Theodor Fontane
Graf Petöfy
Theodor Fontane

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Sechstes Kapitel

Graf Egon hielt Wort, und schon den zweiten Tag darnach, als beide Freundinnen von einem Mittagsspaziergang zurückkehrten, fanden sie zwei Karten vor, die von einem Lohndiener abgegeben waren, während die Gräfin selber in einem zurückgeschlagenen Wagen vor der Veranda gehalten hatte. Phemi drehte die für sie bestimmte Karte hin und her und las mit Betonung jeder einzelnen Silbe: »›Reichsgräfin Judith von Gundolskirchen, geborene Gräfin Petöfy.‹ Wundervoll, und kommt in der Schale, wenn ich erst wieder in Wien bin, obenauf. An Grafen ist kein Mangel bei mir, aber Gräfinnen sind desto seltener. Glaube mir, Fränzl, dergleichen ist nicht nur hübsch, sondern auch nützlich, und man muß jede gute Brise benützen... Und in einem Wagen sagtest du, Hannah?«

»Ja, in einem Wagen«, bestätigte Hannah. »Und es war eigentlich nur ein Hotelwagen von drüben, aber alles herrschaftlich zurechtgemacht und der Kutscher mit Handschuhen. Er sah so feierlich aus, daß mir das Lachen ankam. Und dazu der lange Sepp als Lohndiener und einen Frack an. Und alles bloß für uns, Fräulein Phemi, wirklich bloß für uns. Denn an der nächsten Ecke sah ich sie kehrtmachen, und ehe ich noch bis hundert zählen konnte, hielten sie schon wieder vor dem ›König von Ungarn‹.«

Franziska war mehr bestürzt als erfreut. Allerdings waren ihr die Winterabende bei der Gräfin in durchaus freundlicher Erinnerung, aber die Beziehungen von damals wiederaufgenommen zu sehen entsprach wenig ihren Wünschen.

Am andern Tage gaben beide Damen in Abwesenheit der Gräfin ihre Gegenkarten ab, und Franziska lebte der Hoffnung, daß es dabei sein Bewenden haben werde. Darin irrte sie jedoch, und schon derselbe Tag war dazu bestimmt, eine persönliche Begegnung herbeizuführen. Es kam dies so:

Zu den kleinen Zerstreuungen Franziskas und Phemis gehörte namentlich auch der Bahnhofsbesuch, wo sie zu promenieren und das bunte Treiben der ankommenden und abgehenden Züge zu beobachten pflegten. Auch heute hatten sie sich eingefunden und bogen eben aus den Anlagen in den parallel mit der Bahn laufenden Kiesweg ein, als Franziska der Gräfin ansichtig wurde, die, von ihrer Kammerjungfer gefolgt, auf dem Perron auf und ab ging und ebenfalls den von Wien kommenden Vieruhrzug abzuwarten schien. Es fehlten nur noch einige Minuten. Ein Sich-vermeiden-Wollen wäre wenig schicklich, außerdem auch undurchführbar gewesen, und so trat denn Franziska an die Gräfin heran und bat nach den ersten Begrüßungsworten, ihr ihre Freundin Euphemia La Grange vorstellen zu dürfen. Die Gräfin reichte dem Fräulein die Hand und sprach ihr Bedauern aus, den ihr zugedachten Besuch der beiden Damen verfehlt zu haben, zugleich Franziska versichernd, wie sehr sie sich freue, die so plötzlich unterbrochene Winterbekanntschaft in diesen schönen Maitagen erneuern zu können.

»Ich habe von Ihrer andauernden Krankheit gehört«, fuhr sie fort, »und muß mich anklagen, mich dabei so säumig und anscheinend teilnahmlos gezeigt zu haben. Aber ich war gut unterrichtet, erst durch meinen Bruder und später durch meinen Neffen, Grafen Egon. Und nun bitt' ich die Damen, einen Platz für mich suchen oder wenigstens die Promenade wieder aufnehmen zu wollen, denn meine Füße versagen mir im Stehen den Dienst und mahnen mich an die lange Reihe meiner Jahre.«

Dabei schritt sie den Damen vorauf auf ein Tempelchen zu, das auf einem künstlich aufgeworfenen Hügel inmitten der Anlagen errichtet war. Ehe sie jedoch die Stufen desselben erreichen konnte, hörte sie schon das Herannahen des Zuges und entschuldigte sich nun, das eben erst begonnene Gespräch auch schon wieder abbrechen zu müssen, aber sie sei hier, um einen lieben Freund zu begrüßen, den sein Weg von Wien aus nach Wiener-Neustadt führe. »Sie kennen ihn ja, mein liebes Fräulein«, setzte sie hinzu, »Pater Feßler, ein eifriger Verehrer von Ihnen und als solcher oft Gegenstand unserer Neckereien. So Sie mir gestatten, bring' ich ihm Grüße von Ihnen.« Und damit empfahl sie sich und ging, von ihrer Jungfer gefolgt, auf den Perron zurück.

Euphemia sah ihr nach und sagte: »Charmante alte Dame, jeder Zoll eine Gräfin. Ich glaube zwar, trotz aller Liebenswürdigkeit, sehr stolz. Aber es ist mit dem Stolz wie mit der Tugend, worüber ich dir erst neulich einen kleinen Vortrag gehalten habe; weißt du noch? Und sieh, alles, was ich dir damals von der Tugend und den Tugendschaften sagte, das paßt auch auf die Stolzen. Ich leg' ihre Karte noch mehr obenauf... Aber wer ist nur der Pater Feßler?«

»Überzeuge dich selbst; eben ist er ausgestiegen und spricht mit der Gräfin.«

»Ein schöner Mann.«

»Und sehr angenehm im Umgang.«

»Er wird dich am Ende noch bekehren.«

»Zweifle.«

»Wer weiß? Eine geborene Predigerstochter und gewordene Liebhaberin und Soubrette, nimm mir's nicht übel, Fränzl, aus solchen Zutaten kann alles werden.«

 

Seit dieser Begegnung hatte sich ein Verkehr zwischen hüben und drüben entwickelt, der sich indessen auf bloße Begrüßungen beschränken zu wollen schien. Jeden Morgen, wenn beide jungen Damen auf ihrer Veranda saßen und Phemi die Zeitung studierte – denn sie war eine Politikerin, ungemein für Freiheit und noch mehr für Aristokratie –, erschien die Gräfin auf ihrem Balkon, anscheinend um nach dem Wetter, in Wahrheit aber um nach den jungen Damen zu sehen, und wenn dann diese sich erhoben, um ihren Respekt zu bezeugen, so nickte sie beiden ihren Morgengruß zu, bevor sie sich wieder in ihre Zimmer oder am liebsten auf einen nach hinten zu gelegenen Gartenbalkon zurückzog.

Aber dabei blieb es.

»Es wird nicht viel«, sagte Phemi, die sich über dies Halbverhältnis ärgerte. »Wir kommen nicht von der Stelle mit ihr, und am Ende wär' es besser gewesen, wenigstens für mich, Graf Egon hätte mir dies Öslauer Idyll und die Ruhe meiner Seele nicht gestört. Ach, es war so still hier, Franziska, so konflikt- und tragödienlos, und wenn ich vielleicht doch noch Medea war, so war es Medea während der Freundschaftsschließung mit Kreusa, die Zeit vor der Eifersucht und den unliebsamen Gefühlen überhaupt. Wirklich, ich war, wie Fridolin in der Ballade, so sanft und rein und natürlich auch glücklich, aber seitdem dieser Maledetto von Egon hier war, ist eine totale Gemütsveränderung mit mir vorgegangen. Ich habe meine Fridolinrolle vertauscht und könnte mich jeden Augenblick ans Spinnrad setzen. Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer. Wirklich, Schatz, ich werde täglich nervöser, und wenn nicht bald etwas geschieht, so reis' ich ab.«

»Ich weiß, du wirst bleiben, Phemi; du hast ein Zeugnis auf Molkenkur und mußt nun aushalten. Alles straft sich und am meisten das Lügen... Aber da kommt ja der lange Sepp von drüben, und wenn ich sein Zwinkern und seine Wichtigkeit recht verstehe, so bringt er uns eine Botschaft.«

Und wirklich, er kam von der Gräfin und übergab ein an Franziska gerichtetes Billett. Es lautete:

»Vielleicht ist es den Damen genehm, an einer Partie teilzunehmen, die wir heute nachmittag in die Berge machen wollen. Mein Neffe Egon und mit ihm der junge Graf Pejevics, der Fräulein Phemi zu kennen vorgibt, sind mit dem letzten Bahnzuge hier angekommen und rechnen auf ein ja der beiden Damen. Am meisten aber Ihre Judith v. G.«

Eine kurze Nachschrift, in der es hieß: »Nicht später als drei«, war hinzugefügt, und der Bote brachte die Nachricht zurück, daß sich beide Damen zu festgesetzter Stunde die Ehre geben würden.

Und wirklich um Punkt drei schritten sie dem »König von Ungarn« zu, vor dessen Freitreppe der heute jeder Galavorrichtung entkleidete Hotelwagen bereits hielt. Auch die Gräfin war schon da, stellte die Herren und Damen einander vor, trotzdem diese sich von kurz oder lang her bereits kannten, und bat, als sie dessen gewahr wurde, ihrer Zerstreutheit halber um Entschuldigung. Endlich aber wandte man sich der wichtigen Frage zu, wie hinsichtlich des Gehens und Fahrens die Rollen zu verteilen seien, und entschied sich nach längerer Debatte dahin, daß die Gräfin und Graf Egon in der Serpentine den Berg hinauffahren, die beiden Damen aber in Begleitung von Graf Pejevics einen näheren Fußweg einschlagen sollten. Oben auf dem Berge werde man sich dann ziemlich a tempo treffen. Und nun trennte man sich, und die wenigstens auf Augenblicke noch zurückbleibende Jugend sah dem mit Egon und der alten Gräfin langsam dahinfahrenden Wagen nach.

»Ich sollte nun wohl Ihren Führer machen«, hob Graf Pejevics an, »aber obschon Generalstäbler, erkenn' ich mich doch unfähig dazu. Sie müssen helfen, meine Damen, und mir die nötigen Direktiven geben. Ein ganz besonderes Vertrauen aber hab' ich zu der Strategie von Fräulein Phemi La Grange.«

Phemi war es zufrieden und schlug vor, einen etwas abseits gelegenen Zickzackweg zu benützen, einmal, weil es dabei was Tüchtiges zu steigen und zu klettern gebe, was doch immer die Hauptsache bleibe, vor allem aber, weil man vorher einen großen Wiesengrund, einen vollkommenen Wurstelprater, zu passieren habe, bei dessen Anblick man sich mal wieder wienerisch fühlen, ja vielleicht sogar ein paar Kolleginnen in ihren Geheimnissen der Kunst und des Lebens belauschen könne.

Niemand widersprach, und so traten sie denn aus einem bloß aus Remisen und Stallgebäuden bestehenden Gäßchen, das sich dicht hinter dem Hotel hinzog, auf einen ansteigenden Ackerstreifen hinaus und wurden hier alsbald einer querlaufenden Senkung gewahr, in der sich ein Schützenplatz etabliert hatte. Die Schützen ihrerseits waren auch schon fleißig am Werk, aber das anderweite Fest- und Jahrmarkttreiben ruhte noch oder befand sich doch höchstens in einer verschwiegenen Vorbereitung für den Abend. Selbst der Mann in der Würfelbude nickte, denn niemand in der heißen Nachmittagsstunde war da, der sein Glück hätte versuchen mögen. So war das Budentreiben, das in diesem Augenblick kein Treiben war.

Aber der von Phemi beliebte Weg lief auch nur eine kurze Strecke lang in Front dieser Buden hin und bog vielmehr nach fünfzig Schritten schon an einem mehrstöckigen Karussell vorbei, dessen Fahnen jetzt schlaff in der Luft herabhingen, in einen hinter der Budenreihe hinlaufenden Seitenweg ein.

»Ah, hier fängt es an«, sagte Phemi, während sie sich voll augenscheinlicher Befriedigung umblickte. »Hier sind wir hinter den Kulissen.«

Und wirklich, es war, wie sie sagte. Der den langen Degen verschluckende Spanier, der magere Feuerkönig, der Herkules, der sich den Amboß auf die Brust packte, und der Pyramidenmann, der sich seine drei Kinder auf die Schultern stellen läßt – alle traten einem hier in schöner Menschlichkeit entgegen, am menschlichsten aber, wie selbstverständlich, die Frauen, die sich, während sie wuschen und plätteten oder ein Kleidungsstück mit einem neuen Flitter besetzten, zu gleicher Zeit ihren zum Teil weitgehendsten Mutterpflichten unterzogen. Es war nichts Schlimmes, was dabei zutage trat; da man indes nicht wissen konnte, was vielleicht noch komme, so waren beide Damen und sogar Phemi doch schließlich froh, als sie die »Wohnungswagen« hinter sich und statt ihrer die nun beginnende Reihe der Gepäckwagen zur Seite hatten. Es fehlte hier an all und jedem Beängstigenden, und an Stelle davon traten Genrebilder von durchaus harmlosem Charakter. In einer an vier Ketten hängenden Schoßkelle schlief eine Hundefamilie, während auf dem Rand einer großen Trommel ein ältlicher und etwas fadenscheiniger Rabe saß, in betreff dessen es zweifelhaft blieb, ob er sich bloß zufällig hier eingefunden oder aber den Rang eines wirklichen Mitglieds der Truppe habe. Phemi war natürlich der letzten Ansicht und beteuerte wiederholt, daß ein Schützenplatz ohne Wahrsagerei gar nicht möglich und die vorhin gesehene schwarze Frau mit dem Kind an der Brust aller Wahrscheinlichkeit nach die Lenormand dieses Kreises gewesen sei. Sie habe durchaus auch die Requisiten dazu gehabt: einen stechenden Blick und einen falschen Scheitel. Und das dritte sei eben dieser Rabe. Übrigens käme die Wahrsagerei wieder in Mode, was auch gut und erklärlich sei, denn je freier der Mensch werde, desto nötiger werd' ihm der Hokuspokus.

Graf Pejevics, der gerade vornehm genug war, um ungestraft liberalisieren zu können, wollte demgemäß widersprechen, aber Phemi ging mit Hilfe von Spiritismus und Amerikanismus, zwischen denen sie gleichzeitig auch allerlei natürliche Zusammenhänge finden wollte, sofort zu Beweisen über und zeigte sich dabei so beredt und zeitungsbelesen, daß man den ansteigenden Talweg bereits halb hinauf war, als der Anblick des jetzt in gleicher Höhe mit ihnen fahrenden Hotelwagens ihren Vortrag momentan unterbrach.

»Ah, die Gräfin!« Und sie grüßte mit ihrem Tuch über die tiefe, mit Tannen besetzte Schlucht hinweg.

»Phemi!« sagte Franziska.

Phemi nahm aber den Tadel, der sich darin ausdrückte, nicht an und sagte nur lachend: »Ich weiß schon, was ich tu'. Frage nur Graf Pejevics. Man muß die vornehmen Leute nicht immer daran erinnern, daß sie vornehm sind.« Und dabei winkte sie ruhig weiter. »Übrigens laß dir sagen, Schatz, daß das alles nur uraltes Sommerfrischen- und Badevorrecht ist. In der Stadt rückt sich's leichter wieder zurecht.«

Eine Viertelstunde später waren unsere drei Fußgänger glücklich oben, und als gleich darnach auch der Wagen erschien, hatte Phemi bereits einen Platz gefunden, der jeden erdenkbaren Vorzug in sich vereinigte: temperierte Sonne, Schutz vor Wind und Zug und einen wundervollen Blick in die Landschaft.

»Wie schön!« sagte die Gräfin, und Franziska gab ihr ein Mäntelchen um, während Egon ein Kissen aus dem Wagen und Graf Pejevics eine Fußbank herbeiholte. »Hier bleiben wir, nicht wahr, und schonen unsere Kräfte? Wenn man das Gute hat, muß man das Bessere nicht auf allerlei Gefahr hin haben wollen. Und nun, Egon, mache den Wirt; oder besser noch, Fräulein Phemi. Zu der hab' ich ein Vertrauen und bin ganz sicher, daß sie nicht bloß den artigsten und raschesten Kellner, sondern auch den besten und frischesten Kuchen für uns entdecken wird.«

Und nun kamen die heiteren Stunden oben auf dem Aussichtspunkt, schön und heiter auch für Franziska, die das Berg-und-Burgenpanorama noch nicht kannte, darunter Schlösser und Türme, die seit der Türkenzeit in Trümmern lagen. Am meisten interessierte sie die Ruine von Schloß Merkenstein, und Graf Egon, der landeskundig war, erzählte von einer rätselvollen Buchstabeninschrift »O.H.I.N.N.«, die sich bis diesen Tag an dem stehengebliebenen Portal der Burgruine befinde. Phemi, die sich mitunter auf die Wissenschaftlichkeit hin ausspielte, wollte die Bedeutung davon für ihr Leben gern erraten und ruhte nicht eher, bis ihr Egon die Buchstaben ins Notizbuch geschrieben und schließlich, als alles Raten umsonst geblieben, die Versicherung gegeben hatte, daß nur der Wiener Witz bis dato die Deutung dafür gefunden habe.

»Welche?« fragte das Fräulein neugierig.

»Oesterreich Hinkt Immer Noch Nach.«

Und nun gab es ein norddeutsch übermütiges Lachen von seiten der beiden jungen Damen, das erst schwieg, als sie halb erschrocken einen spöttisch superioren Zug um den Mund der beiden Grafen spielen sahen. Aber Phemi witzelte rasch die kleine Verstimmung fort, und Graf Pejevics, der erst wenige Tage wieder aus England zurück war, wohin er sich der Rennen halber begeben hatte, wurde jetzt eindringlich gebeten, über seine Reise zu berichten, ganz besonders auch von seiten der alten Gräfin.

»Ich bin halb von englischer Extraktion«, sagte diese. »Meine Mutter war eine Howard und meiner Mutter Mutter eine Talbot.«

»Eine Talbot!« wiederholte Phemi mit einem beinahe komisch wirkenden Ernste, dem man es deutlich anhörte, daß die halbe »Jungfrau von Orleans« an ihrem inneren Auge vorüberzog.

»Aber trotz dieser nahen und nächsten Beziehungen«, fuhr die Gräfin fort, »war ich nie dort. Ich hab' eine Scheu vor der Überfahrt und höre jedesmal zu meinem Troste, daß es keinen schlimmeren ›Pas‹ geben soll als den Pas de Calais. Indessen, wenn ich auch niemals dort war, ich höre doch gern davon. Alles ist interessant und eigenartig und zeigt uns das Leben von einer neuen Seite. Wie fanden Sie London?«

»Vor allem ohne Londoner und beinahe auch ohne Engländer. Es ist dasselbe wie mit Wien, wie mit allen großen Städten. Sie werden zum Rendezvous für die Provinzen oder die Welt überhaupt. In London ist alles ›irish‹ und ›scotch‹, und wollte man die Deutschen zählen, so fände man wahrscheinlich mehr als in unserem guten Wien. Im übrigen, um auch das noch zu sagen, ich kann mich mit einer Lebensweise nicht befreunden, die den Tag mit Speck und Ei beginnt und ihn mit Kognak abschließt. Kardinal Antonelli soll denn auch ausgerufen haben: ›Ich mag kein Volk, das vierzig Sekten und eine Sauce hat.‹ Er hätte nach meinen Erfahrungen auch noch hinzusetzen können: alles sei schwer und massig in diesem Lande, sogar die Träume. Wenigstens sprechen sie selber von plumpudding dreams.«

Es fehlte, wie sich denken läßt, nicht an Opposition dagegen, am meisten von seiten Phemis, die nicht müde wurde, vom Großen Freibrief an über Milton und Shakespeare weg bis zu Scott und Thackeray hin alles zu loben und zu preisen. Egon und Graf Pejevics amüsierten sich ersichtlich und stimmten mit ein oder widersprachen auch, je nach Laune.

So schwanden die Stunden, und erst als die Sonne gesunken und statt ihrer die Mondsichel sichtbar geworden war, erhob man sich, um den Rückweg anzutreten.

Auch die Gräfin zog jetzt vor zu gehen und sprach nur den Wunsch aus, daß der am wenigsten abschüssige Weg eingeschlagen würde. Graf Pejevics bot ihr den Arm, und Phemi plauderte nebenher, während Egon mit Franziska folgte.

Man ging anfänglich sehr vorsichtig, vorsichtiger noch als nötig; als man aber die Kuppe passiert und die breiteren Gelände gewonnen hatte, machte sich's, daß man nicht nur in aller Bequemlichkeit, sondern auch in einem beflügelten Marschtempo marschieren konnte. Denn das bunte Treiben auf dem Schützenplatz unten hatte mittlerweile begonnen, und die festen Takte von Trommel und Pauke drangen bis hoch an den Abhang hinauf. Um jedes Karussell her waren Lichter und Lampions, und inmitten eines eingefriedigten Platzes, auf dem trotz der Mondhelle noch viele Pechfackeln brannten, erkannte man nicht nur Pierrot und Harlekin, sondern hörte ganz deutlich auch das Gelächter, das die Kapriolen und Witze beider begleitete.

»Wir kommen gerade zu guter Zeit«, wandte sich Egon an seine Begleiterin. »Und ich freue mich darauf. Können Sie sich denken, daß ich ein wirkliches Vergnügen an diesen Dingen habe?«

»Gewiß«, antwortete Franziska, »das dürfen Sie, das ist Ihr gutes Recht. Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würd' ich es auch haben. Aber unsereins ist doch mehr oder weniger geniert und empfindet leicht eine Verwandtschaft heraus, die schließlich bedenklich ist.«

»Sie scherzen«, sagte der Graf, »oder wenn es wirklich Ihr Ernst ist, so möcht' ich fast von Empfindelei sprechen dürfen.«

»Empfindelei vielleicht. Aber Scherz, nein. Ich nehm' es ganz ernsthaft. Auch glaub' ich kaum, daß ich damit vereinzelt dastehe.«

»Phemi?« lachte der Graf.

»Nein, Phemi nicht. Aber andere, wobei mir eine kleine, dasselbe Gefühl ausdrückende Lenau-Geschichte wieder in Erinnerung kommt, die mir Bauernfeld letzten Winter erzählte.«

»Darf ich sie wissen?«

»Gewiß. Ich habe die Namen und näheren Umstände vergessen, aber gleichviel. In irgendeinem Wiener Restaurant, in dem Lenau verkehrte, befand sich eine junge Person, die nicht bloß die Gäste bediente, sondern auch Verse machte. Diese Verse nun wurden bei bestimmter Gelegenheit an Lenau gegeben, der sie las und sofort in eine befangene Stellung zu der neuentdeckten Dichterin geriet. Alles, was sie geschrieben hatte, war unter mittelmäßig, aber sich auch fernerhin von ihr bedienen zu lassen, erschien ihm nichtsdestoweniger unmöglich oder doch im höchsten Grade peinlich. Er sah in ihr die Kollegin, die Mitschwester, und wußte sich schließlich nicht anders zu helfen, als daß er fortblieb. Es hat das, als mir Bauernfeld davon sprach, einen großen Eindruck auf mich gemacht, und ich würd' es einen feinen und liebenswürdigen Zug an Lenau nennen, wenn ich mir nicht selber damit eine Schmeichelei sagte.«

»Die Sie sich mit gutem Gewissen sagen dürfen«, antwortete der Graf und nahm einen Augenblick ihre Hand. »Übrigens freut es mich aufrichtig, Sie so lenaubegeistert zu finden. Heute schon zum zweiten Male.«

»Wie das? Zum zweiten Male?«

»Nun, meine Gnädigste, Sie werden doch allen Ernstes nicht glauben wollen, daß ich das schöne ›Nach-Süden‹-Lied, wie Sie's damals nannten, und seine Schlußstrophe vergessen haben könnte?«

»Welches?«

»›Hörbar rauscht die Zeit vorüber an des Mädchens Einsamkeit...‹ Ich glaube, so hieß es. Es hat mich damals in seiner melancholischen Schönheit eigentümlich ergriffen und war der erste Plauderabend bei der Tante. Nur Feßler war zugegen und draußen Schnee gefallen. Entsinnen Sie sich noch?«

Franziska war betroffen, aber es gelang ihr, ihre Verlegenheit zu verbergen, und in einem immer lebhafter werdenden Gespräch schritten beide die Berglehne hinunter und auf die Budengasse zu.

»Sollten wir nicht lieber einen Umweg machen!«

»Oh, nicht doch«, antwortete die Gräfin, an die sich seitens Franziska diese Frage gerichtet hatte. »Mein Leben verläuft viel zu still und einsam, als daß es mir nicht eine Freude sein sollte, von ungefähr unter Menschen zu kommen. Ich such' es nicht auf, aber wenn es sich gibt, so heiß' ich es jedesmal willkommen.«

Und so mündete man denn wirklich in das bunte Fest- und Jahrmarkttreiben ein.

Eine Menge großer Schaubuden war da, Panoramen, an denen sie, dem Menschenzuge folgend, rasch vorübergingen, bis ihnen zuletzt ein kleines Zelt auffiel, über dessen Eingang in Transparent die Worte standen: »Einzige Verkündigung der Wahrheit« und darunter in kleiner Schrift: »Fünfzig Kreuzer.«

»Ah!« sagte Phemi, »da muß ich hinein. Oft ist mir die Wahrheit umsonst gesagt worden, aber sie war auch darnach. Nichts ist umsonst, nicht einmal die Wahrheit.«

Und sie schickte sich wirklich an, in das Zelt einzutreten.

Aber Franziska zog sie mit Gewalt zurück und sagte: »Du bleibst!«

Eine momentane Verlegenheit trat ein und schwand erst wieder, als man aus der Budengasse heraus war.

»Ich war überrascht, Sie so heftig zu sehen«, nahm endlich Egon das Gespräch wieder auf. »So heftig und so bestimmt.

»Und noch dazu gegen Phemi«, setzte Franziska lachend hinzu. »Phemi selbst aber wird mir am ehesten verzeihen. Ich konnte nicht anders und habe nun mal einen tiefen Widerwillen dagegen. Unser ganzes Leben ist eine Kette von Gnaden, aber als der Gnaden größte bedünkt mich doch die, daß wir nicht wissen und nicht wissen sollen, was der nächste Morgen uns bringt. Und weil wir's nicht wissen sollen, sollen wir's auch nicht wissen wollen

»Auch nicht einmal im Scherz, im Spiel?«

»Auch nicht einmal im Spiel. Denn es ist ein Spiel mit Dingen, die nicht zum Spielen da sind. Ich muß es wiederholen, ich hasse jede Neugier, die den Schleier von dem uns gnädig Verborgenen wegreißen will; aber am meisten widerstreitet mir doch die Neugier, die nicht einmal ernsthaft gemeint ist. Es gibt der tückischen Mächte genug, und ihre listig lauernde Feindschaft auch noch durch Spiel und Spott herausfordern zu wollen, tut nie gut und ist der Anfang vom Ende.«

Der Graf schwieg.

Bald darnach aber trennte man sich vor Phemis und Franziskas Veranda, bis wohin die Gräfin in Artigkeit gegen die jungen Damen diese begleitet hatte.


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