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7. Principiis obsta!

 

»Auf allen Gebieten menschlicher Kultur ist die Welt nur durch Dissidenten vorangebracht worden. Buddha galt bei den Brahmanen ebenso als Dissident wie Jesus bei den Schriftgelehrten ... Alle Reformatoren waren gewissermassen Dissidenten, indem sie sich herrschenden »Wahrheiten« entgegen warfen; Sokrates und Huss, Giordano Bruno und Luther, Voltaire und Ronge sind ebenso Dissidenten gewesen wie Kopernikus, Columbus, Lavoisier und Darwin«. Dr. Arthur Pfungst in »Der Dissident«, I. Jahrg. S. 2. (Beilage zu »Das Freie Wort«).

 

Vielleicht die wertvollste aller neuzeitlichen Errungenschaften ist die verfassungsrechtliche Anerkennung der Glaubensfreiheit, deutlicher ausgedrückt: der Bekenntnis- und Gewissensfreiheit. Leider aber sind wir noch weit davon entfernt, die praktischen Konsequenzen dieses eigentlich selbstverständlichen Grundsatzes zu ziehen, da sich ihnen alle jene Mächte mit Gewalt entgegenwerfen, welche die grosse Masse der Menschen als Mittel für ihre eigensüchtigen Zwecke betrachten.

Ziehen wir indes die logischen Konsequenzen!

Bekenntnisfreiheit ist das gesetzlich gewährleistete Recht, sich zu jeder beliebigen Glaubensform mündlich oder schriftlich zu bekennen, mag diese Glaubensform nun staatlich anerkannt sein oder nicht, mag sie viele Anhänger haben oder nur das Verhältnis einer einzigen Persönlichkeit zu Welt und Ueberwelt ausdrücken.

Damit ist also die freie Wahl des Bekenntnisses gewährleistet.

Da man nun den Erwachsenen nicht gut hindern kann, über seine Konfessionszugehörigkeit oder sein Verhältnis zur Religion frei zu entscheiden, tut man das menschenmögliche, die Kinder in der Weise zu bearbeiten, dass sie als Erwachsene gar nicht das Bedürfnis fühlen, das ihnen anerzogene Verhältnis zur Religion einer Revision zu unterziehen, d. h. man unterwirft sie dem fälschlich Religionsunterricht genannten Konfessionsunterricht, zwingt sie zum Kirchenbesuch und sieht überhaupt darauf, dass sie tun, was die Kirche von ihnen verlangt. Der Staat (oder die treibenden Elemente, die hinter ihm stehen) kann sich dabei ganz ruhig auf die Eltern berufen, die ihre Kinder in der Konfession aufwachsen zu sehen wünschen, der sie selbst angehören. Nun entsteht aber die Frage: Haben die Eltern überhaupt das Recht, ihre einer eigenen Entscheidung noch unfähigen Kinder einer Konfessionsgemeinschaft oder gar einer so absolut unverantwortlichen sogenannten Gemeinschaft, wie es die staatlich anerkannten Kirchen sind (das Verhältnis der Gläubigen zur römischen Kirche z. B. ist das der Herde zum Herdenbesitzer, nicht etwa zum Hirten, ist ein Untertanenverhältnis, keine Gemeinschaft) auszuliefern?

Diese Frage muss auf das entschiedenste verneint werden.

Die Eltern sind nicht Eigentümer der Kinder, ihr Verhältnis zu ihnen ist das eines Verwalters zu dem ihm anvertrauten Gut. Die Kinder sind nicht um der Eltern willen da, vielmehr die Eltern um der Kinder willen; denn immer die letzte Generation ist die wichtigste. Die Kinder sind weder ein Spielzeug, noch ein Experimentierobjekt, noch das Mittel zu irgendwelchem Zweck der Eltern, sie sind um ihrer selbst und um der Zukunft des Menschengeschlechts willen da. Die Eltern können ihnen gegenüber nur die eine Aufgabe haben, sie für das Leben und für das neue Leben, das aus ihnen hervorgehen soll, zu stählen und zwar nach jeder Richtung, nicht aber dürfen sie sie geistig verstümmeln, um ihnen Karrierehindernisse aus dem Wege zu räumen, ebensowenig wie man ein Kind körperlich verstümmeln darf, damit es durch den Bettel schneller zu Vermögen komme.

Die Eltern tragen die Verantwortung für Generationen, aber die allerwenigsten sind sich dieser Verantwortlichkeit bewusst. Kaum ist das Kind geboren, so überliefern sie es dem Feinde, damit er den Grund lege zur späteren Verkrüppelung seiner geistigen Kräfte, d. h. sie lassen es taufen oder es auf eine andere Weise in eine Kirche aufnehmen, deren ganzes Bestreben darauf gerichtet ist, ihm die geistigen Schwungfedern zu beschneiden, einer lebensfeindlichen Macht, die an Stelle des Lachens, dieses Strahlenkranzes des Lebens, nur das Grinsen des Totenschädels kennt, – und sie bedenken nicht die unabsehbaren Folgen eines solchen Schrittes.

Ich habe nicht das Recht, mein Kind körperlich zu misshandeln oder misshandeln zu lassen, schon das Gesetz verbietet es. Daraus sollte doch eigentlich als etwas ganz Selbstverständliches folgen, dass es mir auch in geistiger Hinsicht nicht zusteht. So wenig ich die freie körperliche Entwicklung eines Menschenwesens hindern darf, so wenig darf ich die freie geistige hindern. Leider sind es nicht sehr viele, für die das selbstverständlich ist. Aber wer möchte es wagen zu behaupten, dass der Geist von geringerer Bedeutung sei als der Körper, geringeren Schutz verdiene als dieser?

Indem ich mein Kind taufen lasse, balle ich eine finstere Wolke über seiner und seiner Nachkommen Zukunft, tue ich einen Schritt, der andere tiefeinschneidende folgenschwere Schritte nach sich zieht, begehe ich ein Verbrechen, das nicht ich, der leichtsinnige oder gedankenlose Urheber, sondern das Kind selbst büssen muss.

Auf die Taufe folgt als kaum vermeidliche Konsequenz der »Religions«-Unterricht, der meinem Kinde den Sinn für die Wirklichkeit zu zerstören droht, es mit einem Wust von unverdaulichem Zeug belastet, und seine geistige Gesundheit erschüttert. Hand in Hand damit geht der zwangsweise Kirchenbesuch, es folgt die Firmung oder Konfirmation zur festeren Kettung an die Kirche. Denselben Zwecken dient die Beichte, Vergl. Hoensbroech, Papsttum II, S. 164-185 u. 193f., ferner Matthes: Wenn Kinder beichten. die mit verwerflichen Mitteln arbeitet. Das Ergebnis dieser fortgesetzten Beeinflussung ist, dass schliesslich das Unnatürliche, die geistige Sklaverei von den Opfern als etwas ganz Selbstverständliches angesehen wird: Die Erwachsenen lassen sich kirchlich trauen, lassen ihre Kinder taufen, lassen sich endlich kirchlich begraben. Damit ist dann die Gewissensfreiheit in ihren Konsequenzen zum grössten Teil glücklich paralysiert.

Wie wenige denken an die geradezu furchtbaren Folgen der Taufe und wie wenige unter diesen haben den Mut, ihre Kinder diesen Konsequenzen nicht auszusetzen, indem sie sie nicht durch die Taufe der Kirche verschreiben!

Glücklicherweise hat dieses Verfahren nicht bei allen Kindern den gewünschten Erfolg. Es steckt eben zuviel unverwüstliche Gesundheit im Menschengeschlecht. Ihr ist es zu danken, dass sich Unzählige, trotz der Kirche und der ihre Geschäfte betreibenden Schule noch rechtzeitig auf die natürlichen Erfordernisse des Lebens zu besinnen vermögen, sei es, indem sie nach mehr oder minder schweren inneren Kämpfen mit der Kirche offen brechen, oder, was der weitaus häufigere Fall ist, unter Ignorierung ihrer Forderungen einen nur ganz äusserlichen Zusammenhang mit ihr bewahren.

Die europäische Menschheit ist, wie die Hauptkirchen, denen sie angehört, von der praktischen Betätigung des evangelischen Christentums weiter entfernt denn je, »Übrigens«, sagt Feuerbach, »wollen wir die Abendländer nicht tadeln, dass sie ihren religiösen Glauben nicht bis auf seine praktischen Konsequenzen treiben, dass sie vielmehr eigenmächtig die Folgen ihres Glaubens wegstreichen, ihren Glauben in der Wirklichkeit, in der Praxis verleugnen; denn nur dieser Inkonsequenz, diesem praktischen Unglauben, diesem instinktartigen Atheismus und Egoismus verdanken wir alle Fortschritte, alle Erfindungen, durch die sich die Christen von den Muhamedanern, die Abendländer überhaupt von den Morgenländern auszeichnen«. (Vorles. über das Wesen der Religion, Leipzig 1851, S. 215). hält aber theoretisch in ihrer überwältigenden Mehrheit daran fest. Im ersteren Falle spricht die menschliche Natur, die sich auf die Dauer nicht leicht einen ihrem Wesen entgegengesetzten Zwang gefallen lässt, eine unmissverständliche Sprache, im zweiten sehen wir das Ergebnis einer mit dem denkbar gewaltigsten Apparat erzielten Suggestion vor uns.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, wer den Vorteil von dieser Suggestion hat, wie es auch keinem Zweifel unterliegen kann, dass dieser Vorteil nicht ohne schwere namentlich moralische Schädigung der kirchentreuen Menschheit erlangt ist.

Von den Regierungen ist vorerst keine Besserung dieses nichts weniger als würdigen Zustandes zu erhoffen: sie leben noch in dem althergebrachten aber durch keine einwandfreie Erfahrung gerechtfertigten Glauben, dass er ihren Zwecken förderlich sei. Nicht gerechtfertigt ist dieser Glaube wohlverstanden, sofern sie unter ihren Zwecken das Wohl des Staates und seiner Bürger verstehen, gerechtfertigt freilich, sofern sie Ziele verfolgen, die von der Eigensucht diktiert sind. Wenn wir auch annehmen dürfen, dass die Regierungen, wenigstens die Mehrzahl der europäischen, nach bestem Wissen und Können handeln, so müssen wir doch sagen, dass es ihnen, abgesehen von ganz wenigen, unter denen man die grosse Mehrzahl der deutschen vermisst, noch immer nicht gelungen ist, sich einen im Sinne höheren Menschentums einwandfreien Begriff von ihren wirklichen Zwecken zu machen, oder wenigstens ihn in die Tat umzusetzen; denn auch sie unterliegen einer Suggestion: der ihren Mitgliedern vom Anfang ihrer Laufbahn an suggerierten Vorstellung, dass sie dem Volke gegenüber eine Art höherer Wesen sind, infolgedessen auch ihre Stellung durch besondere Mittel, namentlich durch Bestellung der Religion als Sekundantin schützen müssen. Vergl. die Erklärung des bayrischen Kultusministers in der 78. öffentl. Sitzung der Kammer der Abgeordneten, am 10. Febr. 1908 (ja, tatsächlich 1908!): »Der Staat würde einen grossen Fehler machen, wenn er der Jugend den Religionsunterricht vorenthalten oder sie nicht mehr in der von ihm übernommenen Weise in der Religion (!) unterrichten wollte. Er darf in seinem eigenen (!) Interesse die Jugend nicht religionslos heranwachsen lassen; es würden sich daraus für ihn selbst die grössten Gefahren ergeben; der Religionsunterricht hat nicht bloss religiöse und sittliche Bedeutung, sondern auch grosse politische Vorzüge. Die bewährten Grundsätze der Religion (?) dürfen aus der Schule nicht verdrängt werden. Die Staatsregierung steht auf dem Standpunkt, dass der Religionsunterricht nach wie vor die Grundlage für die Erziehung bleiben muss«. – Derselbe Minister erliess einige Monate darauf an die Rektorate aller Mittelschulen von München ein Einladungsschreiben (d. h. nach Lage der Verhältnisse einen Befehl) zur Besichtigung der im Kunstverein ausgestellten Papstbilder seitens der Schüler. – Dieser eifrige Diener der Kirche verdiente es reichlich, päpstlicher Hausprälat zu werden. Diese Suggestion ist ein Erbteil aus den Zeiten des Absolutismus, der seine beste Stütze und Rechtfertigung in der Kirche fand. Eine gute Regierung bedarf aber nicht der Kirche als Stütze, sie wird im Gegenteil durch sie kompromittiert. Ebensowenig bedarf sie des religiösen Glaubens. Der moderne Staat hat seiner ganzen Struktur nach mit der Religion nichts zu tun, er ist sowohl konfessions- wie religionslos. Die staatsrechtlichen Begriffe Gewissens-, Religions- und Kultusfreiheit, Parität, Toleranz und religiöse Indifferenz beweisen dies. Wenn er trotzdem gewisse Konfessionen unterstützt und ihnen einen Einfluss auf seine Schulen einräumt, so tut er dies aus missverständlicher Auffassung seiner Aufgaben und aus einer unbegründeten Besorgnis für seine Existenz. Von grossem Interesse sind in diesem Zusammenhang folgende Ausführungen von Ludwig Feuerbach, denen man nicht so leicht die Beweiskraft wird absprechen können.

»Man kann den Satz zugeben: die Religion ist die Grundlage der Staaten, aber mit dem Zusatz: nur in der Einbildung, im Glauben, in der Meinung; denn in der Wirklichkeit stützen sich die Staaten, selbst die christlichen, statt auf die Macht der Religion, ob sie gleich allerdings auch sie – natürlich nur den Glauben, die schwache Seite des Menschen – als Mittel zu ihren Zwecken gebrauchen, auf die Macht der Bajonette und anderer Torturwerkzeuge. In Wirklichkeit handeln überhaupt die Menschen aus ganz anderen Gründen, als sie in ihrer religiösen Einbildung zu handeln glauben. Der fromme Ph. de Commines in seiner Chronik vom König Ludwig XI. sagt: »alle Uebel oder Vergehen kommen vom Mangel an Glauben; wenn die Menschen fest glaubten, was Gott und die Kirche Man beachte » Gott und die Kirche!!!« uns von den ewigen und schrecklichen Höllenstrafen sagen, so könnten sie nicht tun, was sie tun.« Aber woher kommt denn diese Schwäche des Glaubens? Daher, dass die Glaubenskraft nichts andres ist als die Einbildungskraft, und so gross auch die Macht der Einbildungskraft ist, doch die Macht der Wirklichkeit eine unendlich grössere und dem Wesen der Einbildung geradezu widersprechende Macht ist. Der Glaube ist, wie die Einbildungskraft, hyperbolisch; er bewegt sich nur in Extremen, in Uebertreibungen; er weiss nur von Himmel und Hölle, von Engeln und Teufeln; er will aus dem Menschen mehr machen, als er sein soll, und macht eben deswegen weniger aus ihm, als er sein kann; er will ihn zum Engel machen und macht ihn dafür bei günstiger Gelegenheit zu einem wahren Teufel. So verkehrt sich das hyperbolische und phantastische Wesen des Glaubens an dem Widerstand der prosaischen Wirklichkeit in sein direktes Gegenteil! Es wäre daher schlecht um das menschliche Leben bestellt, wenn Recht und Moral keine andere Grundlage hätten, als den religiösen Glauben, welcher so leicht in sein Gegenteil umschlägt, da er, wie die grössten Glaubenshelden selbst eingestanden haben, dem Zeugnis der Sinne, dem natürlichen Gefühl und dem den Menschen eingeborenen Hang zum Unglauben geradezu Hohn spricht. Wie kann aber etwas Erzwungenes, auf die gewaltsame Unterdrückung einer wohlbegründeten Neigung Gebautes, jeden Augenblick den Zweifeln des Verstandes und den Widersprüchen der Erfahrung Ausgesetztes eine sichere und feste Grundlage abgeben? Glauben, dass der Staat – ich meine natürlich den Staat überhaupt, nicht unsere künstlichen supranaturalistischen Staatsgebäude – nicht ohne religiösen Glauben bestehen könne, heisst glauben, dass die natürlichen Beine nicht zum Stehen und Gehen hinreichend sind, dass der Mensch nur auf Stelzen gehen und stehen könne. Die natürlichen Beine aber, worauf Moral und Recht fussen, sind die Lebensliebe, das Interesse, der Egoismus. Nichts ist daher grundloser als die Vorstellung und Furcht, dass mit den Göttern auch der Unterschied zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse sich aufhebe. Dieser Unterschied besteht und wird bestehen, solange, als ein Unterschied zwischen Ich und Du besteht; denn nur dieser Unterschied ist der Quell der Moral und des Rechts. Wenn auch mein Egoismus mir den Diebstahl erlaubt, so wird doch der Egoismus des andern sich ihn aufs strengste verbitten; wenn auch ich aus mir selbst nichts von Uneigennützigkeit weiss und wissen will, so wird doch stets der Eigennutz der andern mir die Tugend der Uneigennützigkeit vorpredigen; wenn auch mein männlicher Egoismus einen Hang zur Polygamie hat, so wird doch stets der weibliche Egoismus diesem Hange sich widersetzen und der Monogamie das Wort reden; wenn auch ich nicht die Balken in meinen Augen merke und fühle, so wird doch jedes Splitterchen darin ein Dorn in dem Auge der Tadelsucht anderer sein; kurz, wenn es auch mir gleichgültig ist, ob ich gut oder schlecht bin, so wird es doch nie dem Egoismus der andern gleichgültig sein. Wer war denn bisher der Regent der Staaten? Gott? ach! Die Götter regieren nur im Himmel der Phantasie, aber nicht auf dem profanen Boden der Wirklichkeit. Wer also? nur der Egoismus, aber freilich nicht der einfältige Egoismus, sondern der dualistische Egoismus, der Egoismus, der für sich den Himmel, aber für andere die Hölle, für sich den Materialismus, aber für andere den Idealismus, für sich die Freiheit, für andere die Knechtschaft, für sich den Genuss, aber für andere die Resignation erfunden hat, der Egoismus, der in den Regierungen die eigenen, selbstbegangenen Verbrechen an der Untertanen, in den Vätern die eigenen, selbstgezeugten Sünden an den Kindern, in den Ehemännern die eigenen, selbstverschuldeten Schwächen an den Weibern straft, überhaupt alles sich verzeiht, und sein Ich nach allen Dimensionen geltend macht, aber von den andern verlangt, dass sie kein Ich haben, dass sie bloss von der Luft leben, dass sie vollkommen und immateriell wie Engel sind; freilich nicht nur jener beschränkte Egoismus, auf den man gewöhnlich allein diesen Namen anwendet, der aber nur eine, obwohl die vulgärste Art des Egoismus ist, sondern der Egoismus, der ebensoviel Arten und Gattungen in sich begreift, als es überhaupt Arten und Gattungen des menschlichen Wesens gibt, denn es gibt nicht nur einen singulären oder individuellen, sondern auch einen sozialen Egoismus, einen Familienegoismus, einen Korporationsegoismus, einen Gemeindeegoismus, einen patriotischen Egoismus. Allerdings ist der Egoismus die Ursache alles Uebels, aber auch die Ursache alles Guten, denn wer anders als der Egoismus hat den Ackerbau, hat den Handel, hat die Künste und Wissenschaften hervorgebracht? Allerdings ist er die Ursache aller Laster, aber auch die Ursache aller Tugenden, denn wer hat die Tugend der Ehrlichkeit geschaffen? Der Egoismus durch das Verbot des Diebstahls, wer die Tugend der Keuschheit? Der Egoismus, der den Gegenstand seiner Liebe nicht mit andern teilen will, durch das Verbot des Ehebruchs; wer die Tugend der Wahrhaftigkeit? Der Egoismus, der nicht belogen und betrogen sein will, durch das Verbot der Lüge. So ist der Egoismus der erste Gesetzgeber und Ursacher der Tugenden, wenn auch nur aus Feindschaft gegen das Laster, nur aus Egoismus, nur deswegen, weil für ihn ein Uebel ist, was für mich ein Laster, wie umgekehrt, was für mich eine Verneinung, für den andern eine Bejahung seines Egoismus, was für mich eine Tugend, für ihn eine Wohltat ist.« Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 390 f.

Und an andrer Stelle: »Namentlich ist die Religion (als ein partikuläres Prinzip gedacht ... ) nicht das Erhaltungsprinzip der modernen Staaten. Vielmehr kommt die Dauerhaftigkeit der modernen Staaten gerade daher, dass sie das religiöse Prinzip von sich abgesondert, ihm zwar, wie sich gebührt, innerhalb ihrer selbst, eine besondere Sphäre angewiesen, aber nicht ihr Wesen mit demselben verschmolzen haben. Bei den Griechen und Römern dagegen war die Sache des Staats mit der Sache der Religion verschmolzen – die Götter waren die obersten Staatsgesetze; die Ehrbezeugungen, welche die ungläubigen heidnischen Philosophen den Göttern erwiesen, galten nicht ihnen selbst, sondern ihrem Vaterland, waren Handlungen des Patriotismus, Zeichen ihrer Ehrfurcht vor den bestehenden Gesetzen. Die alten Staaten gingen daher mit ihrem Glauben zugrunde. Ein moderner Staat aber, der seine Sache mit der der Religion identifiziert, stürzt sich ins Verderben oder ist schon ein verdorbener; denn er sucht seine Hilfe ausser sichFeuerbach: Pierre Bayle, S. 222 Anm. 17. – Siehe ferner Anhang.

Auf die wahnbefangenen Regierungen ist also nicht zu rechnen, bevor man sie nicht von ihrem Wahn befreit hat. Diese Befreiung muss, wie immer, wenn es sich um einen Fortschritt handelt, »von unten herauf« kommen. Die Eltern müssen ihr wahres Verhältnis zu ihren Kindern erkennen lernen, sie müssen der Kirche verweigern, was der Kirche nicht ist: sie haben kein Recht, ihr ihre Kinder durch die Taufe, wenn manchmal vielleicht auch nur auf zwanzig Jahre, auszuliefern, sie dürfen sie keinen öffentlichen oder privaten Konfessionsunterricht, am allerwenigsten in den für die gesunde Entwicklung der Menschenknospe geradezu verderblichen Klosterschulen, besuchen lassen, sie müssen ihnen ihre geistige Elastizität und Expansivkraft bewahren.

Die Entscheidung, ob er einer Konfessionsgemeinschaft oder Kirche angehören will, muss dem Erwachsenen vorbehalten bleiben, sie darf niemals über den Kopf des in der Entwickelung befindlichen Wesens weg von andern getroffen werden. Auf die Stimme der Kirche darf man dabei nicht hören, sie treibt mit bunten Vorwänden verhüllte Interessenpolitik. Ihre Gesetze und Gebote sind bare Willkür oder beruhen auf zuweilen grotesken Missverständnissen, sie binden nur den, der sich ihnen unterwirft, für alle andern existieren sie nicht. Durch die Taufe ergreift sie Besitz vom Menschen, auch den Anspruch auf den aus ihrem Schoss Ausgeschiedenen gibt sie nicht auf; denn sie hat der Taufe einen »unverlierbaren Charakter« verliehen, und sie hat Mittel genug, den Schwachen unter ihnen gegenüber ihre Rechte auf sie geltend zu machen.

Die Angst der Kirche vor der Konfessionslosigkeit ist begreiflich; denn wenn man die junge Generation ohne Konfessionszwang aufwachsen und sich später die ihr zusagende Glaubensform selber wählen liesse, würden ihr wenig Anhänger und noch weniger Untertanen zufallen. Darum ruft sie Wehe über die angebliche Schlechtigkeit der Zeit und macht die Regierungen mobil. Sie vergisst nur oder will vergessen, dass die Zustände niemals und nirgends verrotteter waren, als gerade dann und dort, wo sie unumschränkt herrscht. Siehe den seligen Kirchenstaat, siehe Spanien, Portugal, Belgien usw., um von näher liegenden Beispielen zu schweigen.

Die Regierungen, die ihre Aufgabe richtig verstehen wollen, müssen den Konfessionen in der Weise unparteiisch gegenüberstehen, dass sie sie in keiner Weise weder unterstützen noch behindern, dass sie nicht die geringste Gemeinschaft mit ihnen haben. Der Staat allein darf Herr sein.

Die Kirche hat dem Staate gegenüber nur ein einziges Recht: das Recht auf Duldung – solange sie sich keine Gesetzwidrigkeiten zuschulden kommen lässt. Der Staat ist der natürliche Beaufsichtiger der Kirche, wie er der natürliche Beaufsichtiger sämtlicher Korporationen und Individuen innerhalb seines Machtbereichs ist. Die Trennung von der Kirche ist für seine Gesundheit notwendig und ein Akt der Gerechtigkeit, aber nur innerhalb des angedeuteten Rahmens angängig; denn eine vom Staate unabhängige Kirche würde für den Staat Selbstmord bedeuten. Päpstlicher Grössenwahn (Bonifaz VIII.!) ist allerdings anderer Ansicht, – für ihn ist der Staat der Esel, auf dem das Papsttum zu reiten und den nach Lust und Laune zu traktieren es ein von Gott verliehenes Recht zu besitzen vorgibt.

Um sich dieser Herrschsucht Roms gegenüber wirksam zu behaupten, müssen die Regierungen – freilich allmählich, aber mit unbeirrbarer Konsequenz – die gesetzlichen und allgemeinen Massnahmen treffen, welche Graf Hoensbroech, dieser gründlichste Kenner des Ultramontanismus und als Aristokrat wirklich einer der ἄριστοι, in seinem Werke: »Moderner Staat und römische Kirche«, das jeder Diplomat und Regierungsbeamte auswendig kennen, jeder Vaterlandsfreund wenigstens lesen sollte, niedergelegt und ausführlich begründet hat. (S. 106-287.)

Discite moniti!


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