Theodor Fontane
Graf Petöfy
Theodor Fontane

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Hannah schlief fest und atmete ruhig. Das Fieber hatte sichtlich nachgelassen, und leise, wie sie gekommen war, verließ Franziska, die wohl wußte, daß dieser Schlaf die Genesung bedeute, den Alkoven wieder, um in ihrem Wohnzimmer vor dem Kamin Platz zu nehmen.

Das Feuer darin war halb niedergebrannt, aber über dem Kamin befand sich ein Ofen, der seine Heizung von außen her empfing und trotz vorgerückter Stunde noch eine behagliche Temperatur ausströmte, was nicht überraschen durfte, denn der erst beim Beginn der Regentage zum Vorschein gekommene schnauzbärtige Slowake, dem das Heizungsdepartement unterstellt war, pflegte lieber zu viel als zu wenig zu tun.

Es war noch nicht spät, und Franziska nahm auf gut Glück ein Buch vom Bücherbord. Es war ein Band von Rousseau, die »Confessions«, und sie sah im Durchblättern, daß wenigstens auf den ersten fünfzig Seiten viele dünne Bleistiftstrichelchen an den Rand gemacht worden waren. Die Leserin indes, sehr wahrscheinlich die Mutter des Grafen, schien sich im Weiterlesen immer ablehnender gegen den Autor verhalten zu haben, denn der Strichelchen, die ganz unzweifelhaft Zustimmung ausdrücken sollten, wurden immer weniger und der Fragezeichen immer mehr. In der Mitte des Buches aber lag ein weißes, goldgerändertes Blatt mit einem Spruch darauf, und dieser Spruch selbst lautete: »Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll. Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.« Franziska stutzte. »Wie schlicht«, sagte sie, »wie nüchtern fast! Und doch bewegt es mich. Und warum? Ist es, weil ich das ›Bild dessen, was ich werden soll‹, ahnungsvoll bereits vor mir sehe, oder ist es umgekehrt, weil ich es nicht sehe? Sonderbar.«

Sie legte das Buch wieder aus der Hand, gab ihren Platz vor dem Kamin auf und setzte sich in die Fensternische. Wenn nicht alles täuschte, so mußte sich das Wetter zum Guten geändert haben; nur kalt schien es geworden zu sein, denn die Scheiben beschlugen sich, und die Tropfen zogen Rinnen über das Glas. »Ich muß doch sehen«, sagte sie neugierig und erhob sich halb von ihrem Sitz, um den Fensterflügel zu öffnen.

Wirklich, der Regen hatte nachgelassen, und nur ein Nebel, der aus der halb überschwemmten Landschaft aufstieg, lagerte noch zwischen Schloß und See. Seine Dichtigkeit hinderte den Schall, und nichts von Lärm und Leben drang von unten herauf, bis mit einem Male, wenn auch schwach und gedämpft nur, die Glocke des sich eben nähernden Dampfschiffes vernehmbar wurde. Sie freute sich des Tons und suchte begierig nach dem Schiff, aber nach mehreren Minuten erst sah sie, daß ein dunkelroter Schimmer allmählich und wie mühevoll durch den Nebel brach. Das war das Laternenlicht vorn am Bugspriet, und nun wuchs es und wurde ein Feuerauge. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden und hatte das Gefühl dabei, daß das noch unsichtbare Schiff ihr etwas bringen müsse. Was? Nun, zum mindesten ein Zeichen aus der Welt.

Endlich schwieg das Läuten, und sie hörte nur noch den Pfiff und das Zischen des Dampfes, der abgelassen wurde.

Sie schloß das Fenster wieder. Josephine kam, um ihr beim Auskleiden behilflich zu sein, aber Franziska schickte sie wieder fort, weil ihr daran lag, sich ungestört ihren Gedanken und Träumereien überlassen zu können. Alte Bilder zogen herauf und mit ihnen ein Gefühl unendlicher Sehnsucht. Wonach? Wohin? In ihre Kindheitstage zurück? War sie glücklicher gewesen, als sie mit Hannah auf dem Kirchplatze gesessen und hinaufgesehen und sie Sterne gezählt hatte? Nein. Unbefriedigt damals wie heute. »Und so haben wir denn nichts sicher als ein ewig ungestilltes Verlangen?«

Immer leidenschaftlicher und fiebriger drängten sich ihr die Fragen, bis sie zuletzt ermattet einschlief. Aber nicht lange, so war sie wieder wach, warf einen Plaid über und trat auf den Balkon hinaus, auf denselben Gitterbalkon, auf dem sie schon einmal, damals von Angst und Schreck wie heute von Unruhe gepeinigt, gestanden hatte. Der Nebel war fort, eine scharfe Luft zog vom Gebirge her, und sie sog die Kühle begierig ein. Über einem der bewaldeten Vorberge stand die Mondessichel, und an ihr vorüber zogen die Reste der Regenwolken endlos und in fliegender Hast. Alles war längst still in Schloß und Stadt, nur ein dumpfes Donnern und Brausen traf ihr Ohr, und als sie hinhorchte, woher es komme, sah sie, daß es der unter den tagelangen Regengüssen angeschwollene Bergbach war, der ihr zur Linken über die Klippenwand hin in die Tiefe schoß. Die ganze Wassermasse lag in Nacht und Dunkel, und nur immer auf Augenblicke, wenn die Sichel drüben ihr Licht herüberschickte, leuchtete der Schaum auf. Aber unausgesetzt hörte sie von der Klippenwand her das eintönig mächtige Rauschen, und dazu klang es plötzlich und erinnerungsvoll in ihrer Seele:

»Hörbar rauscht die Zeit vorüber
An des Mädchens Einsamkeit.«

Es waren dieselben Worte, die damals an jenem ersten Abend in Gräfin Judiths engerem Kreise den alten Grafen entzückt und vielleicht über ihr und sein Leben entschieden hatten.


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