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Abermals waren Wochen vergangen und in Ablösung der sonnigen Tage, die seit Anfang August über Schloß Arpa gestanden, hatten sich Regentage eingestellt. »Es regnet wie auf dem Szekler Landtage«, sagte Franziska scherzhaft, und als der Graf nach der Bedeutung davon fragte, rezitierte sie zu seiner nicht geringen Erheiterung das gleichnamige Chamissosche Gedicht.
»Ei, da muß ich aus einem norddeutschen Gedicht erfahren, wie's auf dem Szekler Landtag aussieht«, lachte der Graf, und jedesmal, wenn er Franziska begegnete, wies er auf die Wasser, die draußen nach wie vor niederströmen, und wiederholte die Refrainzeile: »Der Regen regnet immer noch.«
Als es mit diesem Wetter anfing, versuchten beide zunächst noch ihre Spazierfahrten fortzusetzen, am dritten Tag aber waren die Wege bereits so grundlos geworden, daß man es aufgeben mußte. Nichts blieb ihnen als eine Promenade durch die Gewächshäuser und ein tagtägliches fleißiges Billardspiel, das Franziska wenigstens im Anfang sichtlich bemüht war zu lernen. Aber weder das eine noch das andere konnt' ihr eine rechte Freude schaffen, in den Treibhäusern war es zu wasserschwül, und das Billardspiel ärgerte sie, weil es ihr nicht gelang, es im Umsehen zu bemeistern. In allem, was sie tat, wollte sie rasche Resultate sehen.
Nichtsdestoweniger hielt man sich bei Stimmung und fand immer neue Mittel, um ein sich anmeldendes Unbehagen aus dem Felde zu schlagen. In allen Kaminen brannten riesige Feuer, der kleine Geistliche, wenn er zur Unterrichtsstunde kam, ward über den halben Tag hin festgehalten, und die kaum dreijährige Marischka, Toldys Jüngste, sah ihren Geburtstag gefeiert, als ob sie wenigstens eine Prinzeß gewesen wäre. Zweimal gab es auch Tanz. Zigeuner, denen man bei dem Unwetter einen Unterschlupf in einer Schloßbaracke gegönnt hatte, spielten zum Dank dafür ihre Czardas (Hanka selber war mit heraufgekommen), und Graf und Gräfin saßen all die Zeit über in der großen Halle, darin sich die Dienstleute versammelt hatten, und sahen dem Treiben zu. Selbst Josephine tanzte mit, unter den Klängen der Musik sich einer Exklusivität entschlagend, auf die sie sonst nur in ihren intimsten Privatverhältnissen zu verzichten pflegte.
So ging es anderthalb Wochen, und man hätte sich in neue gute Tage, die doch endlich anbrechen mußten, hinübergerettet, wenn nicht Krankheit gekommen wäre. Erst erkrankte Hannah und den Tag darauf auch der Graf.
Franziska nahm es nicht allzu schwer damit oder gab sich wenigstens das Ansehen davon, und als Hannah sie wegen der doppelten Krankenpflege bedauern wollte, sagte sie: »Hannah, ich begreife dich nicht. Wie du nur so töricht sein und alles so falsch ansehen kannst! Du tust mir leid, und der Graf tut mir leid, aber sprich nur nicht von Mitleid mit mir. Mir konnt' eben nichts Besseres geschehen als eure Krankheit. Ich bin doch nun das Billardspiel los und die Promenaden im Treibhaus und kann mich statt dessen mit etwas Vernünftigem beschäftigen, also zum Beispiel, ob eure Zudecke sich verschoben hat oder ob ihr vielleicht heimlich ein Buch habt, aus dem ihr lesen wollt und nicht sollt. Glaube mir, Hannah, ich schwärme geradezu für Barmherzige Schwesterschaft oder, wenn dir das zu katholisch klingt, für Diakonissentum; wenigstens hier. Der Graf wollt' es mir auch abdisputieren und einige meiner Krankenpflegepflichten in die Küche verweisen, die Kathis und Nanis hätten ohnehin nichts zu tun, aber ich hab' ihn bekehrt und ihm rundheraus gesagt, erst käme ich und dann die Kathis, und ich hätte nicht Lust, mir eine so gute Gelegenheit zum Zeitvertreib entgehen zu lassen. Und sieh, Kind, so liegt es wirklich. Ich gönne dir alle mögliche Gesundheit, weil ich weiß, daß du Krankheit nicht leiden kannst, aber wenn ich ein bißchen egoistischer wäre, so wünscht' ich dir jeden Tag einen furchtbaren Wadenkrampf, so furchtbar und so heftig, daß ich dich ganz in Senfpflaster einwickeln müßte. Das kenn' ich alles noch von meiner seligen Mutter her, und war eigentlich schlimm genug, aber mitunter war es auch eine wahre Wonne, wenn's einen so in die Augen biß, bis die Tränen kamen.«
»Male den Teufel nicht an die Wand.«
»Wegen des Krampfes oder wegen der Tränen?«
»Vielleicht wegen beidem. Ich hab' es nicht gern, wenn du so sprichst, Franziska. Bedenke doch, ich kenne dich von klein auf und weiß nur zu gut, daß dir ganz anders ums Herz ist. Es geht etwas in dir vor, und du willst es nur nicht aufkommen lassen.«
»Ach, du bist eine Törin. Aber lassen wir's. Ich will nun fort und nach deinem Leidensgefährten sehen, er wird sonst ungeduldig. Hier stell' ich dir die Medizin her und das abgebrauste Brausepulver. Und nun hast du alles, was du brauchst, zur Hand. Oder soll ich dir lieber noch die Josephine schicken?«
»O nein.«
Und nach diesem Zwiegespräch ging sie treppab. In dem Zimmer unten lag der Graf auf einem Feldbett, nur mit einem Militärmantel zugedeckt. Er hatte so seine Vorstellungen von dem, was sich für einen Soldaten gezieme, wohin vor allem auch ein künstlich genährtes Entsetzen vor dem Federbett gehörte. Nichts als das Ticktack der Uhr unterbrach die Stille. Die schweren Damastvorhänge der Fenster waren geschlossen, und nur vom Tisch her, auf dem eine mit einem Schleier verhangene Lampe stand, fiel ein mattes Licht auf das Lager des Kranken.
»Ei, das ist hübsch, daß du kommst, Fränzl. Ich habe die Minuten gezählt. Es ist so leer und öde hier, so leer und öde für mich schon, und wie muß es erst für dich sein! O dieser Regen! ›Es regnet, regnet immer noch.‹ Vorzüglich! Ich kann diese Zeile von eurem französisch-preußischen Dichter gar nicht loswerden. Aber nun setz dich und nimm den Lampenschleier fort, ich will dich deutlicher sehen können. Oder laß ihn doch lieber, ich komme sonst auch in eine helle Beleuchtung, und ein Kranker präsentiert sich am besten im Halbdunkel, wenn er sich überhaupt präsentiert. Ein vermaledeites Wetter! Und dreimal vermaledeit diese Neuralgie! Hier in der Hüfte sitzt es. Sie nannten es Ischias, die Herren Doktoren, aber das ist mir gleich, sie könnten es auch Inferno genannt haben oder geradezu Hölle. Judith, wenn sie davon hörte, würde sagen, es spuke vor. Aber es kann nicht jeder in den Himmel kommen. Dazu muß man eben einen Beichtvater haben wie Feßler, der fromm genug ist, einen Luzifer loszubeten. Glaubst du nicht auch? Apropos, ist ein Brief von Judith gekommen?«
»Nein.«
»Ich finde, sie läßt lange damit warten, und doch gibt es Situationen, in denen man umgehend schreiben muß oder doch in derselben Woche noch. Und nun sind es über zwei.«
»Die Gräfin kann krank sein wie du.«
»Kaum. Wer sich jeden Tag so reinbeichtet wie Judith, bei dem gedeiht keine Neuralgie. ›Krankheit wächst nur auf dem Beet der Sünde‹, sagen die Frommen, und vielleicht haben sie recht. Unter allen Umständen halten sie sich dessen gewiß, solange sie nicht persönlich in die Zwickmühle genommen werden, und nur eines ist mir noch gewisser, daß du hier seit vierzehn Tagen ein elendes und tristes Leben führst und daß mit diesem Elend und dieser Tristheit ein Ende gemacht werden muß, Ja, Fränzl, ein Ende gemacht, und wenn ich die Ziegler auf Gastrollen, etwa ›Medea‹ zweimal täglich, oder euren Bismarck auf eine Bärenjagd in den Karpathen einladen sollte – gleichviel, wir müssen heraus aus dieser Dumpfheit, in die kein Licht und keine Freude dringt.«
»Ich bitte dich, Petöfy, denk an dich und nicht an mich. Ich habe gute Tage.«
»Gute Tage? Graue Tage hast du.
»Nein, gute Tage, sag' ich. Und wenn sie nebenher grau sind, so laß sie; die grauen sind nicht die schlimmsten. Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.«
»Ist schon recht. Aber es hat's ein Mann gesagt, und ihr, ihr empfindet anders; ihr seid für Gegensätze, könnt Schwarz ertragen, aber nicht Grau, Tod und Unglück, aber nicht Langeweile. Kenne das und habe mir auch schon einen Plan ausgedacht. Sobald ich die Hand wieder rühren kann, schreib' ich an Phemi.«
»Nein, Petöfy. Das unterlaß. Ich bitte dich darum.«
»Aber ihr stimmtet doch so gut zusammen, und so mich nicht alles täuscht, hattest du wirklich ein Herz für sie.«
»Hatt' ich auch und hab' ich noch. Ich bin ihr ganz aufrichtig zugetan, und wenn sie meiner je bedürfen sollte – sie wird es nicht, sie weiß eben für sich selbst zu sorgen –, so werd' ich mich vor der Lächerlichkeit und vor der Undankbarkeit hüten, ihr gegenüber die Fremde herauskehren zu wollen oder wohl gar die Gräfin. Ich bin dessen überhaupt nicht fähig. Ich weiß das. Aber ebenso gewiß weiß ich auch, daß ich keine Veranlassung habe, diese Beziehung ohne Not wieder anzuknüpfen. Ich bin nun aus dem Kreise heraus und wünsche mich nicht wieder hinein. Am wenigsten aber wünsche ich, ein zweilebiges Leben zu führen, ein zweilebiges, das nach meiner Meinung nicht viel besser ist als keins.«
Er hatte den Kopf anfangs mißmutig hin und her gewiegt, aber diese Mißlaune ging rasch wieder in eine freundlichere Stimmung über. »Und so soll es denn immer Hannah sein! Hannah und immer wieder Hannah. Weißt du, Fränzl, ich bewundere deine Genügsamkeit, und daß ihr euch nicht ausplaudert.«
»Oh, wir können uns nicht ausplaudern, weil wir, was dich vielleicht überraschen wird, eigentlich überhaupt wenig plaudern.«
»Je nun, was tut ihr denn?«
»Wir verstehen uns.«
»Das ist freilich viel.«
»Beinahe alles.«
»Nun gut. Aber ist sie nicht etwas zu nüchtern, oder doch wenigstens nüchtern überhaupt?«
»Immer nur da, wo sie's sein darf, wo Nüchternheit ausreicht oder hingehört. Ich möchte sagen: nüchtern für alle Tage.«
»Und feiertags?«
»Ist sie voll Mut und Leidenschaft und liebt mich so, daß sie jeden Augenblick für mich sterben würde.«
»Das glaubst du?«
»Nein, ich weiß es und weiß es seit lange, seit meinem zehnten Jahr, da fing es an. Und wie sie sich damals gezeigt hat, so zeigt sie sich noch. Ich bin ihrer so sicher, wie daß ich lebe, ja, mein Zutrauen zu ihr ist grenzenlos. Sieh, um dir nur ein Beispiel zu geben, ich ängstige mich beim Gewitter, aber in ihrer Gegenwart fällt alle Furcht von mir ab. Es ist mir dann, als stünde mein Schutzgeist neben mir. Eigentlich könnt' ich dir von ihr erzählen, von ihr und meiner Kinderzeit. Aber sage mir, wenn der Anfall kommt und die Schmerzen; ich weiß, du bist dann am liebsten allein.«
»Erzähle nur; ich höre. Kinderzeit ist ohnehin unsere beste Zeit und die lehrreichste dazu. Da leben wir noch so recht eigentlich und zeigen uns, wie wir sind. In dem, was nachher kommt, ist so viel Zurechtgemachtes. Auch im Guten.«
»Avis au lecteur.«
»O nicht doch, Fränzl, ich hasse das, ich hasse das Hinterrückssprechen in Winken und Andeutungen. Aber du wolltest mir von Hannah erzählen und wie sie zuerst dein Champion wurde, dein Ritter ohne Furcht und Tadel. War es nicht so?«
»Ja. Du darfst es so nennen, denn es gab etwas von einer regelrechten Schlacht, und Blut floß. – Aber es ist kalt geworden. Erlaube mir also, daß ich zunächst für Feuer sorge, soweit die paar Kohlen dazu reichen, und vor allem diesen Schirm beiseite schiebe. Das Halbdunkel hier ist nur gut für Gespenstergeschichten, und die wären das letzte, was ich erzählen möchte.«
»Gib deiner Geschichte jede Beleuchtung, die du für gut hältst, vor allem aber gib die Geschichte.«
»Nun, also Hannahs Vater war Küster an der Kirche, wo der meinige Prediger war...«
»Ich entsinne mich...«
»Er war aber nicht bloß Küster, sondern auch Totengräber, was ihm in meinen Augen noch ein besonderes Ansehen gab. Er hatte langes, weißes Haar, viel weißer, als es seinen Jahren nach hätte sein müssen, und sah eigentlich immer aus, als ob er irgendeinem das letzte Gebet sprechen wolle. Trotz allem Grauen aber, das mir sein Ernst und seine Hagerkeit einflößten, hatt' ich ihn gern oder doch nicht ungern, weil mir alles an ihm apart vorkam und nicht zum wenigsten seine Wohnung, die dicht neben dem Kirchhofsgitter lag und eigentlich gerade so wirkte wie der alte Stedingk selber. Denn das war sein Name, Tordeson Stedingk, und es hieß, daß er von den schwedischen Stedingks herstamme. Sommers standen immer frisch angestrichene Bahren, die trocknen sollten, um sein Haus her, Grund genug zu Grusel und Angst, am meisten aber ängstigte mich ein kleines Gärtchen, das von Buchsbaum eingefaßt war und darin nur immer Studentenblumen blühten. Einmal sah er mich und rief mich heran, um mir eine dieser gelben Blumen zu geben, aber ich war wie starr vor Schreck und schüttelte nur den Kopf. Als ich mich endlich wieder erholt hatte, lief ich fort und hatte dabei das Gefühl, als ob mich irgendwer an den Hacken halte.«
»Das wird aber doch eine Gespenstergeschichte.«
»Nein, nein. Ich verirre mich bloß und krame mehr aus, als zu meiner Geschichte gehört, alles nur, weil die Bilder von alter Zeit her wieder lebendig werden und so mächtig auf mich einstürmen, daß ich mich ihrer nicht ganz erwehren kann.«
Und sie tupfte, während sie so sprach, mit ihrem Taschentuch über die Stirn hin und fuhr dann fort: »Unser eigentlicher Spielplatz war ein großer Grasplatz um die Kirche her, auf dem Bauholz und allerlei Stämme lagen, die, wenn der Herbst kam, geschnitten werden sollten, Kiefern und Tannen und auch wohl Birken- und Eschenholz, in der Mitte des Platzes aber war ein Tümpel, durch den die Jungen, die gute Stelzenläufer waren, immer durchmarschierten, was mich so mit Neid und Entzücken erfüllte, daß ich's auch zu lernen anfing und nicht eher zufrieden war, als bis ich mit allem um die Wette mitten im Wasser stehen und auf einer Stelze balancieren und mit der andere präsentieren konnte. Du kannst dir denken, welche Wonne das war.«
Petöfy nickte seine Zustimmung.
»Aber«, fuhr Franziska fort, »was war der Kirchplatz im Vergleich zu dem Kirchhof, der dicht daneben lag und über dessen niedrige Mauer weg die Hagebuttensträucher bis in die Straße hineinwuchsen. An dem Kirchhofe hing unser ganzes Herz. Eigentlich war es kein rechter Kirchhof mehr, denn was starb, wurde seit Jahr und Tag schon vors Tor hinausgetragen und auf einem abgesteckten und ummauerten Stück Heideland begraben, einzelne Familien in der Stadt aber hatten noch ein Anrecht an den alten Kirchhof, und so kam es, daß immer noch von Zeit zu Zeit auf ihm beerdigt wurde. Das war denn allemal ein Festtag für uns, und wenn am Abend vorher, so gegen Sonnenuntergang, der alte Stedingk aus seiner Hoftür trat und sich ans Graben machte, so fehlte keiner von uns, weil jeder neugierig war, ihn das Grab aufschütten zu sehen. Und einmal hatten wir auch wieder so gestanden und zugesehen, und als er zuletzt fertig war, unser schon draußen auf dem Kirchplatz begonnenes Spiel auf dem Kirchhof drinnen wiederaufgenommen. Es hieß ›Hirsch und Jäger‹ – ich weiß nicht, ob ihr das Spiel hier auch habt – der stärkste Junge, wie sich denken läßt, war allemal der ›Hirsch‹, der aufgestöbert oder auch in seinem Versteck überrascht, umstellt und zur Kapitulation gezwungen werden mußte. Dieser stärkste Junge nun, der damals mit uns spielte, hieß Willy Thompson und war eines reichen Schiffsreeders Sohn, dessen Familie von Inverness oder Aberdeen herübergekommen war. Denn in der kleinen Stadt war alles schottisch oder schwedisch, weil der Handel dahin ging. Nun, dieser Willy war eigentlich ein blondes Prachtstück, trotzdem er übermütig und hochfahrend und ein vollkommener Tyrann war, der uns in Schrecken und blindem Gehorsam hielt. Wenn ein Streit ausbrach, so stand alles auf seiner Seite, bloß aus Furcht vor ihm, und daß ihm irgendwer widersprochen hätte, kam eigentlich gar nicht vor.«
Der alte Graf richtete sich auf, ersichtlich immer interessierter, weil er bei dieser Schilderung die Bilder seiner eigenen Jugend wieder vor sich aufsteigen sah.
»Und so war es auch an dem Abend«, fuhr Franziska fort, »von dem ich erzähle. Kaum daß unser blonder Tyrann ausgeflogen und in seinem Versteck untergekrochen war, so war auch schon alles hinter ihm her, hierhin, dorthin, und während er sonst darauf rechnen durfte, nie gefunden zu werden, und dann ganz zuletzt, wie gutwillig, zum Vorschein kam, um uns zu verhöhnen und auszulachen, so hatten wir ihn heut' in fünf Minuten schon. In einer der Kirchhofsecken stand nämlich in schräger Stellung ein gußeisernes Monument, und in dem dreieckigen Winkel, der dadurch gebildet wurde, saß er und war nun gefangen. Unter einem ungeheuren Jubel holten wir ihn hervor, um ihn über den Kirchhof hin bis an die Anschlagstelle zurückzuführen. Als wir aber bis an die frisch gegrabene Grube gekommen waren, riß er sich plötzlich los, packte mich, die ich ihn besonders verhöhnt haben mochte, beim Zopf und schrie: ›Franze, du bist schuld; du hast geguckt, du hast mich verraten.‹ Ich sah, wie wütend er war, und legte mich aufs Versichern meiner Unschuld, aber er wurde nur immer wütender und schrie: ›Bekenn es, sag es, dann schenk' ich's dir; sonst, sonst...‹ und nun fing er an zu schwören: ›sonst werf' ich dich hier ins Grab.‹ In meiner namenlosen Angst fiel ich vor ihm aufs Knie, gerad, als ob sich's um mein Leben gehandelt hätte, und wirklich, ich glaub' auch, ich hätt' es nicht überlebt. Aber er wollte von nichts hören und wissen und zerrte mich auch wirklich schon auf die Stelle zu, wo mitten in dem eben aufgeworfenen Sandhaufen das große Grabscheit des alten Stedingk wie ein Kreuz im Zwielicht aufragte. Von den anderen Jungen hatte aber keiner den Mut, für mich einzutreten; als er jetzt aber oben stand und mich unerbittlich nach sich zog, sprang Hannah vor und sagte. ›Laß sie los!‹ Er aber lachte bloß, und es war auch zum Lachen, denn Hannah, die jetzt so derb und gesund aussieht, war damals ein blasses und schwächliches Kind und so mondscheinen, daß man sie durch und durch sehen konnte. ›Laß sie los!‹ rief sie noch einmal und legte die Hand auf die Grabscheitkrücke. – ›Dummes Ding, du sollst mit hinein.‹ – ›Laß sie los!‹ rief sie zum drittenmal, während ihr die Augen wie aus dem Kopfe traten, und als er noch immer nicht abließ und mich weiterzerrte, riß sie plötzlich das Grabscheit aus der Erde heraus und stieß es ihm mit solcher Gewalt vor die Brust, daß er rückwärtstaumelte. Voll Geistesgegenwart griff er im Fallen noch nach einem Hagebuttenstrauch und hielt sich fest, während ihm zu unser aller Entsetzen das Blut über die Turnjacke floß; denn das nach obenhin ausgleitende Grabscheit hatte mit einer seiner scharfen Ecken ihm das Kinn bis an die Lippe hin aufgeschnitten. Und so hielt er sich eine Weile noch, bis er zuletzt ohnmächtig vor Schmerz und Blutverlust in denselben Hagebuttenstrauch hineinfiel, der ihn vor dem Niederstürzen ins Grab bewahrt hatte. ›Blut besiegelt‹, sagt das Sprichwort, und das Blut, das an diesem Tage floß, Petöfy, hat Hannahs und meine Freundschaft fürs Leben besiegelt.«
»Aber was wurd' aus dem Jungen, dem zweiten Helden der Geschichte?«
»Nun, den haben wir vor drei Jahren in Leipzig mit dem ganz zerhauenen Gesicht eines alten Korpsburschen wiedergesehen. Er ließ sich bei mir melden, als ich dort zu Gastspiel war, war sans phrase reizend, und als er endlich auch Hannahs ansichtig wurde, brach er in einen wahren Höllenjubel aus und rief einmal über das andere: ›Sieh, Hannah, es ist immer so weitergegangen. Aber die hier‹, und dabei wies er auf die Narbe am Kinn, ›ist doch die beste.‹«
Der Graf war ernst geworden und sagte: »Fränzl, ich könnte dich um deine Hannah beneiden, wenn beneiden meine Sache wär'. Aber das ist gewiß, sie ist ein Schatz für dich, den du festhalten mußt.«
»Das will ich auch. Aber zunächst will ich nachsehen, ob sie nichts versäumt und keine Torheiten begangen hat. Denn sobald sie krank ist, ist sie, was Medizin angeht, voll Ungehorsam und Unvernunft.«
»Ein Beweis mehr für ihre Vernünftigkeit. Ich werde schließlich auch noch ein Hannahschwärmer werden.«