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Das Erscheinen des alten Grafen, der sich lebhaft und beinahe hastig entschuldigte, die Stunde so schlecht gehalten zu haben, unterbrach das Gespräch. Graf Egon war mit ihm. Eine Vorstellung fand nicht statt; man kannte sich bereits von der Soirée her.
»Oh, nichts von Entschuldigungen!« sagte die Gräfin, als beide Herren ihre Plätze genommen hatten. »Wir haben dich, um die Wahrheit zu gestehen, nicht vermißt, auch Egon nicht, am wenigsten in dieser letzten Minute, wo wir in der bevorzugten Lage waren, Confessions entgegennehmen zu können. Und du weißt ja, Bruder, wieviel uns Confessions bedeuten! Unser lieber Gast sprach nämlich mit Vorliebe von Wien, und nicht bloß von Wien, sondern auch von Liguorianerpatres, was dich vielleicht am meisten überraschen wird. Ob auch erfreuen?«
»Mich erfreut alles, was unsere liebe Freundin sagt oder tut, und selbst Feßler wird mir in diesem Falle zustimmen.
Dieser nickte.
Die junge Schauspielerin aber warf einen Blick auf Egon, dessen Gegenwart sie befangen zu machen schien, und sagte dann, während sie den leichten Ton ihres voraufgegangenen Geplauders wieder zu gewinnen trachtete:
»Fast muß ich fürchten, mich mit meinen Confessions ins Komische gestellt zu haben. Aber mein Rollenfach, das das Naive wenigstens streift, mag mich entschuldigen. Unser Beruf gibt uns schließlich unsern Ton und unsere Haltung.«
»Und wenn nun das Naive vielleicht Ihre Naturanlage wäre?« scherzte der alte Graf.
»Das ist es leider nicht. Ich bilde mir wenigstens ein, überlegend und beinahe berechnend zu sein, eine nüchterne norddeutsche Natur. Und wenn sich mir meine Wünsche erfüllen, so werd' ich eine Kaufmannsfrau.«
»Das werden Sie nie«, warf Egon kurz und mit großer Bestimmtheit ein. »Angenommen selbst, meine Gnädigste, daß Sie's in Ihrer Charakteraufrechnung in jedem Einzelpunkte getroffen hätten, in der Summa: ›Kaufmannsfrau‹ sicherlich nicht.«
»In der Summa sicherlich nicht«, wiederholte der alte Graf. »Egon spricht, als ob er einen Zahlkellner reprimandieren wollte. Summa, Fazit, Addition. Ich bitte dich, von welcher Welt ziehst du den Vorhang! O diese moderne Jugend! Etwas unselig Geschäftliches ist in Sprache, Bilder und Anschauungen eingedrungen. Ein Unglück, daß sich unsere Jugend dem Theater so sehr entfremdet.«
Feßler lächelte.
»Sie lächeln, Feßler, und wollen andeuten, alles moderne Weltenunglück, das in Ihren Augen natürlich sehr anders aussieht als in den meinigen, komme von etwas ganz anderem her. Aber glauben Sie mir, die Kirche tut es nicht, und unter allen Umständen läßt sich auf dem ihrem Zepter unterstellten Gebiete jede Stunde gründlich und erfolgreich nachexerzieren. Nur bei der Kunst heißt es: ›Was Hänschen nicht lernte, lernt Hans nimmermehr‹, während es doch zum Fromm- und Christlichwerden eigentlich nie zu spät ist.«
»Und doch empfiehlt es sich, vor Toresschluß damit anzufangen.«
Alles lachte, nicht zum wenigsten der alte Graf, der in übermütiger Laune fortfuhr: »Vor Toresschluß sagen Sie, Feßler. Bah, in diesen heiligen Hallen, in denen man die Rache nicht kennt und kaum die Sünde, kann von ›vor Toresschluß‹ überhaupt nie die Rede sein. Ja, Judith. Ein Gefühl, als ob in deinem Salon tagaus, tagein zelebriert werde, kann ich nie loswerden, und daran ist neben anderem die kleine Ambralampe schuld, der ich mich beständig versucht fühle, das Lebenslicht auszublasen. Aber sie steht ja direkt unterm Schutz des Gundolskirchenschen Spezialheiligen, und so bin ich mir nie sicher, ob ich sie nicht allen Ernstes als eine halbe ewige Lampe anzusehen habe.«
Das Eintreten eines Dieners unterbrach ihn; Kuverts wurden gelegt und Gläser gestellt, ohne daß im übrigen die Plätze gewechselt worden wären. Auch eine Zeitung kam, und während Franziska mit dem Pater, Egon aber mit der Tante sprach, tat der alte Graf einen Blick in das Wochenrepertoire.
»Seh' ich recht, man hat den Zriny wieder hervorgesucht, beiläufig nicht die schlechteste Wahl. Et voilà mes amis, die Helene Zriny. Aber wissen Sie, meine Gnädigste, daß ich Ihnen ernstlich zürne, mir gerade das verschwiegen zu haben, mir, Ihrem Verehrer und Freunde!«
»Vielleicht aus Sorge.«
»Wie das?«
»Ich bange mich vor der Rolle.«
»Dann freilich sind Sie verloren. Denn Sie werden dann das nicht treffen, was in dieser Rolle das meiste bedeutet: das Nationale. Sich fürchten ist das Unungrischste von der Welt. Aber Sie werden sich nicht fürchten, und wenn Ihnen doch vielleicht ein paar Anwandlungen kommen, so wird der Elan Ihres Talents groß genug sein, Ihr Temperament zu zwingen und siegreich mit fortzureißen. Oh, daß Sie Magyarin wären!«
»Ungefähr das Schmeichelhafteste, mein liebes Fräulein«, unterbrach hier lächelnd die Gräfin, »das Ihnen im Hause Petöfy gesagt werden kann. Denn mein Bruder erklärt Sie damit auf halbem Wege für würdig, eine Magyarin zu sein, er würde sonst die Tatsache, daß Sie's nicht sind, nicht so lebhaft beklagen. Und dabei sind Sie mutmaßlich ohne jede Vorstellung von dem Vollgewicht einer solchen Ehrenbezeugung und kennen überhaupt nichts von Ungarn als den Attila unserer Husaren.«
»O doch, doch; das Fräulein kennt und weiß mehr, viel mehr, und sie soll uns selber sagen, was sie von Ungarn weiß.«
»Es ist nicht viel und wohl eigentlich zu wenig, wenn ich bedenke, daß ich nun schon ins dritte Jahr eine Wienerin bin, und außerdem hinzurechne, daß Wien, ich möchte sagen, die Vorhalle von Ungarn ist, die Tempelstufe.«
Der Liguorianer, ein ausgesprochener Steirer, freute sich des kleinen Spottes, und Egon kaum minder. Der alte Graf aber gab sich das Ansehen, als nähme er's ernsthaft, und sagte: »Vorhalle, Tempelstufe; davon dürfen unsere Wiener nichts hören, die sich das Herz der Welt bedünken. Im übrigen schuldet uns das Fräulein immer noch ihren Bericht über Ungarn, und ich kann ihr ein Examen rigorosum auf diesen Punkt hin nicht ersparen, schon weil ich recht behalten möchte.«
»Nun, ich gebe gern, was ich weiß«, entgegnete das Fräulein, »und ich unterscheide deutlich zwei Grade der Erkenntnis: einen romantischen und einen lyrischen. Das sind freilich keine rechten Unterscheidungen, denn die Romantik kann lyrisch und die Lyrik kann romantisch sein; aber ich bitte nichtsdestoweniger, es gelten zu lassen.«
»O gewiß«, sagte die Gräfin. »Also das Romantische.«
»Ja, damit fing es an. Es war, als ich noch ein Kind war und auf unserem Kirchplatz, gerade vor unserer Tür, alljährlich zweimal die Jahrmarktsbuden standen. Buden mit Naschwerk und Pfefferkuchen und dazwischen allerlei Bänkelsänger und Leiermänner. Und immer wo solch ein Leiermann stand, stand auch eine buntbemalte Leinewand, auf der eine Geschichte, meist in zwölf Bilderfeldern, abgebildet war. Auf dem ersten Bilde lag die Welt allemal in bürgerlichem Frieden, und eine junge Mutter beugte sich über ein Wiegenkind; auf einem der Mittelbilder trat dann in gebotener dramatischer Steigerung ein schwarzer, bärtiger Mann aus einem Waldesdunkel hervor und an die junge, zufällig des Weges kommende Mutter heran, während auf dem zwölften und letzten Bilde Mal für Mal ein Gerüst aufgeschlagen war, mit einem niedrigen Stuhl darauf, und auf ebendiesem Stuhle saß der bärtige Mann aus dem Waldesdunkel. Aber jetzt mit verbundenen Augen und einem Rotmantel mit dem Schwerte hinter sich. Und wenn ich dann dem Liede, das dazu gesungen wurde, begierig und angstvoll zuhörte, so vernahm ich jedesmal, das sei geschehen im schönen Ungarlande zwischen Stuhlweißenburg und Debreczin, und ich darf wohl sagen, ich kenne bis diese Stunde keine Stadt und keinen Namen, die mir so mit Schreck und Grusel imprägniert erschienen wie diese beiden.«
»Ei, das beklag' ich, meine Gnädigste«, sagte der Graf »Da wird unser altes Schloß Arpa darauf verzichten müssen, Sie je in seinen Mauern zu sehen, denn Stuhlweißenburg ist unsere nächste große Stadt.«
»Oh, ich hab' es auch überwunden. Und Ungarn selbst hat es mich überwinden gelehrt.«
»Mit Hülfe der zweiten Epoche?«
»Ja, die gnädigste Gräfin erraten es; mit Hülfe der zweiten Epoche. Da war ich in einer Pension. Aber ich war schon fast erwachsen und in Vorbereitung auf das, was aus mir werden sollte. Da hatten wir von Zeit zu Zeit auch Deklamierübungen, und bei solcher Gelegenheit war es, daß eine Mitschülerin von mir ein Lied von Lenau vortrug.«
»Ah, von Niembsch!«
»Ich kannte Lenau schon. Er ist überhaupt sehr beliebt in Norddeutschland, und den ›Teich, den regungslosen‹, in den der Mond seine ›bleichen Rosen‹ flicht, kennt jedes dreizehnjährige Mädchen und jubelt in ihrem kleinen Herzen, wenn die berühmte Stelle von dem ›süßen Deingedenken‹ kommt, am meisten aber, wenn sie zum Schluß erfährt, daß dies süße Deingedenken auch ein ›stilles Nachtgebet‹ gewesen sei.«
Feßler lächelte vor sich hin, und auch die Gräfin, die nach Art aller vornehmen alten Damen eine Vorliebe für kleine Gewagtheiten hatte, war ganz enchantiert und nickte dem Bruder zu.
»Wohl, ich kannt' ihn also«, nahm Franziska wieder das Wort. »Aber speziell das Gedicht, das an jenem Tage deklamiert wurde, das kannt' ich nicht, und als es zu Ende war, war ich so hingerissen, daß ich auf die Mitschülerin zustürzte und sie umarmte und küßte, was mir beiläufig einen nachträglichen Verweis zuzog.«
»Und wie hieß es?«
»Ich weiß es nicht mehr sicher, aber ich glaube fast, es hieß ›Nach Süden‹. Und vielleicht erkennen Sie's, wenn ich Ihnen den Inhalt in aller Kürze skizzierte.«
»Wir bitten darum.«
»Es leitet sich mit einer Gewitterschilderung ein, und die halb schon wieder von Licht durchglühten Wolken ziehen südwärts auf Ungarn zu. Der Dichter selbst aber folgt dem Zuge dieser Wolken und begleitet ihr Südwärtsziehen mit dem sehnsuchtsvollen Ausrufe: ›Ja, nach Süden steht mein Herz!‹«
»Und nun?«
»Und nun, auf dem dunklen Hintergrunde der Wolken, erwächst ihm Fata-Morgana-artig ein Heimatsbild: ein Waldtal und ein Mühlbach, und an dem rauschenden Mühlbach erblickt er die Geliebte, die, sein eigenes Sehnsuchtsgefühl erwidernd, in Verlangen nach ihm aussieht und Wind und Wellen um ihn befragt. Aber Wind und Wellen ziehen weiter und weigern ihr die Antwort, und das Lied selbst verklingt in der wunderbaren Strophe:
›Dunkler wird der Tag und trüber, Lauter wird der Lüfte Streit, Hörbar rauscht die Zeit vorüber An des Mädchens Einsamkeit.‹« |
»Ah, das ist schön«, sagte der alte Graf, »und ich klage mich an, es nicht gekannt zu haben. Er war ein Freund unseres Hauses und speziell das enfant gâté meiner Mutter, die sich, wenn das Gespräch auf ihn kam, jedesmal ihres ganzen Albionstolzes entschlug, womit sie sonst stärker, allerdings auch berechtigter als Lady Milford umgürtet war, und nicht müde wurde, zu versichern, ›daß sie die ganze großbritannische Lyrik um eines einzigen Lenauschen Gedichtes willen hingebe‹. Ja, Feßler, das war unser altes Wien, an das ich doch oft mit herzlicher Freude zurückdenke. Da wurde noch vieles verziehen, was jetzt unverzeihlich dünkt, und beispielsweise mit dem lieben Gott auf dem Kriegsfuß zu stehen, galt noch einfach für interessant. Auch unser guter Lenau verstand sich darauf, aber es war au fond nicht böse gemeint, und aller atheistischen Rodomontaden unerachtet, spukte doch eigentlich das Kirchliche darin vor. Er kam nur nicht voll damit zurecht und starb zu früh. Und zudem der verdammte Poetenehrgeiz! Unter allen Umständen aber sind wir ihm zu Dank verpflichtet, uns das auf dem Wege zwischen Stuhlweißenburg und Debreczin fast schon verlorengegangene Herz unserer lieben Freundin in einer zweiten ungrischen Epoche zurückerobert zu haben. In einer zweiten ungrischen Epoche, nach der wir hoffentlich sehr bald eine noch schönere dritte zu verzeichnen haben werden.«
»Ich glaube, daß sie für mich bereits begonnen hat.«
Eine kleine Stutzuhr schlug eben zehn, und die junge Schauspielerin erhob sich. Egon bat, sie begleiten zu dürfen. Sie nahm das Anerbieten an, ganz nach Art einer Dame, die solche Huldigungen und Dienste gewöhnt ist, und verabschiedete sich, wie sie gekommen, mit einem Handkuß bei der Gräfin, während sie sich gegen Feßler verneigte.
Der alte Graf aber geleitete sie bis in das Vorzimmer und half ihr hier sich in ein Spitzentuch hüllen, das sie kleidsam um Kopf und Hals trug. Dann in den Salon der Schwester zurückkehrend, ließ er sich in einen Fauteuil in aller Bequemlichkeit nieder und sagte: »Nun, Judith, wie findest du sie?«
»Charmant.«
»Und?«
»Und pointiert.«
»Und?«
»Ich weiß nichts weiter zu sagen. Aber fragen wir Feßler.«
»Und klug«, fügte dieser hinzu, während er wie zerstreut mit einer an der Tischdecke herabhängenden Seidenpuschel spielte. »Wir werden allerhand von ihr lernen können.«
»Lernen! Ein Liguorianerpater und lernen! Und da spricht man noch von dem Hochmut der Kirche.«
Es hatte mittlerweile geschneit, und ein paar Hausdiener fegten eben den Schnee beiseite. Egon reichte Franziska den Arm, war aber sichtlich in Verlegenheit, wie das Gespräch beginnen, und so hatten sie denn schon den Vorhof und das Gitter passiert, als er endlich das Wort nahm.
»Ein trübseliges Wetter«, begann er. »Nun wieder Schnee. Der Wind dreht sich in einem fort. Ich mache mir nichts aus dem Winter.«
»Oh, da denk' ich doch anders. Ich liebe den Winter, nur muß er wirklich ein Winter sein. Es ist damit wie mit den Menschen: auf Beständigkeit kommt es an. Mit einem launenhaften Winter, der heute so ist und morgen so, mit dem ist nichts anzufangen, aber ein echter und zuverlässiger Winter, der sich einrichtet, als wolle er nie wieder gehen, der ist schön, wie der schönste Sommer. Doch das wissen sie hier nicht. Einen Schneesturm haben sie wohl, aber die stille, feste Kälte, die Brücken baut und trägt und hält, die fehlt ihnen.«
Egon antwortete nicht; es schien nur, daß er überlegte, was sie mit dem allem gemeint haben könne. Denn obwohl sie sich selbst für berechnend ausgegeben hatte, so hielt er sie doch für noch viel berechnender, als sie war. Erst als sie bei dem hellerleuchteten und noch vollbesetzten Café Daum vorüberkamen, wies er darauf hin und sagte:
»Das Theater muß eben aus sein. Ich wette, daß in diesem Augenblicke Dutzende von Pfeilen gespitzt und abgeschossen werden. Ein Glück, daß sie vorbeifliegen.«
»Ach, solche Pfeile fliegen nie vorbei, wenigstens nie ganz, und die spitzigsten am wenigsten.«
»Aber sie töten nicht, solange sie nicht vergiftet sind.«
»Die ganz spitzen sind immer vergiftet. Das läßt sich an jedem Mückenstiche studieren.«
»Aber Gott sei Dank auch die Ungefährlichen.«
»Nur leider nicht die Schmerzlosigkeit, und wenn ihrer viele kommen, so hat man ein Fieber und eine schlaflose Nacht.«
»Und so spricht ein Liebling des Publikums, ein Verzug, ein Glückskind?«
»Viel Feind', viel Ehr'. Aber auch viel Ehre, viel Feind'. Und ein Glückskind! Nun ja, vielleicht. Aber an jedes Glück hängt sich ein Unglück.«
»Umgekehrt, ein Glück kommt nie allein.«
Unter so zugespitzter Rede waren sie bis an den Kärntnerring und die Schwarzenbergbrücke gekommen und gingen nun auf die Salesiner Gasse zu, deren vorderstes Eckhaus Franziska bewohnte. Das eine Fenster war hell erleuchtet und schickte sein Licht ihnen entgegen über den Platz hin.
»Und was, wenn die Frage nicht zudringlich ist, finden Sie nun daheim, meine Gnädigste?« nahm Egon das Gespräch wieder auf.
»Oh, das Beste, was man finden kann: ein Feuer im Kamin und ein Paar warme Schuhe.«
»Einigermaßen genügsam.«
»Und dazu Lieb' und Treue und ein Geplauder von der Heimat.«
»Und wer gewährt Ihnen das?«
»Mein zweites und mein besseres Ich, meine Freundin und Dienerin zugleich. Und wenn sie nicht gleichen Alters mit mir und sehr streng und sehr tugendhaft wäre, so würd' ich sie Ihnen kurzweg als die Amme der italienischen Komödie vorstellen. Aber eins ist sie gewiß: in jeder Sorge mein Trost und in jeder unklaren Sache mein gutes Gewissen.«
»Beneidenswert!«
»Ei, das mein' ich auch... Aber hier sind wir am Ziel, Graf Egon.« Und die Glocke ziehend und ihm dankend, stieg sie rasch die Stufen hinauf.
Auf der dritten Treppe wurde sie von ihrer Dienerin empfangen und trat gleich darnach in den Vorflur, wo sie die Schneestäubchen von ihrem Mantel abschüttelte. »War niemand da, Hannah? Nein? Nun, desto besser, und nun bringe mir den Tee.«
»Ja, darauf ist heute nicht mehr gerechnet, Schatz. Ich habe keinen Tropfen Rahm im Hause.«
»Tut nichts, dann nehmen wir einen Tropfen Kirschwasser. Irgendwas wird doch da sein. Aber eile dich. Ich hab' es so kalt.«
Und eine Viertelstunde später saß Franziska zurückgelehnt in einem Schaukelstuhl und sah in die Kaminflamme, während Hannah ihr den Tee bot und sich neben sie setzte.
»Hier, noch ein Oblatenbrot«, sagte diese; »glücklich gerettet. Und nun erzähle.«
»Ja, das ist leicht gesagt, Hannah. Erzähle! Aber was? Eigentlich weiß ich selber nichts, und woher sollt' es auch kommen? Eine Gräfin kann einem doch nicht gleich ihre Lebensgeschichte zum besten geben.«
»Ist auch nicht nötig und will ich auch nicht wissen. Nur ein bißchen von allem oder doch von der Hauptsache. Nimm also wenigstens einen Anlauf und sage mir, wer da war und wie sie hießen.«
»Nun gut. Also da war zunächst die Gräfin selbst, von der die Karte kam, und dann ihr Bruder, der alte Graf. Nun, den kennst du. Du hast ihn ja neulich selber gesehen und gesprochen und könntest mir eigentlich sagen, ob er dir gefallen hat. Was denkst du von ihm? Was sagst du?«
»Dreierlei.«
»Gut; nenn es.«
»Er ist alt und möchte gern jung sein, er spielt den Weltmann und ist eigentlich bloß ein Wiener, und drittens und letztens: Er glaubt, daß sich alle Weiber um ihn reißen, und wird doch eigentlich nur genasführt.«
»Er gefällt dir also nicht?«
»O doch. Er gefällt mir schon.«
»Ein Geck kann einem nicht gefallen.«
»Er ist auch kein Geck. Mitunter streift er daran oder steht auch schon mittendrin. Denn er hat all die Narrheiten eines alten Junggesellen und Theaterenthusiasten. Aber ganz zuletzt ist er doch wieder anders. Ich glaube, daß er ein sehr gutes und braves und sogar ein edles Herz hat. Er ist vornehmer und besser als irgendeiner der jungen und namentlich der alten Herren, die dir einen Besuch gemacht haben.«
»Sieh, das freut mich, daß du das sagst. Und in seinem eigenen Hotel oder in dem seiner Schwester ist er noch viel liebenswürdiger als hier. Denn hier fühlt er die Verpflichtung, mir nach Art alter Herren den Hof zu machen, in seinem Hause dagegen fühlt er nur die Verpflichtung, artig zu sein. Und das ist für unsereins schließlich mehr. Du weißt ja, wie man gewöhnlich mit uns spricht. Und nun will ich dir auch sagen, wer die beiden anderen in der Gesellschaft waren. Der eine war ein Liguorianerpater, ein Fünfziger, groß und stattlich, und der andere, nun, der andere, das war ein junger Graf, Graf Egon, ein Neffe des alten, ich glaube, sehr hübsch und Adjutant bei Erzherzog Rainer.«
»Und hat dir natürlich am besten gefallen?«
»Nein, nicht das. Er hat mir nur nicht mißfallen; das ist alles, was ich sagen kann. Er hat etwas von dem mir unerträglichen ›von oben herab‹, und wenn ich mich entscheiden und jedem einzelnen einen Rang in meinem Herzen anweisen sollte, so würd' ich die Gräfin obenan stellen und dann den Pater. Oh, sie waren beide charmant und dabei so klug und verbindlich, wie nur vornehme Katholiken sein können. Schon ihre Stimmen...«
»Ja, sie haben eine verführerische Stimme, Fränzl! Ich weiß davon. Aber das darfst du mir nicht antun und deinem Pastorvater im Grabe nicht, so lau und flau er war, daß du zuviel auf diese Stimme hörst... Nur auf meine mußt du hören, wenigstens jetzt, in diesem Augenblick, und die mahnt dich, daß es auf Mitternacht geht und morgen um zehn Uhr Probe ist. Mach also, du mußt ausschlafen.«
»Aber erst noch unsern Spaziergang, sonst schlaf ich überhaupt nicht. Und außerdem hin ich abergläubisch.«
Hannah brachte Mantel und Kappe, wickelte Franziska darin ein, und nun stiegen Herrin und Dienerin eine nur wenige Stufen zählende Treppe hinauf, die vom dritten Stock aus direkt auf das Flachdach des Hauses führte. Hier standen den Sommer über allerhand Kübel und Topfgewächse, jetzt aber sah man nichts als ein paar Bretterlagen und einen Berg Schnee, den der Wind nach der einen Seite hin zusammengefegt hatte.
Sie gingen ein paarmal auf und ab und sahen auf die Stadt, auf deren verschneite Dächer das Mondlicht fiel. Aus der Ferne hörte man das Läuten einzelner Schlitten, aller eigentliche Lärm aber schien erstickt unter dem weißen Tuch.
Und nun traten sie bis an die Brüstung, wo der zusammengewehte Schnee lag, und sahen in den Winterhimmel hinauf, der in wundervoller Pracht über ihnen glitzerte.
»Sieh, das ist der Große Bär. Und da sind wir zu Haus, da liegt unsere Jugend, unsere Kindheit. Ach, Hannah, es war doch unsere schönste Zeit, als wir noch abends in den Turm gingen und die Betglocke läuteten und die Grabsteine der alten Pastoren anstarrten, die mit ihren Ringkragen an den Wänden umherstanden. Und wenn uns dann der Glockenstrick aus der Hand fuhr und mit einemmal in die Höhe schnellte, sieh, da war mir's immer, als hätte sich der Gottseibeiuns über unser Läuten gebost und den Strick uns weggezogen.«
»Ach, rede nicht so, Fränzl; wenn du so sprichst, dann überdenkst du jedesmal etwas Tolles oder Törichtes.«
»Aber diesmal nicht. Ich überdenke gar nichts. Ich habe nur mit einemmal eine schmerzliche Sehnsucht nach dem Kirchenplatz hin, wo wir spielten und uns auf die Holzstämme setzten und Geschichten erzählten. Und von fernher hörten wir dann das Meer, das draußen rauschte. Mir ist's, als hört' ich's noch.«
»Willst du zurück?«
Franziska schüttelte den Kopf. »Nein, nicht zurück. Eine Sehnsucht ist etwas anderes als der Wunsch, es wiederhaben zu wollen. Was sollt' ich auch da? Mit einer Schauspielerin ist es ein eigen Ding. Im Petöfyschen Hause gilt sie viel oder vielleicht viel, aber im Hause vom Bäckermeister Utpatel, auf dessen Bank wir immer saßen und Butterblumenstengel zusammensteckten, in dessen Hause gilt sie wenig oder nichts. Nein, Hannah, nicht zurück! Aber zurück oder nicht, die Liebe bleibt, und einen Gruß wollen wir wenigstens in die Heimat hinüberschicken.«
Und sie nahm eine Handvoll Schnee vom Boden und warf ihn nach Norden zu. Der Nachtwind aber, der ging, zerstäubte den Ball wieder und trug die Kristallchen blinkend durch die Luft.