Stillen vorgeworfen, namentlich seit ihr ältester Sohn, der Friedel, mit Leidenschaft die Geige spielte, war ihr nicht verborgen geblieben.

»Du sollst Vater und Mutter ehren, steht in der Bibel,« antwortete sie den heftigen Worten ihres Mannes, »und mein Vater liegt schon längst unter der Erde und kann sich nicht rechtfertigen. Er hat sich und seine Familie stets rechtschaffen durchgeholfen.«

Der Wassermüller fühlte sein Unrecht. »Ja,« sagte er, »wir sollen Vater und Mutter ehren, wir müssen Ihnen aber auch gehorchen, so lange wir an ihrem Tische essen, und weil der Friedel nicht auf meine Worte gehört bat, habe ich ihn fortgejagt. Ist es etwa Mißgunst, daß ich ihm das Fiedeln nicht gönnen sollte? Mochte er fiedeln und dudeln, wenn er nur hätte arbeiten und was Gescheites lernen wollen, das ihm einst sein rechtschaffen Brod erworben hätte! Du hast den Jungen verwöhnt, weil Du ihm stets seinen Willen gelassen, denn Ihr Frauen meint, wenn solch' Bube etwas fiedeln kann, daß die Mädel darnach tanzen, er sei schon ein großer Herr und Künstler. Und der Junge hat es sich selbst schon eingebildet, daß dem so sei, denn es war ihm zu gering, ein Müller zu werden, wie sein Vater ist. Was haben denn alle die, welche große Künstler und Musiker heißen, davon? Sie müssen in der Welt umherziehen und den Leuten vorspielen, weil sie nicht so viel haben, daß sie sich daheim am eigenen Tische satt essen können. Solch' einen Sohn will ich aber nicht, und ich gäbe die halbe Mühle darum, hätte Dein Vater den Jungen nie den Bogen führen gelehrt. Anfangs sah ich's ohne Arg mit an, dachte, der Junge kann Abends in den Feierstunden den Burschen und Mädeln einen Tanz aufspielen, aber ich ahnte nicht, daß solch' ein Uebel daraus erwachsen würde. Doch es ist genug,« brach der Wassermüller ab, »mag er's haben, wie ich's ihm vorausgesagt; mein Haus ist vor ihm verschlossen, an meinem Tische ißt er nicht wieder. – Nun kein Wort mehr darüber.«

Vom Walde her, in dessen Mitte die Wassermühle mit den ihr zugehörigen Ländereien lag, schallte das Geläute mehrer Kuhglocken und alsbald sprang ein junges schönes Rind vor Uebermuth brüllend auf den Hof, eilte auf den Wassermüller zu und schien ganz erstaunt, daß dieser ohne ein freundliches Wort, ohne es zu streicheln vorüberschritt.

»Bring' das Blässel in den Stall und steck der Schecke und den anderen Kühen ein Bündel Heu auf, Susel,« rief der Wassermüller dem an der Hausthür stehenden Mädchen zu und schweigend gehorchte dieses.

Als aber der Vater in das Haus gegangen war und das Mädchen dem Rinde die Kette um den blanken Hals legte, lehnte es die Stirn an das Rind und seine Thränen tröpfelten auf den Hals des Thieres. Verwundert blickte sich dieses um und stieß das Mädchen mit dem Kopfe an, gleichsam um es zu trösten; aber noch heftiger fing Susel an zu weinen.

Die Wassermüllerin war ihrem Kinde in den Stall gefolgt.

»Sei ruhig, Susel,« sprach sie, »wenn der Zorn des Vaters sich gelegt hat, läßt er sich erbitten und nimmt den Friedel wieder auf.«

»Ja,« schluchzte das Mädchen, »wenn er sich nun aber ein Leid anthut. Der Vater sah gar so heftig aus, als er die Peitsche über des Friedels Kopf schwang und rief: ›Schandbube, geh' von meinem Hofe, mein Kind bist Du nicht mehr,‹ und der Friedel hatte die großen bellen Thränen im Auge, als er mir die Hand zum Abschiede reichte, er sah so traurig aus und sprach kein Wort. Mutter, er thut sich gewiß ein Leid an.«

»Was Du für thörichte Gedanken schaffst, Susel,« tröstete die Mutter; »der Friedel ist ein guter, verständiger Junge und thut seiner Mutter das nicht zu leid. Er wird zu seiner Pathin in der Waldschenke gegangen sein, und wenn der Vater zur Ruhe ist, will ich den Knappen dorthin schicken und der Pathe sagen lassen, daß sie sich meines Kindes annimmt, und dem Friedel soll er sagen, er möge ruhig bei der Pathe bleiben, bis der Vater ihn wieder holen lasse. Wenn der Knappe tüchtig ausschreitet, ist er, ehe der Vater morgen früh aufsteht, wieder heim und es ist ja obenein morgen Sonntag. – Nun melk' die Kühe, Susel, und gib Acht, daß das Kalb fest angeknüpft wird.«

Nach diesen Worten verließ die Wassermüllerin den Stall, allein es war ihr doch nicht so leicht um's Herz, als sie sich stellte. Der Gedanke, daß ihr Sohn sich ein Leid anthun möge, war auch ihr durch den Sinn gegangen und sie vermochte ihn nicht zu unterdrücken. Sie ging in's Haus und sprach einige Worte mit dem Müllerburschen.

Als sich aber Alle zum Abendessen an den Tisch gesetzt hatten, vermochte sie keinen Bissen zu essen und rückte ihren Stuhl vom Tisch in eine Ecke.

Der Wassermüller blickte seine Frau mit ernstem Blicke an, mit keinem Worte aber erwähnte er des Friedels, sondern sprach mit den Knappen über die Geschäfte. Aber auch diese zeigten keine große Lust zum Sprechen und die Susel und der Gottfried sprachen kein Wort. Es war ein recht trauriges Abendessen, wie es seit Jahren nicht in des Wassermüllers Hause gewesen war.

Als sich der Wassermüller mit seiner Frau zur Ruhe begeben hatte und diese ihr Gesicht in den Kissen barg und weinte, sprach der Wassermüller mit ruhiger Stimme:

»Es ist genug, Gertrud. Laß das Weinen um den Buben, er ist alt genug geworden, um sich allein durch die Welt zu helfen. Wie Mancher muß noch früher für sich selbst sorgen und hilft sich doch durch. Er hat's nicht besser haben wollen, es mag ihm zur Lehre dienen.«

»Er thut sich ein Leid an,« erwiderte die Frau schluchzend, »und das bricht mein Herz.«

»Wie?« rief der Wassermüller, »der Junge sollte es wagen und solche Schande auf seines Vaters Haus bringen! Nein, Gertrud,« fuhr er ruhiger fort, »ich habe den Friedel von Haus und Hof gejagt, weil er keine Lust zum Arbeiten hatte und stets dem Fiedeln nachhing, aber so schlecht ist er nicht, sich selbst das Leben zu nehmen. Gib Dich zufrieden, er wird schon wiederkommen. Und wenn er sich zu bessern verspricht, will ich was für ihn thun, aber in's Haus nehme ich ihn nicht wieder.«

»Der Friedel kehrt nicht von selbst zurück,« erwiderte die Frau, immer noch heftig weinend, »dazu ist er zu stolz, lieber verhungert er.«

»So mag er verhungern,« gab der Wassermüller kurz zur Antwort. »Ich lauf' ihm nicht nach.«

Die Frau schwieg, um sich still ihrem Kummer hinzugeben, bis der Schlaf sich auf die müden Augen senkte und all' die trüben Bilder aus ihrer Seele scheuchte. Das ist des Schlafes milde Eigenschaft, daß er Schmerz wie Freude früher in seine Arme schließt, als irgend eine andere Bewegung des Gemüthes, um jedem Uebermaße vorzubeugen, zu welchem Freude und Schmerz so leicht sich steigern.

Die Morgensonne des Feiertags strahlte lieblich und warm auf die Wassermühle herab. Die Mühlräder standen still und der Bergbach ergoß sein Wasser mit eintönigem, aber doch so lieblichem Plätschern und Rauschen neben sie. In der Wassermühle ging Alles seinen geregelten Gang wie sonst. Aber still war es. Auf den Gesichtern der Bewohner lag Ernst und Trauer und der sonst so heiteren Susel, die singend und scherzend ihre Arbeit zu vollbringen pflegte, sah man es an, daß sie geweint hatte. Der Wassermüller hatte seinen Feiertagsrock angezogen, um nach dem nächsten Kirchdorfe zum Gottesdienste zu geben und stand mit dem Gesangbuche unter dem Arme in der Hausthür. Susel und Gottfried sollten ihn begleiten. Als die Susel endlich in ihrem kurzen rothen Sonntagsröckchen, mit dem schmucken schwarzen Mieder schweigend zu ihm trat, schaute der Wassermüller mit Wohlgefallen auf das liebliche Mädchen. Er faßte es unter das Kinn, hob den Kopf in die Hohe, aber die Augen des Mädchens schauten verlegen zu Boden.

»Nun, Mädel, was schaust so traurig aus?« fragte der Wassermüller. »Ist es doch, als ob Du nie gelacht und gesungen hättest. Sag', was Du so finster schaust?«

»Weil der Friedel nicht mit uns gehen kann,« antwortete das Mädchen leise.

»Laß mir den Buben aus dem Sinn,« rief der Wassermüller ärgerlich. »Ist Dir's nicht genug mit Deinem Vater und dem Gottfried zur Kirche zu gehen, so bleib daheim.«

Mit diesen Worten ging er fort zum Gottesdienst und die Susel und der Gottfried folgten ihm schüchtern in einiger Entfernung. Es war den Kindern, als ob sie sich vor ihrem Vater fürchteten und doch konnten sie die Trauer um den Friedel nicht aus ihrem Herzen bannen.

Als die Wassermüllerin ihren Mann hatte fortgehen sehen, rief sie den Müllerburschen, den sie zur Waldschenke geschickt, denn noch hatte sie mit ihm zu sprechen nicht vermocht. Aus des Burschen trauriger Miene sah sie sogleich, daß er keine gute Nachricht bringe und kaum wagte sie ihn zu fragen.

»Ist der Friedel bei seiner Pathe?« fragte sie endlich.

»Nein,« erwiderte der Bursch. »Ich bin bis gegen Morgen in der Waldschenke geblieben, weil ich glaubte, daß er noch kommen könne, aber er kam nicht.«

Die Wassermüllerin setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.

»Was sagte seine Pathe?« fragte sie weiter.

»Sie glaubte, der Friedel werde heimgekehrt sein und der Meister werde ihn wieder aufgenommen haben. Sollte der Friedel aber noch kommen, so werde sie es Euch morgen, wenn ihr Bursch das Mehl hole, wissen lassen. Wenn er zu ihr komme, wolle sie seiner schon hüten und Ihr solltet Euch nicht grämen, der Friedel würde bei ihr gut aufgehoben sein.«

Die Wassermüllerin erwiderte kein Wort, sondern winkte dem Burschen mit der Hand, daß er sie verlassen möge. Dann aber vermochte sie sich nicht länger zu halten und brach in heftiges Weinen aus. Der Friedel war ja ihr Erstgeborner, ihr Lieblingskind, er war ein guter und lustiger Junge und im Stillen hatte sie es sich immer gesagt, daß sein zarter, feiner Körper nicht zum Müller tauge. Sie war fest überzeugt, daß der Friedel ein außerordentlicher Junge war. Aus seinen offenen, großen blauen Augen sprach so viel, was nicht in der Susel und auch nicht im Gottfried lag, und es waren doch alle drei ihre Kinder. Er hatte ganz andere Sitten und die hatte er von seinem Großvater, ihrem Vater. Er konnte so herrlich schreiben und wenn er ihr zu Zeiten aus der Bibel oder dem Gesangbuche vorlas, so las er geläufiger und besser als selbst der Schullehrer, und seine Stimme hatte einen so weichen Klang, daß ihr oft die Thränen in die Augen kamen, wenn sie ihm zuhörte. Und erst sein Geigenspiel! Hatte er doch nur wenig Unterricht bei ihrem Vater erhalten und konnte er doch jeden Tanz spielen, den er nur einmal gehört hatte. Ja, hatte er nicht selbst einige Tänze gemacht und gespielt! – Jetzt war er fort, ihr Herzenskind, und wer wußte, wo er war und wann sie ihn wiedersehen würde.

Sie gab sich ganz ihren Betrachtungen bin und ließ ihres Sohnes Leben von seiner ersten Lebensstunde an in ihrer Erinnerung vorüberziehen bis zu dem Augenblicke, wo ihr Mann ihn vom Hofe gejagt, – dann konnte sie nicht weiter denken, sondern weinte nur. – Wo er nur die Nacht über gewesen sein mag, fragte sie sich stets selbst, aber keine Antwort erhielt sie darauf und immer und immer wieder drängten sich neue Sorgen um ihr Kind in ihr Herz. Alle Hoffnung hatte sie auf die Nachricht aus der Waldschenke gesetzt und mit diesen Gedanken ging sie an ihr Geschäft.

Der Wassermüller kehrte mit den beiden Kindern vom Gottesdienste zurück. Sie setzten sich zum Mittagsmahl, aber alle waren ebenso verstimmt als am Abend zuvor. Keiner mochte sprechen. Am Nachmittage, wo sonst alle vor der Thür auf dem Hofe saßen, scherzten und lachten, war es still. Jeder vermißte Etwas. Der Friedel, die Seele des ganzen Hauses, der immer etwas Lustiges wußte, stets zum Scherzen aufgelegt war, fehlte.

Der Wassermüller gab sich alle Mühe, heiter zu erscheinen und die Anderen ebenso zu stimmen, aber keiner ging auf sein Scherzen ein, und als die Müllerin sich still in das Zimmer setzte, hing er ärgerlich sein Gewehr um und ging in den nahen Wald.

Das war ein stiller, trauriger Sonntag, so traurig war es nicht einmal gewesen, als des Wassermüllers Vater zur Gruft getragen war. Ebenso still war auch der Abend und sehnlicher war wohl nie die Nacht von Allen herbeigewünscht, als an diesem Tage, an dem kein einziges Gesicht im Hause des Wassermüllers gelacht hatte.

Ungeduldig schaute die Müllerin am andern Morgen dem Boten aus der Waldschenke entgegen, und als er endlich kam, ging der Wassermüller, als ob er Alles geahnt hätte, zu ihm. Als der Bote die Müllerin erblickte, bestellte er einen Gruß seiner Herrin und der Friedel sei noch nicht in die Waldschenke gekommen. Sollte er noch kommen, so werde sie ihr Pathkind pflegen wie ihr eigenes und bei sich behalten, bis der Wassermüller selbst komme und es hole.

Schweigend hatte der Wassermüller diese Worte angehört und seine Stirn hatte sich mehr und mehr verfinstert.

»Wer hat dem Buben nachgesandt?« rief er endlich zornig. »Thut's etwa Noth, ihm noch nachzulaufen, als ob ihm groß Unrecht geschehen wäre? Ich habe ihn fortgejagt und will nicht, daß sich Jemand um ihn kümmert, bis er selbst wiederkommt und Besserung gelobt. Thut's etwa gut, daß die Geschichte sogleich in der ganzen Gegend bekannt wird und die Leute darüber zu reden haben? Sag' Deiner Herrin,« wandte er sich zu dem Boten, »daß ich keine Nachricht von ihr verlange und daß sie sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten mischen möge, sonst sei unsere Freundschaft aus.«

Der Wassermüller schritt voll Aerger in's Haus und seine Frau folgte ihm, nachdem sie dem Burschen einen kurzen Gruß an seine Herrin aufgetragen.

Zwischen dem Wassermüller und seiner Frau ward des Friedels mit keiner Sylbe erwähnt, aber sie unterließ doch nicht, den Müllerknappen nochmals während der Nacht nach der Waldschenke zu schicken. Aber den Friedel hatte Niemand gesehen und Keiner hatte etwas von ihm gehört.

 

Tage vergingen. In der Wassermühle ging Alles seinen geregelten Gang. Die Mühlräder klapperten wie früher und dem Wassermüller sah man's nicht an, daß er außer der Susel und dem Gottfried noch ein Kind hatte.

Dann und wann machte sich schon wieder eine heitere Stimmung in der Wassermühle laut, denn die Zeit übte ihren allmächtigen, versöhnenden Einfluß von Tag zu Tag mehr aus. Man fing an, sich an die Abwesenheit des Friedels zu gewöhnen, zumal da es Alle vermieden, von ihm zu sprechen, um den Müller nicht zu erzürnen. Nur die Mutter konnte ihren Liebling nicht vergessen und manche Stunde lag sie schlaflos in ihrem Bette und gedachte ihres Kindes.

Wieder scheuchten eines Nachts die Sorgen um den Sohn den Schlaf von ihren Augen und ihre Gedanken suchten ihr Kind in weiter Ferne, da klangen bekannte Töne fernher vom Walde ihr in's Ohr. Sie glaubte zu träumen, aber zu deutlich vernahm sie die Töne der Geige und so vermochte nur der Friedel zu spielen. Leise öffnete sie das Fenster und lauschte. Leise klagend und zitternd tönte es vom Walde herüber, das war ihr Lieblingslied, das der Friedel so oft gespielt. Freude durchzuckte ihre Brust, nun wußte sie ja, daß ihr Kind noch lebte und ihr nahe war. Sie eilte in die Mühle, schickte den Müllerburschen in den Wald und harrte in fieberhafter Spannung dessen Zurückkunft. Erfolglos kehrte er wieder. Die Klänge waren verstummt, sobald er sich dem Walde genähert, und keine Spur des Spielenden hatte er aufzufinden vermocht.

Die Wassermüllerin verschwieg dies ihrem Manne. Als aber in der folgenden Nacht wiederum die Geige vom Walde herüber ertönte und sie wiederum den Müllerburschen vergeblich nach dem Walde gesandt hatte, ja als in der darauf folgenden Nacht die Töne zum dritten Male erklangen und so traurig und wehmuthsvoll riefen und in ihr Herz drangen, da vermochte sie es nicht länger du ertragen und weckte ihren Mann.

Der Wassermüller wollte sich nicht darum kümmern. Als aber in den folgenden Nächten immer und immer so klagende milde Töne durch die stille Nacht vom Walde herüberschallten, als auch die Susel und der Gottfried sie gehört und morgens davon sprachen, da entschloß sich der Wassermüller selbst in den Wald zu gehen, sobald er die Töne wieder vernehme.

Es war eine stille, warme Sommernacht. Kein Lüftchen regte sich in den Wipfeln der Bäume, die Mondscheinstrahlen glitzerten in den Thauperlen im Grase und spiegelten sich in dem Wasser des Bergbaches. Lauschend stand der Wassermüller mit seiner Frau am geöffneten Fenster. Da klang es vom Walde herüber klagender und wehmüthiger denn je und mit Thränen in den Augen drängte die Frau ihren Mann, zu ihrem Sohne zu gehen.

»Geh', Wassermüller, geh',« bat sie schluchzend, »und hol' den Friedel zurück.« Und schweigend folgte der Müller ihrer Bitte. Die Töne waren auch ihm in's Herz gedrungen.

Näher und näher schritt er auf einem Umwege dem Walde zu. Kein Ton entging ihm. Es war das alte, ihm bekannte Lied, aber es klang ihm jetzt so weich, so klagend und rufend, daß mehr und mehr die harte Rinde von seinem Herzen schmolz. Schon war er dem Gebüsch, aus dem die Töne erklangen, ganz nahe gekommen, da fing der Hofhund, der ihm unbemerkt nachgeschlichen war, laut an zu bellen.

Sofort schwiegen die Töne. Es rauschte im Gebüsch und als der Wassermüller schnell in den Busch drang, fand er Niemand. Vergeblich eilte er dem Entflohenen nach und rief ihm laut beim Namen. Nur das Echo seiner eigenen Stimme tönte ihm aus dem Walde zurück, sonst blieb Alles still ringsum.

In sich gekehrt und in Gedanken schritt der Müller zur Mühle zurück. Sein Herz war weich geworden, aber vergebens sehnte er sich jetzt nach seinem Kinde, das er im Zorne verstoßen hatte.

Von nun an schwiegen die Töne. Nur einmal glaubte die Müllerin in einer stürmischen, regnichten Nacht einige schwache Geigentöne durch das Brausen des Windes zu vernehmen, als sie aber das Fenster öffnete, hörte sie nur das Rauschen des Windes und Regens durch die Bäume.

 

Wiederum schien die Zeit ihre Allgewalt auf die Bewohner der Wassermühle auszuüben und die Arbeiten des Herbstes drängten das Andenken an den Friedel mehr und mehr aus der Erinnerung zurück. Ein neues Ereigniß lenkte indeß die Gedanken Aller wieder lebhaft auf ihn.

Als nämlich die Wassermüllerin eines Morgens früh in die Stube trat, fand sie einen an sie gerichteten Brief auf dem Tische liegen. Sofort erkannte sie an der Aufschrift des Friedels Hand und erbrach ihn. Er lautete:

 

Liebe Mutter!

Der Vater hat mich von Haus und Hof gejagt und ich kehre deßhalb nie wieder, und wenn er selbst käme, mich zu holen, denn ich könnte die Schande nicht ertragen, als Verstoßener wieder vor Euch zu treten. Ich habe es auch nicht nöthig, ich werde mich schon allein durchhelfen. Recht weh' thut es mir aber, daß ich nicht bei Dir, liebe Mutter, sein kann. Gesehen habe ich Dich mehre Male auf dem Kleefeld am Walde, auch die Susel, den Gottfried und den Vater habe ich gesehen, aber sprechen konnte ich Euch nicht. Du, liebe Mutter, sei meinetwegen unbesorgt, auch wenn Du nichts von mir hörst. Daß ich Deiner recht oft gedenke, sollen Dir diese wenigen Zeilen sagen.

Lebe wohl, liebe Mutter. Grüße die Susel und den Gottfried und auch den Vater, wenn er einen Gruß von mir nehmen mag.

Dein
Friedel.

 

Vor Thränen in den Augen vermochte die Frau den Brief kaum zu lesen. Schweigend saß sie da und dachte an ihr Kind und dessen Schicksal. Sie wäre so gern hinausgeeilt in den Wald, allein wo sollte sie den Friedel suchen und wenn sie ihn fand, durfte sie ihn zurück führen in das Haus, da ihr Mann ihm noch zürnte?

Als der Wassermüller in das Zimmer trat, reichte sie ihm den Brief dar, aber er sagte kein Wort darauf.

»Wie ist der Brief hiehergekommen?« fragte er endlich. Aber die Müllerin vermochte es ihm nicht zu sagen, und Niemand im Hause wußte etwas davon. Da fiel ihr Blick auf die Wand neben dem Ofen, wo des Friedels kurze Büchse hing, welche ihm einst sein Pathe geschenkt hatte. Auch die Büchse war verschwunden und aus den Fußspuren in dem halbgeöffneten Fenster schloß sie, daß der Friedel während der Nacht in dem Zimmer gewesen, sich seine Büchse geholt und den Brief selbst auf den Tisch gelegt hatte.

Das Herz der Mutter zitterte bei dem Gedanken, daß ihr Kind so nahe gewesen sei, aber sie verbarg ihre Erregung vor ihrem Manne. Es ward an dem Tage viel von dem Friedel geredet, nur der Wassermüller sagte kein Wort dazu. Er ging in das Feld, denn in seinem Herzen stieg es oft auf wie ein Vorwurf, daß er sein Kind verstoßen. Sein Sinn war indessen zu hart, um diesen Gefühlen vollen Raum zu geben oder sie gar zu zeigen.

Die Müllerin ließ nicht nach, sich im Geheimen nach ihrem Sohne zu erkundigen, – Niemand vermochte ihr eine Nachricht darüber mitzutheilen. Die Müllerknappen hatten gehört, er sei unter die Soldaten gegangen und das war Alles, was sie erfuhr. Ein Trost lag nicht darin für ihr Herz.


Wochen mochten vergangen sein. Gerüchte von häufigen und dreist ausgeführten Wilddiebereien im nahen Walde liefen um und gelangten auch in die Wassermühle.

Man sprach darüber, nahm aber kein näheres Interesse daran, denn Wildfrevel waren in der Gegend nichts seltenes. Da trat eines Morgens, als der Wassermüller mit seiner Familie in der Stube am Tisch saß, um den Morgen-Imbiß zu genießen, ein Landjäger in das Zimmer. Erstaunt und bestürzt blickten ihn Alle an, denn ein Landjäger war in der Wassermühle eine seltene Erscheinung. Gastfreundlich lud ihn der Müller zum Mitessen ein, ohne daß Jener es annahm.

»Das Gericht sendet mich zu Euch, Wassermüller,« sprach der Landjäger.

»Nun?« fragte der Wassermüller erstaunt.

»Ihr werdet wohl von dem Wildfrevel gehört haben,« erwiderte jener, »der in der letzten Zeit in dem königlichen Forst hier in der Gegend verübt ist. Vergebens haben wir dem Thäter nachgespürt, aber so viel wissen wir, daß Euer Sohn, den Ihr aus dem Hause gejagt, der Wilddieb ist.«

»Wer?« rief der Wassermüller heftig, indem er in die Höhe sprang.

»Euer Sohn.«

»Das ist nicht wahr! Mein Sohn ist kein Wilddieb!« rief der Müller noch heftiger.

»Es ist so, wie ich Euch sage,« entgegnete der Jäger. »Und da wir ihn heute aufsuchen sollen, so komme ich zu Euch, um Euch um den Aufenthalt Eures Sohnes zu fragen. Nennt ihn uns in Güte, das wird seine Strafe milder machen, als wenn wir ihn im Walde treffen.«

Der Wassermüller entgegnete kein Wort. Mit starren aus dem Kopfe getretenen Augen blickte er den Landjäger an.

»Macht schnell,« fuhr dieser fort, »denn schon sind acht andere Jäger auf dem Wege zum Forste, um den Wilddieb aufzusuchen.«

Immer noch blieb der Müller stumm.

»Wenn Ihr nicht wollt,« sagte endlich der Jäger unwillig, »so mag es kommen, wie es will. Ich habe mein Möglichstes gethan und es Euch mitgetheilt, denn sicher wißt Ihr um den Aufenthalt Eures Sohnes.« Er wandte sich ab, um das Zimmer zu verlassen.

»Mann, Landjäger!« rief der Wassermüller endlich mit vor Aufregung fast erstickter Stimme, indem er ihn am Arme zurückhielt. »Ist es wahr, was Ihr da sagt?«

»Es ist so, wie ich gesagt habe.«

»So will ich selbst den Buben mit aufsuchen helfen,« rief der Müller laut, nahm seine Büchse von der Wand und hing sie über die Schulter.

Vergebens sprang die Müllerin auf, um ihn zurückzuhalten, vergebens hingen Susel und Gottfried sich an seinen Arm, er riß sich gewaltsam los und schritt mit dem Jäger dem Walde zu. Lautes Weinen und Rufen der Seinen schallte hinter ihm her, aber er hörte es nicht, denn nur ein Ton klang in seinem Innern wider: Dein Sohn ist ein Wilddieb!

Als ob die Fährte eines Wildes im Forste aufgesucht werden sollte, so stellten sich die Jäger an und gingen suchend weiter. In dumpfem Sinnen, kaum seiner selbst bewußt, schritt der Wassermüller allein durch den Wald. Sein Auge starrte ohne zu sehen in den Wald, sein Ohr vernahm nicht, was um ihn vorging – »Dein Sohn ein Wilddieb, Dein Kind von Landjägern aufgesucht,« das war Alles, was er dachte.

Die so große, kräftige Gestalt des Mannes ging mit schwankenden Schritten weiter, denn es war ihm, als ob er hätte müssen in die Erde sinken vor Scham und Gram, und selbst der Gedanke, daß er ihn längst nicht mehr als Sohn anerkannt habe, daß er sein Kind nicht mehr sei, vermochte ihn nicht ruhiger zu stimmen. Er trug seinen Namen, er war von seinem Weibe geboren. Gebeugt und langsam ging der Wassermüller weiter, da stand plötzlich, als er um eine Waldecke bog, der Friedel vor ihm, die kurze Büchse über die Schulter gehängt. Betroffen blickten Vater und Sohn einander an. Ein Jeder wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Auge ruhte in Auge, und wild rollte das des Wassermüllers. Er wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihm. Endlich brach er los. »Schandbube!« rief er mit furchtbarer Stimme, »Schandbube!« und er schritt auf ihn zu, um ihn an der Brust zu fassen.

Unwillkürlich schob Friedel den Arm seines Vaters zurück, aber mit eiserner Kraft erfaßte ihn des Müllers Rechte am Halse. Er suchte sich der Hand zu entringen, sein Arm stieß an den Hahn seiner Büchse, sie entlud sich, laut hallte der Schuß im Walde wider, und der Wassermüller sank blutend nieder.

In Verzweiflung stürzte sich Friedel über seinen Vater. Er nahm dessen blutendes, entstelltes Haupt in seine Hände, er rief ihn laut bei Namen, beugte sich über ihn, – aber kein Lebenszeichen bemerkte er in dem regungslos daliegenden Körper. Da ergriffen ihn die Furien der Verzweiflung. »Vatermörder, Vatermörder!« hallte es ihm laut und schrecklich in's Ohr. Er sprang auf und stürzte fort.

Wohin? – Wohin der Fuß eines Wahnsinnigen, eines von Furien Verfolgten eilt, in die Weite, nur fort, fort!

Der Wassermüller war von den Landjägern bewußtlos und über und über mit Blut bedeckt in die Mühle gebracht. Er lag auf seinem Bette und seine Frau und seine beiden Kinder standen laut schluchzend neben ihm. Der Wundarzt hatte ihn soeben verbunden. Beide Augen hatte der schreckliche Schuß ihm geraubt. Aber wie es gekommen war, wußte Niemand. Die Jäger hatten ihn bewußtlos im Walde gefunden, seine Büchse lag neben ihm, und sie glaubten, durch eigenes Versehen sei das Unglück geschehen.

In heftigem Wundfieber lag der Kranke und wilde Bilder schienen ihm vorzuschweben. »Da ist der Bube – halt ihn, halt ihn! Mein Sohn ist ein Wilddieb, ein –oh!« rief er im Fieberwahn, und der schmerzvolle Ton, mit dem er diese Worte hervorstieß, drang Allen tief in's Herz hinein. Fortwährend sprach er in seinen Fieberphantasien von dem Friedel, er nannte ihn nicht anders als den Buben, und mit keinem Worte erwähnte er, daß sein Sohn das Unglück herbeigeführt habe.

Es war ein trauriger und schwerer Herbst und Winter für die Bewohner der Wassermühle. Der Müller genas nur sehr langsam. Das Augenlicht blieb ihm für immer verschlossen, und der zum Zorn geneigte, ungeduldige Sinn des Kranken fügte sich nur schwer und unter manchen Kämpfen in das unabwendbare Geschick der Blindheit. Hilflos wie ein Kind lag er da, mit sich und der ganzen Welt zerfallen, fand er nirgends Trost, und Alle, die sich ihm nahten, zog er in seine finstere Stimmung mit hinein.

 

Als der Wassermüller soweit wieder hergestellt war, daß er zum ersten Male an dem Stock und dem Arme seiner Susel in das Freie gehen konnte, schien die Frühlingssonne warm und mild. Veilchen blühten an des Bergbachs Rande und ihr Duft wehte wohlthuend dem Kranken entgegen. Auf dem Hofe stand der Wassermüller still.

Die stolze, kräftige Gestalt des Mannes stützte sich gebeugt auf den Stock. Er hob sein Antlitz zum Himmel empor, aber seine erblindeten Augen schauten nimmer das weite, tiefe Blau und die schneeweißen Wolken, die wie Duft in dem Aether schwebten. Seine Brust hob sich, er zog in vollen Zügen die milde Maienluft ein und streckte die Hand zum Himmel, als wollte er die Strahlen, die so erquickend und warm' auf sein Haupt schienen, herabziehen an sein Herz und seine Brust. Schweigend stand er da.

»Führ' mich in den Garten, zur Bank an dem Ufer,« sprach er endlich zu seinem Kinde, und das Mädchen geleitete ihn dorthin.

Das blinde Haupt an die Schulter des lieblichen Kindes gelehnt, saß er da. Der Bergbach rauschte und plätscherte zu seinen Füßen. Vögelein sangen in den Bäumen und Bienen umschwärmten ihn. Kein Wort kam über seine Lippen, aber sein Herz ward weich und mild wie die Blüthen zu seinen Füßen und über seinem Haupte an dem Apfelbaume.


Schnee deckte die Erde ringsum. Wiesen und Felder waren wie von einem weißen Tuche umhüllt und an den Bäumen glitzerte der Reif in Tausenden kleiner Krystalle. Stürmisch strich der Wind über die weiße kalte Fläche, wirbelte den Schnee in die Höhe und setzte ihn wieder ab an dem Fuße der Bäume und der Brüstungen der Gräben. Keine Spur, kein Weg, kein Fußtritt war in dieser endlosen Schneewüste zu erkennen, denn selbst die Fährten der Hasen und der leichte Tritt der Rehe wurden augenblicklich wieder durch den darüber hinfahrenden Schnee verweht und verschüttet. Alles war still ringsum. Die matten, letzten Strahlen der Abendsonne, welche noch die Gipfel der bereiften Bäume beschienen und von unzählig kleinen Prismen goldig und farbig zurückgeworfen wurden, vermochten in dem weiten groß artigen Naturgemälde keinen Lebenston wachzurufen.

Ein junger Bursch schritt durch den Wald unter den bereiften Bäumen dahin. Seine Kleidung war schlecht und zerrissen, und die durch die Kälte und Rauhheit des Windes hervorgerufene Röthe auf seinen Wangen hob die Bläße und die kummervollen Züge doppelt grell hervor. Seine großen blauen Augen starrten erschöpft und fast hoffnungslos in den Wald hinein. Keine Fußspur zeigte ihm den Weg, er war verschneit und verweht. Ermattet, mit schwankenden Schritten ging er weiter, und kaum vermochte die vor Kälte erstarrte Hand die Geige zu halten, welche er in derselben trug.

Da erblickte er durch die Bäume das Dach eines Gebäudes, einer Meierei, und freudig strengte er seine letzten Kräfte an, das Haus zu erreichen. Unbemerkt trat er durch die Thür desselben auf die Hausflur. Mit erstarrten Fingern ergriff er die Geige und spielte einen Tanz, aber kaum hatte er denselben begonnen, als ein Mann aus dem Zimmer trat und den Spieler mit erzürnten Blicken ansah.

»Bist Du nicht alt genug,« rief er ihm in barschem Tone entgegen, »Dir durch Arbeit Brod zu verdienen! Schämst Du Dich nicht, mit der Fiedel umherzulaufen und zu betteln! Freilich ist es leichter als zu arbeiten, aber Niemand sollte solch' einem Landstreicher einen Heller geben, dann würden sie sich schon zur Arbeit bequemen.«

Den Blick zur Erde gewendet stand der junge Bursch da. »Nur ein Stückchen Brod gebt mir, ich habe heute noch nichts genossen,« bat er mit flehend leiser Stimme.

»Nichts will ich Dir geben,« rief der Mann heftig, »nicht eine Rinde Brod, der Hunger mag Dir Lust zur Arbeit bringen. Jetzt pack' Dich aus meinem Hause, ich mag kein Bettelvolk darin dulden, ein Bursch wie Du kann arbeiten. Dein Vater hätte besser gethan, Dir die Holzaxt und Säge über die Schulter zu hängen statt der Fiedel.«

Schweigend, mit einem tiefen Seufzer, verließ der Bursch das Haus und trat wieder hinein in den Wald, wo der Wind den Schnee wirbelnd durch die Bäume trieb.

Eine kurze Strecke ging er schwankend weiter, aber mehr und mehr verließen ihn seine Kräfte, und erschöpft sank er auf der Wurzel eines Baumes nieder. Kummervoll stützte er den Kopf auf die Hand und Thränen rannen ihm über die erstarrten Wangen. Kein Laut kam über seine Lippen, aber in seinem Innern wogte es stürmisch auf und ab. War dies nicht der Fluch, den die Worte seines Vaters auf ihn herabgerufen, als er ihn aus dem Hause jagte? War dies nicht der Fluch seiner eigenen That? Des Vaters Worte waren an ihm in Erfüllung gegangen, – als Bettler ging er von Thür zu Thür, und seine Geige verschaffte ihm nicht so viel, daß er seinen Hunger zu stillen im Stande war.

Der Wind trieb den Schnee an seine Füße und begrub sie tiefer und tiefer. Er empfand es nicht, seine Gedanken weilten weit, weit im Elternhause. Dort sah er im Geiste seine Geschwister in warmer Stube – wenn er jetzt zu ihnen zurückkönnte, er würde ja gern arbeiten. – Dieser Gedanke, diese Hoffnung schien ihn wieder zu beleben und er richtete den Kopf in die Höhe.

»Darf ein Vatermörder in das Vaterhaus zurückkehren!« schallte es ihm in's Ohr und kraftlos sank sein Haupt auf die Brust zurück. – Der Sturm heulte hohl und stürmisch durch den Wald, und wirbelnder Schnee deckte Haupt, Füße und Körper des verstoßenen Friedels, denn dieser war es. Er empfand es nicht, wie ein Leichentuch umhüllte ihn der Schnee. Er schien zu schlafen und zu träumen. Vielleicht weilte er daheim im Kreise seiner Lieben, noch ein Kind, unschuldig und glücklich. Vielleicht durchlebte er im Traume noch einmal das Elend und die Noth der letzten Wochen und Monde, wo er als ein Verstoßener und Verbannter umhergeirrt war, verfolgt und rastlos getrieben von den Furien seines Gewissens. Weit, weit war er von den Seinen entfernt und keine Nachricht von ihnen hatte ihn erreicht. Kein Lächeln war wieder in sein Gesicht gekommen, und noch kein einziges Mal hatte er sein Haupt ruhig niedergelegt, er kostete des Lebens Kummer und Noth.

Die winterliche Sonne hatte längst die Erde verlassen und still und bleich schien der Mond durch die bereiften Bäume. Der Sturm hatte nachgelassen, es war Alles still im Walde, selbst das Herz des regungslos dasitzenden Friedels. Ein Wagen rollte durch den Schnee daher und nur ein Zufall war es, daß der im Wagen sitzende Mann die mit Schnee verhüllte Gestalt Friedels bemerkte. Er stieg aus, rüttelte den Erstarrten, und als dieser kein Lebenszeichen von sich gab, hob er ihn still in den Wagen und schnell rollte dieser weiter.

Stunden waren vergangen, ehe es im Wirthshause des nächsten Städtchens gelang, den Erstarrten in's Leben zurückzurufen. Lange Zeit blieben alle angewandten Mittel erfolglos. Endlich fing das Herz des Erstarrten leise, langsam wieder an zu pochen, er schlug die Augen auf und blickte erstaunt um sich. Fremde Gesichter schauten ihm entgegen, aber zum ersten Male seit Monden sah er wieder ein Auge mild und tbeilnahmsvoll auf sich gerichtet und dieser einzige milde Augenstrahl erwärmte sein Herz schneller als alle Mittel.

Es war ihm wohl und leicht um's Herz. Es war ihm, als ob er soeben aus einem schönen duftigen Heimatsleben erwacht sei. Er versuchte sich in die Höhe zu richten, aber kraftlos sank er auf sein Lager zurück. Sein Blick fiel auf die neben ihm liegende Geige und jetzt erst stieg die Erinnerung an die Wirklichkeit langsam in ihm auf.

Als er sich etwas erholt hatte, erzählte er seinem Erretter sein ganzes trauriges Lebensgeschick. Die treuherzigen einfachen Worte des Jünglings gewannen das Herz des Mannes und er erklärte sich bereit, ihn mit nach Paris zu nehmen, wohin zu reisen er im Begriff war. Dort wollte er für ihn sorgen. Freudig ging Friedel darauf ein, ihn fesselte ja nur noch ein Band an seine Heimat – die Erinnerung. –

 

Ein neues Leben begann nun für Friedel als er in Begleitung und als Diener seines Erretters Paris erreicht hatte. Die Großartigkeit der Stadt und des Lebens in ihr berauschte seinen Geist. Die Neigung seines Geistes, welche sich bisher in dem stillen ländlichen Leben nur in einigen schwachen spielenden Regungen gezeigt hatte, trat unter so gewaltigen Eindrücken immer entschiedener und kräftiger hervor. Er verstand sie indeß doch nicht. Ein unbezwingbarer innerer Drang trieb ihn, sich heraus zu reißen aus dem Leben, welches er bis dahin eingenommen, es zog ihn und trieb ihn nach einer höheren Stufe; aber unbestimmt schwebte ihm das Ziel derselben vor.

Seine Stellung als Diener in dem Hause seines Erretters war eine so angenehme, als er sich nur wünschen konnte, aber dennoch befriedigte sie ihn nicht, weil sie seinem innern Drange nicht die geringste Nahrung gab.

Seine Geige ruhte wochenlang, er hatte nicht Zeit und nicht Raum sie zu spielen. Niemand hörte ihm zu.

Ueber ein Jahr war er unter solchen Verhältnissen und Eindrücken im Dienste seines Erretters, als ihn der Zufall in die große Oper führte. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er im Theater war und solche Musik hörte, wie sie ihm hier in der Oper entgegentönte. Ward schon sein Auge durch die Pracht geblendet, die er in diesem Hause erblickte, stockte schon sein Athem vor staunender Erwartung, so ward seine Aufregung auf das Höchste gesteigert als die Musik begann. Es ward der »Freischütz« gegeben. Schon die Ouverture hatte ihn auf das Mächtigste ergriffen. Schweigend, regungslos, mit angehaltenem Athem saß er da und lauschte den Tönen, die einen wunderbaren nie gefühlten und nie geahnten Widerklang in seinem Innern fanden. Das Interesse für alle Pracht, für alles Neue, für die ganze Darstellung schwand seinem Auge, er lauschte nur der Musik und durch sie ward er in eine Welt hinüber getragen, die er zuvor nie geahnt.

Als die Vorstellung beendet war, als die Musik schwieg und die Menschen bereits sämmtlich das Haus verlassen hatten, saß er noch regungslos da. Für ihn war die ganze Welt ringsum erstorben. Er träumte und lebte in einer hohen schönen Welt, in welche er tiefer und tiefer eingeführt wurde, in der er gleichsam die erste Geistes- und Seelenweihe empfing.

Der Diener des Opernhauses rüttelte ihn aus seinem Traumleben wach. Er schaute zurück in die Wirklichkeit und erschrak vor der Nüchternheit, die ihm hier überall entgegentrat. Er eilte heim. Angekleidet warf er sich auf das Bett und fiel auf's Neue in sein Traumleben zurück. Die Töne und Melodien klangen immer und immer in seinem Ohre wider, neue Töne und neue Melodien reihten sich daran und rissen ihn weiter und immer weiter.

Kein Schlaf senkte sich auf seine Augen und als die Morgensonne in sein Zimmer leuchtete, lag er noch in demselben wachen Traume. Aber Eins hatte er gewonnen und errungen: er war sich seines Zieles bewußt geworden, er hatte den Drang seines Geistes verstehen gelernt, er wußte: Musik, Musik war seine Lebensaufgabe.

Nur das eine Ziel hatte er im Auge. Er sah nicht, wie unendlich weit er von diesem Ziele entfernt war, er fragte nicht nach Mühen und Kämpfen, die sich vor ihm aufthürmten. Das Leben hatte nur noch den einen Zweck und Reiz für ihn, jenes Ziel zu erreichen. Eine wunderbare Festigkeit und Entschlossenheit hatte plötzlich sein ganzes Wesen ergriffen. Er schrieb seinem Erretter und Herrn mit wenig Zeilen, daß er ihn verlassen müsse und dankte ihm für seine Güte. Dann eilte er hinaus aus dem Hause, und erst als er auf der Straße war, als er frei, frei zum blauen Himmel emporblickte und durch Nichts sich mehr gebunden fühlte, da ward es ihm leichter. Der frische Morgen kühlte ihm die fieberhaft erhitzte Stirn, die Sonnenstrahlen lachten ihm freundlich entgegen und Alles ringsum schien ihm zuzurufen: Jetzt auf, frisch auf, deinem Ziele entgegen!

»Auf, frisch auf, deinem Ziele entgegen!« wiederholte er später oft sich selbst, wenn seine Kräfte ermatteten und sein Muth zu sinken begann, denn sein Entschluß hatte eine schwere, schwere Prüfungszeit zu überwinden. Erst als er sein Ziel näher in's Auge faßte ward er gewahr, wie unendlich hoch und weit es lag, erst als er ruhiger wurde, begriff er die unendlichen Schwierigkeiten, welche sich ihm ohne Mittel und Freunde überall entgegen drängten. Aber auf, frisch auf! war sein Losungswort geworden und mit ihm überwand er alle die Sorgen und Mühen, welche ein Genie durchzukämpfen bat, das allein, verlassen und mittellos seinem Ziele entgegenstrebt.

Jahrelange Noth und Mühen führten ihn nur unmerkbar weiter, aber er ließ nimmer nach. Schritt für Schritt kämpfte er dem Geschicke ab, und Stufe auf Stufe rang er sich empor, bis er nach langen Jahren dastand auf dem Gipfelpunkt seines Zieles und mit einem wehmüthigen Lächeln auf die mühevolle Bahn hinter ihm zurückschaute.

Das ist das Geschick manches großen Geistes. Um das sich gesteckte Ziel zu erreichen, müssen sie die schönsten Jahre und Kräfte ihres Lebens zum Opfer bringen. Und haben sie es endlich erreicht, bleibt ihnen kaum so viel Kraft, sich desselben zu freuen. Sie gleichen dem Wanderer, der früh morgens ausgeht, einen Berg zu erklimmen, und nicht Mühe und Gluth der Sonnenstrahlen achtet. Hat er den Gipfel endlich erreicht, so sendet ihm die scheidende Abendsonne kaum noch so viel Strahlen, um einen flüchtigen Blick zurück in's Thal zu werfen.

Alles, was Friedel einst so sehnlichst gewünscht, das hatte er nun erlangt: Ruhm, Ehre, Geld: Tausende von Menschen entzückte und begeisterte er durch die Töne seiner Geige, aber alle diese Tausende vermochten ihm nicht eine einzige frohe Minute zu geben. Zwar ward er für den Augenblick durch die Musik mit hingerissen und begeistert, aber wenn diese Begeisterung wich, war sein Herz öde und leer. Er stand allein und verlassen in der Welt. Aus seiner Heimat hatte er nur die Erinnerung sich bewahrt, und von Tag zu Tag ward diese lebhafter in ihm. Er sehnte sich zurück zu seinen Lieben, zu der Stille der Wassermühle. All seine Ehre, sein Ruhm, sein Geld konnten ihm nicht die Ruhe und das Kindheitsglück schaffen, das er so oft empfunden, wenn er an dem Bergbach saß und auf sein Rauschen und Plätschern hörte, wenn er hineinschaute in das klare Wasser, dessen vorüberziehende Wellen stets neue Bilder in seiner Seele wachriefen.

Trauriger und trauriger ward seine Seele. Aller Glanz und alle Pracht ekelten ihn an. Unter all den Tausenden von Augen, welche oft auf ihn gerichtet waren, blickte doch kein einziges Mutterauge auf ihn, und unter all den vielen Herzen war kein einziges, an welches er sich hätte vertrauungsvoll werfen können. Er sehnte sich heim, und dennoch fürchtete er sich in das Haus zu treten, dessen Vater durch seine Hand und Schuld gestorben. Endlich siegte die Sehnsucht über die Schuld, denn sein Herz war ja unschuldig. Er eilte fort aus der Stadt, in der er so viel Noth und Sorgen, so viel Ehre und Ruhm erlebt hatte, um heimzukehren in die Stille, wo allein er glücklich gewesen war, – in das Vaterhaus.


Achtzehn Jahre waren verschwunden; schwere und verhängnißvolle Jahre für die Familie des Wassermüllers.

Wieder war Lenzeszeit. Apfel- und Birnbaum standen in voller Blüthenpracht und Veilchen blühten an des Bergbachs Rande. Blumen schmückten Garten und Wiesen und die Maiensonne schien wohlthuend und warm. Der Bergbach floß rauschend und plätschernd über den Hof der Wassermühle, der Himmel war noch so weit und blau wie einst, das duftige frische Grün des nahen Waldes blickte lockend über die Wiesen, Vöglein flogen hin und wieder und sangen in den Bäumen wie vor Jahren – aber welche Veränderung war in dem Zeitraume von achtzehn Jahren in der Wassermühle eingetreten. Die Mühlräder und Ställe waren in demselben zerfallenen Zustande wie das Haus, und Regen und Wind drang durch das beschädigte Dach und die zerbrochenen Fensterscheiben. In der Mühle, wo einst so reges Leben geherrscht hatte, war Alles still, und fast schien es, als ob seit Jahren kein menschlicher Fuß sie betreten hatte. Noch wohnte aber der blinde Wassermüller mit seiner Frau darin.

Es war Sonntag. Der Wassermüller saß mit seiner Frau auf der steinernen Bank vor der Thür im Sonnenschein, wo sie einst in glücklichen Tagen so oft gesessen; aber die glücklichen Tage waren längst vorüber. War diese so hinfällige, gebeugte Gestalt, die den Kopf auf einen Stab gestützt dasaß, die einst so kräftige, starke Figur des Wassermüllers? Hatte der Zeitraum von achtzehn Jahren allein in das Gesicht des Mannes und der Frau so tiefe Furchen gegraben? Hatten die Jahre allein ihre Haare so schneeweiß gebleicht und ihren Nacken so tief gebeugt? – Was die Jahre nicht gethan, hatten Gram und Kummer vollendet.

Auf dem Friedhof des nächsten Kirchdorfes waren zwei Grabhügel neben einander. Epheu hatte sich um die Hügel gewunden, und auf einem Steine darüber standen die Namen beider, welche unter den Hügeln ruhten. Unter dem einen lag die lustige Susel und der andere deckte die Gebeine Gottfrieds. Einem Nervenfieber waren beide in einem Winter vor Jahren erlegen, und verlassen und kinderlos stand nun der Wassermüller mit seiner Frau da. Um ihre trauernden Herzen hatte sich kein Epheu geschlungen wie um die Hügel auf dem Friedhofe. Die Wunde, welche ihnen durch den Tod der blühenden Kinder geschlagen war, vernarbte nimmer. Zeit und Trost blieben wirkungslos für die so schwer Heimgesuchten, für die Kinderlosen.

Von dem Friedel war keine Nachricht wieder in die Wassermühle gedrungen. Der Müller sprach nie von ihm, und nur in dem Mutterherzen war das Andenken an das Lieblingskind und die Hoffnung, es einst wiederzusehen, noch nicht erlöscht.

Das Unglück hatte sich auf das Haus des Wassermüllers gehäuft. Mißwachs, Krankheit und seine Blindheit hatten sein Vermögen aufgezehrt und die Mühle mit Schulden belastet. Aber ihn kümmerte es nicht, mochten die Räder ruhen, mochte die Mühle zerfallen, mochte der Acker unbebaut liegen, er stand ja allein, ohne Erben in der Welt da. Wenn nur so viel übrig blieb, um seinen und seiner Frau Leichnam zu bestatten; und lange konnten ja die alten Gebeine nicht mehr auf der Erde umhergehen. Die alten Herzen sehnten sich nach Ruhe. Wenn sie auf dem Friedhofe neben ihren Kindern lagen, dann war ja Alles vorbei, Schmerz und Trauer, selbst die Erinnerung an bessere Tage.

Solche Erinnerungen lebten aber dann und wann recht lebhaft in ihnen auf, und die Vergangenheit mit ihren glücklichen, sorgenlosen Zeiten schien ihnen dann wie ein Traum, und kaum vermochten sie es sich zu denken, daß auch ihr Herz einst freudig und glücklich geschlagen hatte.

Solchen Gedanken hing der Wassermüller nach, als er mit seiner Frau vor der Thüre saß.

»Hätte es nimmer geglaubt, Gertrud,« sprach er,»daß wir einst arm und verlassen auf den Friedhof getragen werden würden, daß Niemand uns die Augen zudrücken und daß meines Vaters Erbtheil in fremde Hände kommen werde. Ich hätte es nimmer geglaubt.«

»Die Susel ist hinübergegangen und der Gottfried ist todt,« fügte die Frau, ihren Mann gleichsam ergänzend, hinzu, indem eine Thräne über ihre Wange rann. »Ob der Friedel noch lebt, weiß Gott allein. Ich würde mich ruhig in's Grab legen, wenn ich ihn noch einmal gesehen hätte.«

»Ich mag ihn nimmer sehen,« fiel der Wassermüller ein. »Aus meiner Hand würde er auch die Mühle nie empfangen, denn er ist mein Sohn nicht mehr. Möchte lieber die Mühle bei meinen Lebzeiten an fremde Menschen verkauft werden.«

»Sei nicht unversöhnlich, Wassermüller,« entgegnete die Frau mit ruhiger, sanfter Stimme. »Es ist lange her, und der Friedel ist vielleicht lange todt. Mir kommt oft der Gedanke, daß uns Gott deßhalb so hart gestraft hat, weil Du ihn fortgejagt. Siehe, er war unser Kind so gut wie die Susel und der Gottfried, er hatte kein böses Herz – nun hat uns Gott die beiden anderen Kinder auch genommen.«

»Schweig' von dem Buben,« rief der Wassermüller heftig. »Meine Augen sind lange erblindet, ich möchte gern in meinem Leben noch einmal Gottes Werke schauen, aber wenn Gott mir das Augenlicht wiedergeben wollte, um den Buben wiederzusehen – ich wollte lieber in Blindheit in's Grab fahren.«

»Wassermüller, Wassermüller!« unterbrach ihn die Frau. »Wie kannst Du Deinen eigenen Kinde so zürnen? Wie kannst Du Dein eigen Fleisch und Blut verdammen, nur weil es Deinem Wunsche nicht gefolgt ist?«

»Weil es meinem Wunsche nicht gefolgt ist?« wiederholte der Müller fragend. »Glaubst Du deßhalb zürne ich dem Buben? Bin ich so hart, daß ich ihm das nicht längst vergeben haben würde? Hier, hier, sieh meine Augen, wo sind sie, wer hat sie mir geraubt?«

Die Müllerin blickte ihren Mann erstaunt und fragend an.

»Sieh, die Augen schmerzen, das Augenlicht ist die schönste Gottesgabe,« fuhr er fort. »Sie hat er mir geraubt, und nicht blos nach meinen Augen, selbst nach meinem Leben trachtete er, als er die Büchse auf mein Haupt gerichtet.«

»Du irrst, Du irrst, Du thust Deinem Kinde Unrecht,« rief die Frau erschrocken. »Durch Dein eigenes Versehen hast Du die Augen eingebüßt.«

»Bis jetzt habe ich Dich in dem Glauben gelassen,« erwiderte der Müller. »Ich mochte mein Kind nicht Vatermörder nennen, schlimm genug, daß er es ist.«

»Nein, nein,« rief die Frau laut, »das kann nicht sein, das hat mein Friedel nicht gethan. Hier im Herzen sagt mir eine Stimme, Dein Kind ist unschuldig.«

»Bin ich schwachsinnig geworden, daß ich nicht mehr weiß, was ich rede!« entgegnete der Wassermüller heftig. »Noch habe ich, Gott sei Dank, meinen Verstand nicht verloren, noch weiß ich, daß er seine Büchse auf mich gerichtet hat, aber ich weiß auch, daß ein Gott im Himmel lebt, der solch' ein Vergehen nicht ungestraft läßt. Mag er kommen, der Bube, seit Jahren habe ich darauf gewartet, mein Fluch soll sein Willkommen, mein Fluch sein Erbtheil sein.«

»Wassermüller!« rief die Frau laut schluchzend, indem sie die Hand ihres Mannes ergriff. »Fluche Deinem eigenen Fleische nicht, Menschen können irren, Gott allein weiß, wer schuldig ist.«

»Gott weiß es,« wiederholte der Wassermüller mit ernster Stimme.

Ein Wagen rollte in diesem Augenblicke auf den Hof der Wassermühle und hielt vor dem Hause still. Ein feingekleideter, hochgewachsener, schöner Mann stieg aus und grüßte sich verbeugend. Er schwieg und sein Auge ruhte mit Schmerz und Freude zugleich auf dem blinden, greisen Haupte des Müllers und auf dem tiefdurchfurchten, kummervollen Antlitze der Frau.

»Seid Ihr der Wassermüller?« fragte der Fremde mit ergriffener Stimme.

»Der bin ich, was ist Euer Begehr?« entgegnete der Greis ruhig.

»Ich habe vernommen, daß Ihr die Mühle zu verkaufen gesonnen seid, und komme, Euch ein Angebot darauf zu machen.«

»Ich verkaufe die Mühle nicht,« entgegnete der Müller mit Bestimmtheit, »sie ist mein väterliches Erbtheil und in ihr will ich sterben.«

»Ich würde den Besitz erst nach Eurem Tode antreten,« erwiderte der Fremde, »Ihr könnt hier ruhig leben, so lange Ihr wollt.«

Der Wassermüller schüttelte sein Haupt. »Ich mag mein Erbtheil nicht an einen Fremden verkaufen,« sprach er. »Bin ich todt, dann mag es hinnehmen wer will.«

»Habt Ihr keine Kinder?« fragte der Fremde weiter.

»Meine Kinder sind todt.«

»Man hat mir gesagt,« fuhr der Fremde fort, »Ihr hättet noch einen Sohn, der in der Fremde weile.«

»Ich habe keine Kinder mehr,« entgegnete der Wassermüller.

»Wir haben seit langen Jahren nichts von unserm Sohn gehört,« fügte die Frau berichtigend hinzu.

»Ich habe keinen Sohn mehr,« wiederholte der Müller nochmals mit lauter, ernster Stimme.

»Euer Sohn kann aber noch am Leben sein; kann wiederkehren zu Euch in's Vaterhaus; würdet Ihr ihn dann nicht als Euer Kind aufnehmen?« fragte der Fremde, indem er mit Gewalt seine innere Bewegung zurückdrängte.

Das Auge der Müllerin hing forschend und ahnend an dem Munde des Mannes, aber der Wassermüller sprach ernst: »Nie, nimmermehr, er ist mein Kind nicht mehr, ich habe nichts mehr mit ihm gemein!«

Der Fremde vermochte seine Bewegung nicht länger mehr zurückzuhalten, und im tiefsten Schmerze bedeckte er mit der Hand seine Augen.

Mit fieberhafter Spannung blickte die Frau ihn an.

Ihr Athem stockte, ihre Gestalt war vorn übergebeugt. Da traf sie das große feuchte Auge des Fremden. Sie kannte diesen Blick, dieses Auge, sie kannte dieses schmerzvolle Lächeln in seinem Angesicht, sie ahnte – sie fühlte, und mit dem lauten Schrei: »Mein Kind, mein Friedel!« stürzte sie an seine Brust.

»Ich bin es,« rief der Mann schluchzend, indem er die geliebte Mutter in seinen Armen hielt. »Ich bin es, meine Mutter, Dein Friedel.«

Der Wassermüller, dessen erblindete Augen weder die Gestalt seines Sohnes, noch die ahnende Spannung seiner Frau erblickt hatten, der nur den Ausruf: Mein Kind, mein Friedel und des Friedels Worte gehört hatte, war auf das Höchste bestürzt. Langsam. schweigend erhob er sich von der Bank, in seiner ganzen Länge stand er da, seine Stirnadern waren geschwollen, das Blut war ihm in die Wangen gedrungen und den Stab hatte er hoch erhoben.

Er rang nach Athem, nach Worten.

»Schandbube, Vatermörder!« brach er endlich mit furchtbarer Stimme los, – »mein Fluch!« –

Friedel stürzte in die Arme des Vaters und mit seinem Munde schloß er dessen Lippen, ehe sie die schweren Worte zu vollenden vermochten.

»Vater, mein Vater!« rief er, indem er mit seinen Armen des Greises Hals umschlang. »Ich bin unschuldig – unschuldig!«

»Unschuldig?« fragte der Müller, »Unschuldig, Du Bube?«

»Gott ist mein Zeuge,« erwiderte Friedel, indem er den blinden Greis fest an sein Herz preßte, »Gott ist mein Zeuge, es war nicht meine Schuld!«

»Du hast die Büchse auf mich gerichtet, Du hast mir nach dem Leben getrachtet!« rief der Wassermüller.

»Nein, nein, mein Vater, Gott weiß es, daß ohne meinen Willen – ohne meine Schuld das Unglück geschehen ist, und ich habe es schwer – schwer gebüßt. Wochenlang bin ich verzweiflungsvoll umher geirrt, jahrelang hat mir der Ruf: ›Vatermörder!‹ im Ohre widerhallt, weil ich glaubte, Du wärest gestorben. Ich habe es schwer gebüßt – vergib mir, mein Vater, was nicht meine Schuld war!«

Flehend hatte er diese Worte gesprochen und der Müller schien in seinem Entschlusse zu schwanken. Da trat auch seine Frau zu ihm, erfaßte seine Hand und bat: »Vergib ihm, er ist unschuldig!«

»Ist es wirklich wahr?« fragte der Müller, »daß Du nicht nach meinem Leben getrachtet?«

Und als Friedel noch einmal seine Unschuld betheuerte, rief der Greis freudig: »Nieder, nieder, mein Sohn, auf Deine Kniee, daß ich Dir meinen Segen gebe, denn der Eltern Segen baut den Kindern Häuser.«

Friedel kniete nieder und über ihm gebeugt stand die hohe Gestalt des Greises. Seine Hände ruhten segnend auf dem Haupte seines Sohnes. Sein blindes Haupt hatte er zum Himmel erhoben und seine Lippen bewegten sich im Gebet. Er flehte die Gnade und den Segen Gottes auf sein Kind herab.

Schluchzend kniete die Mutter daneben. Sie vermochte kein Wort zu sprechen, aber jeder ihrer Gedanken, jede ihrer Thränen war ein Gebet, ein Segen für ihr Kind. Schweigend, aber mit einem verklärten Glück im Angesicht saß die Müllerin neben ihrem Sohne, dessen Rechte in ihren Händen haltend. Ihr Auge hing an seinen Augen – es waren noch die alten lieben, offenen Augen.

»Nun können wir ruhig sterben,« sprach sie zu ihrem Manne und der Wassermüller nickte mit dem Kopfe. »Wenn die Susel und der Gottfried nur noch am Leben wären,« fügte er hinzu, »so würde ich nimmer meine blinden Augen beklagen – doch ich will nicht klagen, die Freude über einen verlorenen und wieder gefundenen Sohn ist groß.«

Friedel mußte nun sein Geschick, seine Leiden und Sorgen erzählen und schweigend, gerührt hörten die beiden Alten ihm zu. Der Mutter Auge glänzte vor Freude und Stolz, als er von seinem Ruhm, von seiner Ehre, die er durch sein Geigenspiel errungen, erzählte. Aber der Wassermüller schwieg.

»Ich habe mich getäuscht,« sprach er endlich, »Deine Geige hat Dir Geld und Ruhm gebracht, ich hätte es nimmer geglaubt. Aber hast Du auch das stille und ruhige Glück gefunden, welches Dir zu Theil geworden wäre, wenn Du hier geblieben und Müller geworden wärest? Wenn Du ein Weib genommen und jetzt Deine Kinder auf den Knieen wiegtest? Hast Du wirklich da draußen unter den Menschen ein solches Glück gefunden?«

Mit einem wehmüthigen Blicke schaute Friedel zur Erde.

»Mein Vater!« entgegnete er, »glücklich habe ich mich nicht gefühlt seitdem ich die Mühle hier verlassen. In allem Glanze, in aller Pracht fehlten mir Herzen wie die Euren, von Tausenden von Menschen umringt fühlte ich mich allein und verlassen. Und oft, recht oft habe ich mich gesehnt, als Müllerknappe in meinem Vaterhause zu sein, am Bergbach hier zu stehen und hinein zu schaun in sein klares Wasser, wie ich es als Kind so oft gethan – aber jetzt bleibe ich bei Euch, hier bei Euch will ich ausruhen, hier will ich sterben. Die große Welt mit ihren Freuden hat ihren Reiz für mich verloren, denn sie vermag nimmer und nimmer die Freuden zu geben, welche allein im Vaterhause blühen.«

 

Als Friedel am Abend zur Ruhe gegangen war, als er allein war in der alten, ihm so wohl bekannten Kammer, wo er schon als Knabe geschlafen, als er sein Haupt in die Kissen barg, um die erste Nacht seit vielen Jahren wieder unter dem väterlichen Dache zu ruhen, da zog sein ganzes vergangenes Leben wie ein Traum an seinem Geiste vorüber. War er wirklich fort gewesen in der Fremde? Hatte er wirklich das Alles erlebt, was sein Gedächtniß ihm zurief? War er wirklich länger denn achtzehn Jahre aus diesem Hause entfernt gewesen, wo noch Alles so heimatlich ihm entgegenlachte, als ob er es gestern erst verlasen? Dort an dem Balken hing noch das alte Vogelbauer, welches sein Großvater ihm geschnitzt, in welchem er so manchen Finken und so manche Drossel gefangen gehalten; dort hing noch das alte Bild mit den lustigen dicken Figuren – wie oft war er als Kind darvorgestanden und wie oft war ihm dies Bild in seiner Erinnerung wieder aufgetaucht. Dort stand noch der alte eichene Schrank mit seinen großen Löwenfüßen, dort war noch derselbe Fleck an der Wand, dort – es war noch Alles wie einst vor Jahren! –

Und wenn sein Blick wieder in der Vergangenheit weilte, wenn er sich erinnerte, was er geduldet und gelitten, wie oft er sich zurückgesehnt in dieses stille Haus, in diese trauliche Kammer, und jetzt war er darin! – Aber war nicht vielleicht Alles weit, weit entfernt und träumte er nur? Er strich sich mit der Hand über die Stirn, er begriff die Wirklichkeit und ein freudiges Zittern durchzuckte seine Seele.

Wie süß, wie ruhig ruhte es sich im Vaterhause! Wie war hier Alles so still! wie lugte der Mond so zutraulich durch die kleinen Fenster, wie war es doch schöner hier als aller Glanz der großen Welt! Lieblichere und lieblichere Bilder umhüpften ihn, bis der Gott des Schlafes ihn fest in seine Arme drückte und an seinem Herzen warm und sicher hielt.

Als aber der Friedel entschlafen, als Alles still geworden war, da fing es an sich in der alten Mühle leise, leise zu regen und hinter den alten Rädern und Pfeilern tauchten Gestalten hervor und schlüpften leise über die bestaubten Steine. Es waren die Hausgeister der Wassermühle, die lange Zeit trauernd und gebannt in ihren Schlupfwinkeln gesessen.

»Er ist wiedergekehrt, er ist wiedergekehrt, der Friedel, der Sohn des Hauses,« riefen sie einander zu, und »er ist wiedergekehrt, er ist wiedergekehrt,« flüsterte es hinter den Steinen, hinter den Rädern, in der Mühle, auf der Hausflur.

Und ein reges Leben herrschte in der alten Mühle. Die Räder fingen an sich zu drehen, die Mühlsteine liefen um und die kleinen mehlbestaubten Geister liefen geschäftig einher. Er ist wiedergekehrt hallte es in allen Winkeln und Ecken wider, und die Hausgeister schlichen die Treppe hinan, öffneten leise die Thür zu Friedels Kammer und traten freudig heran an das Bett, in welchem der Sohn des Hauses, der Erstgeborne schlief.

Schweigend blickten sie ihn an, und die Furchen, welche auf seiner Stirn und seinen Wangen eingegraben waren, glätteten sie mit weicher Hand und die Haare strichen sie ihm von der Stirn. Glücklich lächelte das Gesicht des Schlummernden und die Hausgeister hielten ihre Hände segnend über ihn, denn dies war noch das sorglos unschuldige Gesicht des alten Friedels. Dies war seine freie, offene Stirne und das alte heit're Lächeln, welches um seine Lippen spielte. Jahre, lange Jahre waren entschwunden, aber den Sohn des Hauses erkannten sie alle wieder.

Schützend, spielend weilten sie neben dem Bett und und erst als die ersten Strahlen der Morgensonne sich goldig an die Decke des Zimmers lagerten, schlichen sie wieder hinab in der Mühle, um das Haus zu schützen, dessen Sohn wiedergekehrt! –


Ein neues Leben begann nun in der Wassermühle. Die Schulden waren bezahlt, das Haus und die Ställe wurden wieder hergerichtet, die Räder gingen wieder lustig um und drinnen in der Mühle erschallte das heitere Lachen der Mühlknappen. So heiter und geschäftig war es kaum in des Wassermüllers besten Jahren gewesen und in diesem Treiben schien der blinde Greis wieder frisch aufzuleben und Jugendkräfte zu erlangen. Seine größte Freude bestand darin, dem Treiben der Arbeiter, dem Klappern der Mühle und dem Rauschen der Mühlräder zu lauschen.

Auch Friedel fand an diesem geschäftigen Leben Vergnügen. Er ordnete und leitete Alles, legte überall selbst Hand mit an, sah seine Schöpfungen rasch und schnell heranwachsen und die stille Freude, welche ihm aus den Augen seiner Mutter entgegenlachte, machte ihn glücklicher, als früher alle Ehrenbezeigungen, welche ihm zu Theil wurden.

Seine Geige ruhte. Anfangs war er zu beschäftigt und sehnte sich nach Ruhe, und als er sie wieder hervornahm und spielte, bemerkte er, wie unangenehm seinem Vater die Töne waren. Jeder Ton schien tief in sein Inneres zu dringen und alle trüben Erinnerungen aus einer früheren Zeit wach zu rufen.

»Laß die Geige ruhen,« bat der Alte, »ich denke, Du hast in Deinem Leben genug gefiedelt, Du hast es nicht mehr nöthig. Sieh, wenn die Mühle geht und klappert, wenn der Bergbach rauscht und die Räder treibt, das klingt ganz anders, da wird mir's wohler und leichter um's Herz, denn da weiß ich, daß ein nützlich Werk geschieht.«

Friedel mochte seinem Vater nicht widersprechen, er fühlte, daß er ihm für den Verlust seiner Augen ein Opfer schuldig sei, und still legte er die Geige bei Seite.

Anders war die Müllerin. Sie verstand, sie begriff ihr Kind. Ihr war es der höchste Genuß, wenn sie still dasitzen und den Tönen von Friedels Geige lauschen konnte.

Dann blickte sie ihm in die Augen, und die Begeisterung für die Musik, die sich darin aussprach, theilte sich auch ihr mit. Dann sprach sie lächelnd: »Sieh, Friedel, ich bin eines Musikanten Kind, da habe ich vom Vater den Sinn für Musik geerbt. Ich weiß und verstehe zwar nicht, was Du spielst, es ist mir zu hoch, aber ich fühle doch, wie schön es ist, und begreife, wie Dich die Musik zu begeistern vermag. Ich habe es längst gewußt, daß Du ein Musiker werden würdest, denn schon als kleiner Bub, als Du noch in der Wiege lagst und noch nicht gehen konntest, hattest Du die Augen weit offen und hörtest zu, wenn Dich mein Vater mit seiner Geige in den Schlaf spielen wollte. Schon damals wußte ich es und ich habe es oft zu meinem Vater gesagt.«

Solche glückliche Stunden kamen aber nur höchst selten für die Frau, denn Friedel spielte nur, wenn sein Vater zuweilen auf das Feld ging und es nicht hören konnte.

Ruhig und glücklich floßen Sommer und Winter dahin. Die beiden Alten schienen wieder jung zu werden, und Friedel gewöhnte sich mehr und mehr an das geschäftige Leben in der Mühle. Er legte selbst mit Hand an, und als er zum ersten Male die Arbeit der Mühlknappen verrichtet und selbst gemahlen hatte, ergriff der Wassermüller seine Hand und sprach gerührt: »Sieh, mein Friedel, Du machst hundertfach in meinen alten Tagen an mir wieder gut, was Du einst verschuldet hast; solch' Glück hätte ich nicht mehr erwartet. Das war ja von jeher mein Wunsch, daß mein Sohn Müller werden möcht', wie ich es bin und wie es mein Vater und Großvater gewesen ist. Du bist jetzt mein einzig Kind, aber an Dir erleb' ich jetzt so viele Freude, als wenn ich deren zehn hätte.«

Das ging auch dem Friedel zu Herzen, und mehr und mehr widmete er sich den Arbeiten und Geschäften der Mühle. Er fragte nicht darnach, ob er sich selbst dabei glücklich fühlte, er hatte ja so oft in seinem Leben seine eigenen Wünsche und sein eigenes Glück bei Seite setzen müssen, das Leben hatte ihn geduldig und aufopfernd gemacht.

So floßen Tage und Wochen und Monde dahin. In der Wassermühle ging Alles seinen geregelten Gang, nur der Friedel war, so geschäftig und thätig er auch war, im Herzen stiller und trauriger geworden. Er konnte wieder stundenlang allein am Bergbache stehen und träumend in seine Wasser schauen, und über seine Stirne zogen sich in solchen Stunden düstere und wehmüthig traurige Falten, deren Spuren er nicht sobald wieder zu verwischen vermochte. Es fehlte ihm etwas, ein innerer Schmerz zehrte an ihm.

Zwar suchte er seine trübe Stimmung seinen Eltern zu verbergen, aber das Mutterauge vermochte er nicht zu täuschen, es blickte klar in das Herz ihres Kindes hinab.

»Spiele die Geige öfter, mein Sohn; die Musik wird Dich erheitern,« bat sie; aber er schüttelte lächelnd sein Haupt und ging in die Mühle, sich durch Arbeit Zerstreuung zu schaffen.

Die Müllerin glaubte, eine Krankheit zehre heimlich an dem Leben ihres Kindes und bange Sorgen füllten ihr Herz. Still ertrug sie indessen diesen Kummer für sich, bis ein Zufall sie den wahren Grund von Friedels Gram erkennen ließ.

Wie einst vor langen Jahren, glaubte sie während einer Nacht Geigentöne vom Walde herüberschallen zu hören. Sie lauschte eine Zeit lang, entschlief aber in dem Glauben, daß der Wind sie täusche. In der folgenden Nacht vernahm sie jedoch wiederum die Töne, und ihr ahnte, daß es Friedel sei, der im Walde heimlich spiele. Sie schlich zu der Kammer ihres Sohnes, die war leer und sein Bett stand unangerührt. Jetzt begriff sie seinen Schmerz, es war das ihm angeborene Sehnen und Verlangen nach Musik, es war der Trieb des ihm innewohnenden Talentes, der sich vergeblich in der stillen Mühle nach Befriedigung sehnte und sich in das Treiben des gewöhnlichen Lebens nicht hineinzufinden vermochte. Sie begriff jetzt die Größe des Opfers, das er ihnen darbrachte. Um seiner Kindesliebe Genüge zu thun, ging er lieber selbst zu Grunde – aber das durfte, das sollte er nicht! Schnell entschloß sie sich, ihn in dem Walde aufzusuchen und zu beschwören, seinem inneren Drange zu folgen.

Es war eine helle, milde Sommernacht. Die Mondscheinstrahlen lagerten sich still heimlich und zutraulich auf dem Wege, auf Wiese und Wald. Kein Lüftchen regte sich in den Wipfeln der Bäume. Alles ringsum war still, nur die Grasmücken zirpten schrillend und zitternd durch die Nacht, und dazwischen klangen leise klagend und schwermuthsvoll die Töne von Friedels Geige. Deutlicher und deutlicher vernahm sie die Töne, je näher sie dem Walde kam, und das Herz wollten sie ihr fast erdrücken. Klang nicht aus jedem Tone der Schmerz, den er in sich trug, hauchte er nicht diesen langgezogenen, schwermüthigen Melodien seine eigene Seele ein?

An derselben Stelle, am Fuße desselben Baumes, wie vor zwanzig Jahren, saß Friedel. Nächte lang hatte er hier schon gesessen und gespielt, und keine Ahnung stieg in ihm auf, daß seine Mutter ihn jetzt belausche. Erschrocken sprang er deßhalb in die Höhe, als er sie plötzlich vor sich stehen sah, und vergeblich bemühte er sich, Fassung zu gewinnen.

Mit Thränen in den Augen legte die Mutter ihre Hand auf seinen Arm und blickte ihn eine Zeit lang schweigend an.

»Friedel, mein Kind,« sprach sie endlich mit ergriffener Stimme, »ich habe es Dir längst angemerkt, daß sich Dein Herz nach Musik sehnt. Deinem Vater zu lieb hast Du die Geige ruhen lassen, uns zu Liebe bist Du zurückgekehrt in die Mühle und ein Müller geworden. Aber Du darfst nicht hier bleiben, Du darfst hier nicht untergehen und Deine beste Kraft vergrämen, Du mußt wieder hinaus in die Welt, mußt Dich wieder der Musik widmen, sie ist Dein Lebensberuf.«

»Nie, nie werde ich Euch verlassen, so lange Ihr lebt,« erwiderte Friedel bewegt. »Ihr seid ja die einzigen, die ich mein nenne auf der ganzen Erde.«

»Unser Lebensende ist schon abgesteckt, wir haben beide nur noch eine kurze Zeit zu leben, und die wenigen Tage wird uns Gott in Ruhe genießen lassen. Aber Du bist noch jung, Du hast noch ein langes Leben vor Dir, Du mußt Dir noch das Glück suchen, welches wir schon genossen haben. Du bist zu etwas Höherem berufen und darfst nicht hier in der Mühle untergehen. Gesteh' es Deiner Mutter, Dein Herz sehnt sich und treibt Dich hinaus in die Welt, wo Du allein Befriedigung für Deinen Geist zu finden vermagst.«

»Nicht mein Herz,« entgegnete Friedel, »mein Herz ist bei Dir und dem Vater. Eine innere Stimme drängt und treibt mich hinaus. Ich hatte es mir so leicht gedacht, als ich zu Euch kam, bei Euch zu bleiben und still und einfach mit Euch zu leben, ich hatte mich jahrelang darnach gesehnt, ich dachte mir kein Glück schöner, als bei euch still in der Wassermühle mein Glück zu beschließen, es hat mich ja so kalt gelassen das öffentliche Leben und die Menschen und Ehre und Ruhm – aber es ist Alles anders gekommen. Drückend und schwer liegt diese Stille und Ruhe auf mir, ich habe Niemand hier, mit dem ich nur einmal meine Gedanken austauschen könnte und fast kein anderer Ton dringt in mein Ohr, als das Geklapper der Mühle. – Mutter, Du weißt nicht, wie das schmerzt, für die Musik begeistert und doch für sie todt zu sein! Du weißt, wie lieb ich Euch habe, dennoch ist es mir jetzt oft, als läge ich lebendig begraben; ich könnte mich erretten und erheben, aber Arme und Beine versagten mir den Dienst.«

»Du mußt fort, Du mußt fort von hier,« unterbrach ihn seine Mutter, indem sie seine Hand ergriff, »Du sollst Deinen Eltern nicht Dein Glück zum Opfer bringen. Ich weiß, daß Du nicht Müller sein kannst – für die Musik bist Du geboren.«

Friedel schüttelte traurig den Kopf. »Wenn ich Euch verlasse, werde ich draußen in der Welt nimmer Ruhe und Glück finden. Und soll ich meinem greisen Vater die einzige Freude und das einzige Glück seines Alters rauben? Er glaubt, ich sei mit ganzer Seele ein Müller geworden, er hofft, daß nun die Wassermühle noch länger in den Händen seiner Nachkommen bleiben werde; ich täusche ihn, aber diese Täuschung gibt ihm Ruhe und Zufriedenheit, ich darf sie ihm nicht nehmen. – Siehe, durch mich hat er die Augen verloren und lange Jahre in Blindheit zugebracht, kann ich da ein so geringes Opfer wie mein eigenes Glück scheuen!«

»Ein geringes Opfer?« wiederholte die Mutter erstaunt. »Ist Dein ganzes Lebensglück ein geringes Opfer? Glaubst Du, der Vater wird Dich nicht gern von dannen ziehen lassen und Dir seinen Segen zum Geleite geben, wenn er weiß, daß Du Dir dadurch Dein Glück erkaufst?«

»Nein, nein, Mutter, störe nicht die Ruhe und Zufriedenheit des alten Mannes. Mein Entschluß, bei Euch zu bleiben, steht unerschütterlich fest. Wenn Ihr einst todt seid, wenn mich nichts mehr an die Mühle bindet, als die Erinnerung, dann ist es für mich noch Zeit genug, hinauszuziehen in die Welt, in der ich auch nicht glücklich sein werde. Gott hat mir einen unruhigen Geist und ein ruheloses Herz gegeben, das mich ewig weiter treibt und nirgends Ruhe finden läßt. Jetzt treibt es mich hinaus in die Welt, und folgte ich diesem Triebe, so würde ich nur zu bald mich nach der Stille der Mühle zurücksehnen.«

»Das ist ein Erbtheil Deines Großvaters,« erwiderte die Müllerin. »Auch mein Vater fand nirgends auf der Erde Ruhe als im Grabe, wo er nun schon seit langen Jahren gebettet liegt. Auch ihn trieb es fort in die Welt, und war er hinaus, so sehnte er sich wieder zurück nach seiner Familie. Auch er hat nimmer ein glückliches Leben auf Erden gefunden.«

Schweigend gingen Mutter und Sohn zur Mühle zurück. Ihre Herzen waren schwer, und so schmeichelnd sich auch die Mondscheinstrahlen an die Grashalme und Blumen am Wege schmiegten, sie brachten keinen Trost und keine Ruhe.

 

Es gibt Schmerzen und Augenblicke im Menschenleben, wo das Auge verschlossen bleibt gegen den Trost und den Frieden der Natur. Das Herz schließt sich ab gegen die äußere Welt und lebt allein seinem eigenen Schmerze. Es verzehrt ihn entweder langsam oder wird von ihm verzehrt.

In beiden Fällen gleicht es einer Folterkammer, aus der kein Klage- und Schmerzensruf in die Außenwelt dringt.

Niemand in der Mühle ahnte, was in dem Herzen Friedels vorging. Er war still, aber verrichtete seine Arbeit nach wie vor. ö ö

Nur das Mutterauge betrachtete ihn im Stillen, und sie empfand es doppelt schwer, was ihr Sohn litt. Ihr alter Körper unterlag allmählich dem stillen Grame. Als der Herbst die Blätter färbte und der Wind sie rauschend zur Erde führte, da fielen auch die letzten Blätter von dem Lebensbaume der Müllerin, – sie hatten sich schon lange gefärbt. In den Armen ihres Mannes und Sohnes verschied sie. Sie wäre glücklich gestorben, hätte sie ihr Kind glücklich gewußt. Aber einen Trost nahm sie mit sich hinüber, die feste Hoffnung und Zuversicht, einst ihren Sohn und ihre Lieben wiederzusehen.

Tief betrübt und allein folgte Friedel dem Sarge seiner Mutter. Der Wassermüller vermochte sein Weib nicht zur letzten Ruhestätte zu geleiten, er war zu schwach dazu. Der Tod seiner Gertrud, mit der er vierzig Jahre zusammengelebt, die ihm in Freud und Leid so treu zur Seite gestanden, hatte ihn mächtig ergriffen. Ungestüm bäumte sich sein Herz gegen den Schlag des Geschickes und den Gram, aber das Herz, welches einmal zu schlagen aufgehört hatte, vermochte er auch nicht auf eine einzige Minute in's Leben zurückzurufen.

»Ich werde ihr bald nachfolgen,« sprach er zu Friedel, als dieser vom Friedhofe zurückgekehrt war. »Es wird mir wohlthun, wenn ich neben ihr und der Susel und dem Gottfried liege.«

Friedel vermochte nichts darauf zu erwidern; sein Herz war vor Gram fast erdrückt. An seiner Mutter hatte er von frühester Jugend an mit aller Macht seiner kindlichen Liebe gehangen und sie allein hatte ihn verstanden, sie allein hatte einen Blick in das Innere seines Herzens gethan. Er liebte seinen Vater auch, und seine Liebe wäre zu jedem Opfer bereit gewesen, aber dennoch lag eine unüberwindliche Kluft zwischen Vater und Sohn. Nicht des Vaters Strenge, nicht sein harter Sinn schreckten Friedel ab, sich ihm vertrauungsvoll zu nähern und sein Herz zu erschließen, er wußte, daß sein Vater ihn nimmer verstehen und seine Gefühle würdigen werde. Die Verschiedenheit der beiden Charaktere, die sich nicht wie zwei Extreme einander gegenüber standen, sondern durchaus ganz verschiedener Natur waren, zog die Grenze zwischen den Herzen. Seiner Mutter konnte er Alles vertrauen.

Jetzt war sie todt, die alte Frau mit ihrem milden, sanften Gesicht und ihrer weichen Stimme, und die Mühle erschien dem Friedel wie ausgestorben. Er vermochte sich an den Gedanken des Todes nicht zu gewöhnen, immer hoffte er, die freundliche Gestalt seiner Mutter werde in das Zimmer treten und ihm die Haare von der Stirne streichen, wie sie es so oft gethan. Er hoffte vergebens – das Grab gab seine Beute nicht zurück.

Anders war der Schmerz des Wassermüllers. Er glich dem Heimweh, der Trennung von einem Wesen, an das ihn die Gewohnheit langer Jahre fest und innig gebunden hatte. Er war mit seiner Gertrud gleichsam zu einem Wesen verwachsen und verschmolzen, sie fehlte ihm bei Allem, was er that. Er war aus seinem ganzen langgewohnten Leben herausgerissen, und mächtig ergriff diese Trennung sein Herz und seinen Körper, der langsam dahinstarb.

»Ich werde ihr bald nachfolgen,« sprach er zu Friedel und ließ sich diesen Glauben nicht nehmen. Und als der Frühling kam, als die Veilchen wieder an des Bergbachs Rande blühten, da folgte er ihr wirklich nach. Todt lag er eines Morgens in seinem Bette. Noch am Tage zuvor hatte er Friedel gebeten, einen Veilchenstrauß, welchen dieser am Bergbache gepflückt, auf das Grab seiner Lieben zu tragen, »damit sie auch wissen, daß Frühling ist und die Veilchen blühen, sie haben sich so oft darüber gefreut,« so hatte er gesprochen, – nun war er ihnen selbst nachgefolgt, und Veilchen konnten nun auch sein Grab schmücken.

Wieder folgte Friedel allein dem Sarge. Jetzt trugen sie den Letzten der Seinen hinaus auf den Friedhof, wo sie alle lagen, die Mutter, die Susel und auch der Gottfried. Schweigend stand er an dem offenen Grabe, lange, lange hing sein Blick an dem Sarge, der den Leichnam seines Vaters barg, als aber auch der Sarg in die Erde hinabgesenkt ward, als die Erdschollen dumpf und hohl darauffielen und ihn seinen Blicken entzogen, da rang er verzweiflungsvoll die Hände und richtete seine Augen zum blauen Himmel empor, dort Trost zu suchen.

Nun stand er ganz allein in der Welt da, nun hatte er kein Herz mehr, das er sein nennen konnte – Alle waren vor ihm dahin gestorben. Hatte er jetzt noch eine Heimat, ein Vaterhaus, da kein einzig liebes Auge ihm dort noch entgegenblickte? Hatte er jetzt noch ein Ziel auf dieser Erde, da er Niemand mehr hatte, für den er sorgen konnte? Ihm wäre wohl gewesen, wenn er sich in das Grab hätte mit hinein legen können, um auszuruhen, denn nach Ruhe sehnte er sich, nach Ruhe für sein unstätes, ungeduldiges Herz.

Aber der Himmel, zu dem er sein Auge vertrauungsvoll erhoben hatte, ließ ihn nicht ohne Trost. Weit, weit und blau spannte er sich in erhabenem Bogen um die Erde und duftig weiße Wolken schwebten an ihm und zogen hin in die Ferne. Und die Wolken schienen ihm zu winken und zuzurufen: »Komm' mit uns, zieh' mit uns weit von hier!« Und wie sie schweigend dahin zogen, da zog auch die Sehnsucht nach der Ferne in sein Herz. Er war ja nun frei wie die Wolken, er folgte dem Drängen seines Geschicks, wie jene dem Hauche des Windes.

Still, still war es wieder, als er in das Haus seiner Väter trat. Keine Hand streckte sich ihm zum Willkommen entgegen, kein Mund begrüßte ihn, Alles war wie erstorben. Selbst die Mühlräder standen still und schienen zu trauern und das Rauschen des Bergbachs klang wie eine Trauermelodie. Wohin er schaute, blickten ihm Erinnerungszeichen entgegen, aber nur Schmerzen riefen sie in ihm wach. Dort jener große Sessel, auf dem so oft der blinde Greis gesessen – er stand leer, denn sein Vater war todt. Dort jener Stuhl, am Fenster, der Lieblingsplatz seiner Mutter – auch sie war todt und todt rief es ihm entgegen, wohin er schaute. Dies war nun sein Erbtheil.

Dies sollte nun seine Heimat, dies der Ort sein, wo er leben und sein Leben beschließen sollte, hier wo er einst so glücklich gewesen und nun unglücklich war!

Er kehrte in Gedanken in die Tage seiner Kindheit zurück und durchlebte noch einmal das Glück, das er hier gefunden. Dort an dem Bergbache hatte er so oft gespielt und die Stimme seiner Mutter rief ihn zurück und warnte ihn – und jetzt! Wenn er sich jetzt in die Wogen des Wassers stürzte, sein Leben zu enden, keine Mutterstimme würde ihn rufen, keine Mutterhand würde sich ihm rettend entgegenstrecken, denn er stand ja allein und verlassen in der Welt. Dort in jener Laube hatte er so oft gesessen, in dem Garten hatte er mit seinen Geschwistern gespielt, dort an jenem Apfelbaume hatte sein Vater ihm einen Adler mit goldener Krone und goldenem Scepter befestigt und mit Bolzen hatten sie darnach geschossen. Das war ein lustiger Tag und welche Freude, als er die Krone heruntergeschossen, als sein Vater ihn auf den Arm nahm und küßte, als seine Mutter so glücklich lächelte – und jetzt – und jetzt! – Er barg sein Gesicht in den Händen, heiße Thränen rannen ihm über die Wangen. Es war dahin das Glück der Jugendzeit, dahin, um nie wiederzukehren!

Hier, wo sich jetzt ihm nur Trauer und Schmerzen boten, vermochte er nicht länger zu weilen, und mit der Geige unter dem Arme ging er in den Wald, um an jener Stelle, wo er so oft gespielt, sich Ruhe zu suchen.

Wohl war es ringsum still und kein Lüftchen regte sich in den Bäumen, wohl klangen die Töne der Geige klagend und mild durch den Abend zur Mühle herüber, aber kein Mutterherz vernahm sie dort. Oder ob die Tone zu dem Friedhof hinüber klangen, ob sie hinein tönten in das Grab, oder ob die Wolken, welche am Himmel hinzogen, sie hintrugen zu dem Ohre seiner Mutter? Ob ihr Geist sich niedersenkte auf die Erde, auf ihr Kind? – Woher kam die Ruhe und der Frieden, der in seine Brust einzog? Woher die versöhnende Begeisterung, die seinen Geist erhob? Was die Körper trennt, das wissen wir, aber was die Geister vereint ist ewiges Geheimniß der Natur.

Als Friedel spät in der Nacht in die Mühle zurückkehrte, stand der Entschluß in ihm fest, sein Erbtheil zu verkaufen und wieder hinaus zu ziehen in die Welt. Wohl dachte er, als er vom Mondschein erhellt die Mühle vor sich liegen sah, an den Schmerz seines Vaters, wenn er es wüßte, daß die Mühle nun in fremde Hände komme; wohl that es ihm weh, all die lieben Erinnerungszeichen zurücklassen zu müssen, aber eine Stimme, wie die Stimme seiner Mutter rief ihm in's Ohr: »Ziehe fort, ziehe hinaus in die Welt! Hier vermagst Du nimmer zu bleiben!«


Die Wassermühle im Walde war verkauft. – Mit der Geige unter dem Arme stand Friedel auf dem Hofe und schaute noch einmal auf das Haus zurück, wo er so glücklich und froh gewesen war. Jetzt, wo er scheiden sollte, empfand er erst den ganzen Schmerz des Abschieds! – In diesem Hause war er geboren, in ihm war sein Großvater und Vater geboren und gestorben, nur er sollte hier sein Haupt nicht zur ewigen Ruhe legen, er sollte hier nicht das stille Glück der Familie finden, ihn trieb sein Geschick hinaus in die Welt, hinaus ohne Ruhe, ohne Glück. Und wo war das Ende seines Zieles, wo das Ende seiner Laufbahn? Kam er je wieder zurück, um dieses Haus, diese Stätte wiederzusehen? Sollte er allein nicht ruhen bei den Seinen?

Vergebens richtet der Mensch seinen Blick forschend in die Zukunft; der Schleier, der sie verhüllt, lüftet sich keinem sterblichen Auge.

Schweigend stand Friedel da und Thränen rannen über seine Wangen. Einst hatte sein Vater ihn aus diesem Hause verstoßen, jetzt trieb ein innerer Drang ihn fort; aber welche unendliche Kluft, welche lange, schwere Zeit lag zwischen einst und jetzt! Damals stand die Welt vor ihm weit und offen. Jugendkraft und Jugendmuth füllte seine Brust, wie ein großer Garten erschien ihm die Erde, in welchen er nur hineinzutreten und dem Ziele entgegenzueilen brauchte, nach welchem sein Herz sich sehnte, – und jetzt! Die Unruhe eines Trostlosen, der Ruf seines Geschickes trieb ihn von dannen, ohne Hoffnung auf die Zukunft, ohne Hoffnung auf die Welt. Arm und hilflos war er einst der Welt entgegen gezogen, allein er nahm ein Herz voll Glauben an sie mit, jetzt war sein Leben vor Noth gesichert, aber sein Glauben, sein Vertrauen waren dahin. Wer nie ein volles, ungetrübtes Glück gekannt, verliert zuletzt auch den Glauben daran.

Wie ein aus einem Traume Erwachender fuhr Friedel mit der Hand über die Stirn. Noch einmal warf er einen lieben, lieben Blick auf das Vaterhaus, dann wandte er sich rasch ab und schritt dem Walde zu, bin in die Ferne, in die Welt! –

Warm und mild schien die Maiensonne. Leise klagend rauschte es in dem frischen Laube. Vöglein saßen in den Bäumen und sangen ihm ihr Abschiedslied, aber die Sonne und die Bäume und die Vöglein, sie wissen nicht, wie einem Menschenherzen zu Muthe ist, wenn es allein und verlassen in der großen weiten Welt dasteht. Die Sonne, die hat ihre Sterne, die Bäume haben ihre Blumen und die Vöglein haben ihr Nest – nur das Menschenherz hat von dem Allen nichts, wenn es traurig ist!


Lange Jahre waren verflossen. Die Wassermühle stand noch, der Bergbach rauschte über den Hof und trieb lustig die Mühlräder um. Vor dem Hause war noch die steinerne Bank, im Garten grünte noch die alte Laube und Blumen blühten in ihm und Veilchen dufteten an des Bergbachs Rande – alles wie vor langen Jahren.

In dem nahen Walde rauschte es leise webend und die Maiensonne schien mit der alten Milde auf Wiese und Feld. Ging die Zeit an diesem Allen spurlos vorüber, stand die Wassermühle nicht in ihrer Gewalt, der doch alles Irdische unterworfen ist? – Die Zeit hatte auch hier ihren Einfluß ausgeübt. Fremde Kinder spielten auf dem Hofe und an dem Bergbache, fremde Gesichter blickten Einem entgegen, wenn man in die alte Mühle trat. Wohl stand noch der alte Sessel des blinden Wassermüllers hinter dem Ofen im Zimmer, aber fremde Menschen saßen auf ihm und Niemand erinnerte sich mehr an den Greis, der längst unter der Erde ruhte. Niemand sprach mehr von der freundlichen alten Frau, der Müllerin, und der Susel und dem Gottfried. Ihre Grabeshügel auf dem Friedhofe waren eingesunken und mit Gras überwachsen. Hunderte schritten darüber hinweg und kaum Einer gedachte der ausgestorbenen Familie des Wassermüllers. Die Zeit hatte ihren mächtigsten Einfluß ausgeübt und die Erinnerung aus dem Gedächtnisse der Menschen getilgt. Eine neue Generation war herangewachsen, sie kümmerte sich nicht um das Todte, was längst in dem Grabe ruhte. –

 

Ein Wagen fuhr langsam vor die Thür der Wassermühle. Zwei Diener sprangen von demselben herab und hoben vorsichtig einen kranken, schwachen Greis aus ihm. Sein Gesicht war bleich und eingefallen, seine Arme ruhten kraftlos in den Händen der Diener, nur aus seinen großen hellen Augen leuchtete noch ein inneres Feuer hervor.

»Gönnt einem Kranken einige Stunden Erholung in Eurem Hause,« sprach einer der Diener zu dem herzutretenden Herrn der Mühle und der Müller nahm den Kranken gastfreundlich auf und half ihn hineintragen in das Zimmer. In dem Sessel hinter dem Ofen ward er niedergesetzt.

Wehmüthig lächelnd blickte das Auge des Kranken umher. Welche Fülle von Erinnerungen weckte dieser Raum in seiner Seele, welche frohen und entschwundenen Bilder kehrten in sein Gedächtniß zurück und wie ruhig und glücklich schlug sein Herz in diesem Zimmer! Wie klang das Rauschen des Bergbachs und das Geklapper der Mühle ihm so wehmüthig in's Herz hinein, wie Melodien aus ferner Jugendzeit! Und dieser Sessel, in dem er saß! Hatte in ihm nicht vor vielen Jahren der blinde Wassermüller geruht! Noch sah er ihn in Gedanken dasitzen, das greise Haupt auf den Stab gestützt! Jetzt war er selbst ein Greis geworden, jetzt war er dem Augenblicke nahe, wo er sein Haupt zur ewigen Ruhe legte und dann hinausgetragen ward auf den Friedhof zur Mutter und zum Vater, zu der Susel und dem Gottfried.

Schweigend winkte er den Herrn der Mühle neben sich auf einen Stuhl und nahm dessen Rechte in seine zitternde Hand.

»In diesem Zimmer bin ich geboren,« sprach er mit wehmüthigem Lächeln, »in diesem Zimmer laßt mich sterben. Als Knabe zog ich fort aus dem Vaterhause, denn nur in der großen Welt hoffte ich mein Ziel und Ideal zu erreichen. Ich habe es erreicht – aber es war anders, als ich gedacht hatte. In der weiten Welt fand ich kein Glück, keine Ruhe und in das Vaterhaus kehrte ich als Mann zurück. Was mich an das Vaterhaus band, starb vor der Zeit dahin. Meine Eltern habe ich beide zu Grabe geleitet, da war mir das Vaterhaus zu eng und es trieb mich wieder hinaus in die Welt. Viel bin ich umhergewandert, ein ruheloser Pilger. Jetzt ist mir die Welt zu groß und zu weit und zum letzten Male kehre ich zurück in dies Haus, das einst mein Erbtheil war, – um hier zu sterben und auf dem Friedhofe neben den Meinen zu ruhen.« –

»Laßt mich still und einfach zu Grabe tragen,« fuhr er nach kurzer Unterbrechung mit matter Stimme fort, indem er dem Müller eine Rolle mit Gold in die Hand drückte, – »ganz still, so ward ja einst auch meine Mutter und mein Vater zu Grabe getragen. – Ich folge Euch,« sprach er, aber seine Stimme war kaum hörbar.

Groß und hell blickte sein Auge im Zimmer umher. Ein ruhiges Lächeln lag in seinem Antlitz. Sein Herz schlug schwächer und schwächer, sein Blut rann kaum merkbar, langsam durch die Adern. Noch einmal sog er die Brust voll frischer Maienluft, die durch das offene Fenster in die Stube wehte – da hatte sein Herz aufgehört zu schlagen. Seine Augen schloßen sich, und leblos sank sein Haupt auf die Brust herab zur Ruhe, zur ewigen Ruhe. Da ward er hinausgetragen, des Wassermüllers Friedel, zum Friedhof, still und einfach. In fremden Händen war das Erbtheil seines Vaters, fremde Menschen geleiteten ihn zum Grabe – den letzten aus der Familie des Wassermüllers.

War es ein Zufall, daß des Müllers kleine Tochter dem todten Greise einen duftenden Veilchenstrauß in den offnen Sarg warf? War es ein Zufall, daß es vom Walde her so wehmüthig trauernd rauschte? War es ein Zufall, daß die Maiensonne so warm und lieblich schien? – Es war des Friedels Grabgesang, das sühnende Geflüster seines ruhelosen Geschickes!

* * *


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