Gustave Flaubert
Frau Bovary
Gustave Flaubert

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Letztes Kapitel

Am Tage darauf ließ Karl die kleine Berta wieder ins Haus kommen. Sie fragte nach der Mutter. Man antwortete ihr, sie sei verreist und werde ihr hübsche Spielsachen mitbringen. Das Kind tat noch ein paarmal die gleiche Frage, dann aber, mit der Zeit, sprach sie nicht mehr von ihr. Die Sorglosigkeit des Kindes bereitete Bovary Schmerzen. Ganz unerträglich aber waren ihm die Trostreden des Apothekers.

Bald begannen die Geldsorgen von neuem. Lheureux ließ seinen Strohmann Vinçard abermals vorgehen, und Karl übernahm beträchtliche Verpflichtungen, weil er es um keinen Preis zulassen wollte, daß von den Möbeln, die ihr gehört hatten, auch nur das geringste verkauft würde. Seine Mutter war außer sich darüber. Das empörte ihn wiederum maßlos. Er war überhaupt ein ganz andrer geworden. So verließ sie das Haus.

Nun fingen alle möglichen Leute an, ihr »Schnittchen« zu machen. Fräulein Lempereur forderte für sechs Monate Stundengeld, obgleich Emma doch niemals Unterricht bei ihr genommen hatte. Die quittierte Rechnung, die Bovary einmal gezeigt bekommen hatte, war nur auf Emmas Bitte hin ausgestellt worden. Der Leihbibliothekar verlangte Abonnementsgebühren auf eine Zeit von drei Jahren und Frau Rollet Botenlohn für zwanzig Briefe. Als Karl Näheres wissen wollte, war sie wenigstens so rücksichtsvoll, zu antworten:

»Ach, ich weiß von nichts! Es waren wohl Rechnungen.«

Bei jedem Schuldbetrag, den er bezahlte, glaubte Karl, es sei nun zu Ende, aber es meldeten sich immer wieder neue Gläubiger.

Er schickte an seine Patienten Liquidationen aus. Da zeigte man ihm die Briefe seiner Frau, und so mußte er sich noch entschuldigen.

Felicie trug jetzt die Kleider ihrer Herrin, aber nicht alle, denn Karl hatte einige davon zurückbehalten. Manchmal schloß er sich in ihr Zimmer und betrachtete sie. Felicie hatte ungefähr Emmas Figur. Wenn sie aus dem Zimmer ging, hatte er manchmal den Eindruck, es sei die Verstorbne. Dann war er nahe daran, ihr nachzurufen: »Emma, bleib, bleib!«

Aber zu Pfingsten verließ sie Yonville, zusammen mit dem Diener des Notars, wobei sie alles mitnahm, was von Emmas Kleidern noch übrig war.

Um diese Zeit gab sich die Witwe Düpuis die Ehre, ihm die Vermählung ihres Sohnes Leo Düpuis, Notars zu Yvetot, mit Fräulein Leocadia Leboeuf aus Bondeville ganz ergebenst mitzuteilen. In Karls Glückwunschbrief kam die Stelle vor:

»Wie hätte sich meine arme Frau darüber gefreut!«

Eines Tages, als Karl ohne bestimmte Absicht durchs Haus irrte, kam er in die Dachkammer und spürte plötzlich unter einem seiner Pantoffel ein zusammengeknülltes Stück Papier. Er entfaltete es und las: »Liebe Emma! Sei tapfer! Ich will Dir Deine Existenz nicht zertrümmern….« Es war Rudolfs Brief, der zwischen die Kisten gefallen und dort liegen geblieben war, bis ihn der durchs Dachfenster wehende Luftzug an die Türe getrieben hatte. Karl stand ganz starr da, mit offnem Munde, just auf demselben Platz, wo dereinst Emma, bleicher noch als er, aus Verzweiflung in den Tod gehen wollte. Am Ende der zweiten Seite stand als Unterschrift ein kleines R. Wer war das? Er erinnerte sich der vielen Besuche und Aufmerksamkeiten Rudolf Boulangers, seines plötzlichen Ausbleibens und der gezwungenen Miene, die er gehabt, wenn er ihnen später – es war zwei- oder dreimal gewesen – begegnet war. Aber der achtungsvolle Ton des Briefes täuschte ihn.

»Das scheint doch nur eine platonische Liebelei gewesen zu sein!« sagte er sich.

Übrigens gehörte Karl nicht zu den Menschen, die den Dingen bis auf den Grund gehen. Er war weit davon entfernt, Beweise zu suchen, und seine vage Eifersucht ging auf in seinem maßlosen Schmerze.

»Man mußte sie anbeten!« sagte er bei sich. »Es ist ganz natürlich, daß alle Männer sie begehrt haben!« Nunmehr erschien sie ihm noch schöner, und es überkam ihn ein beständiges heißes Verlangen nach ihr, das ihn trostlos machte und das keine Grenzen kannte, weil es nicht mehr zu stillen war.

Um ihr zu gefallen, als lebte sie noch, richtete er sich nach ihrem Geschmack und ihren Liebhabereien. Er kaufte sich Lackstiefel, trug feine Krawatten, pflegte seinen Schnurrbart und – unterschrieb Wechsel wie sie. So verdarb ihn Emma noch aus ihrem Grabe heraus.

Karl sah sich genötigt, das Silberzeug zu verkaufen, ein Stück nach dem andern, dann die Möbel des Salons. Alle Zimmer wurden kahl, nur »ihr Zimmer« blieb wie früher. Nach dem Essen pflegte Karl hinaufzugehen. Er schob den runden Tisch an den Kamin und rückte ihren Sessel heran. Dem setzte er sich gegenüber. Eine Kerze brannte in einem der vergoldeten Leuchter. Berta, neben ihm, tuschte Bilderbogen aus.

Es tat dem armen Manne weh, wenn er sein Kind so schlecht gekleidet sah, mit Schuhen ohne Schnüre, die Nähte des Kleidchens aufgerissen, denn darum kümmerte sich die Aufwartefrau nicht. Berta war sanft und allerliebst. Wenn sie das Köpfchen graziös neigte und ihr die blonden Locken über die rosigen Wangen fielen, dann sah sie so reizend aus, daß ihn unendliche Zärtlichkeit ergriff, eine Freude, die nach Wehmut schmeckte, wie ungepflegter Wein nach Pech. Er besserte ihr Spielzeug aus, machte ihr Hampelmänner aus Pappe und flickte sie aufgeplatzten Bäuche ihrer Puppen. Wenn seine Augen dabei auf Emmas Arbeitskästchen fielen, auf ein Band, das liegengeblieben war, oder auf eine Stecknadel, die noch in einer Ritze des Nähtisches steckte, dann verfiel er in Träumereien und sah so traurig aus, daß das Kind auch mit traurig wurde.

Kein Mensch besuchte sie mehr. Justin war nach Rouen davongelaufen, wo er Krämerlehrling geworden war, und die Kinder des Apothekers ließen sich auch immer seltner sehen, da ihr Vater bei der jetzigen Verschiedenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Fortsetzung des näheren Verkehrs keinen Wert legte.

Der Blinde, den Homais mit seiner Salbe nicht hatte heilen können, war auf die Höhe am Wilhelmswalde zurückgekehrt und erzählte allen Reisenden den Mißerfolg des Apothekers. Wenn Homais zur Stadt fuhr, versteckte er sich infolgedessen hinter den Vorhängen der Postkutsche, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden. Er haßte ihn, und da er ihn zugunsten seines Rufes als Heilkünstler um jeden Preis aus dem Wege räumen wollte, legte er ihm einen Hinterhalt. Die Art und Weise, wie er das bewerkstelligte, enthüllte ebenso seinen Scharfsinn wie seine bis zur Verruchtheit gehende Eitelkeit. Sechs Monate hintereinander konnte man im »Leuchtturm von Rouen« Nachrichten wie die folgenden lesen:

»Wer nach den fruchtbaren Gefilden der Pikardie reist, wird ohne Zweifel auf der Höhe am Wilhelmswalde einen Vagabunden bemerkt haben, der mit einem ekelhaften Augenleiden behaftet ist. Er belästigt und verfolgt die Reisenden, erhebt von ihnen gewissermaßen einen Zoll. Leben wir denn noch in den abscheulichen Zeiten des Mittelalters, wo es den Landstreichern erlaubt war, auf den öffentlichen Plätzen die Lepra und die Skrofeln zur Schau zu stellen, die sie von einem der Kreuzzüge mitgebracht hatten?«

Oder:

»Ungeachtet der Gesetze gegen das Landstreichertum werden die Zugänge unsrer Großstädte noch unausgesetzt von Bettlerscharen heimgesucht. Manche treten auch vereinzelt auf, und das sind vielleicht nicht die ungefährlichsten. Aus welchem Grunde duldet das eigentlich die Obrigkeit?«

Daneben erfand Homais auch Anekdoten:

»Gestern ist auf der Höhe am Wilhelmswalde ein Pferd durchgegangen….«

Es folgte der Bericht eines durch das plötzliche Auftauchen des Blinden verursachten Unfalls.

Alles das hatte eine so treffliche Wirkung, daß der Unglückliche in Haft genommen wurde. Aber man ließ ihn wieder frei. Er trieb es wie vorher. Ebenso Homais. Es begann ein Kampf. Der Apotheker blieb Sieger. Sein Gegner wurde zu lebenslänglichem Aufenthalt in ein Krankenhaus gesteckt.

Dieser Erfolg machte ihn immer kühner. Fortan konnte kein Hund überfahren werden, keine Scheune abbrennen, keine Frau Prügel bekommen, ohne daß er den Vorfall sofort veröffentlicht hätte – , geleitet vom Fortschrittsfanatismus und vom Haß gegen die Priester.

Er stellte Vergleiche an zwischen den Volksschulen und den von den »Ignorantinern« geleiteten, die natürlich zum Nachteil der letzteren ausfielen. Anläßlich einer staatlichen Bewilligung von hundert Franken für kirchliche Zwecke erinnerte er an die Niedermetzelung der Hugenotten. Er denunzierte kirchliche Missbräuche. Er las den Pfaffen die Leviten, wie er meinte. Dabei wurde er ein gefährlicher Intrigant.

Bald war ihm der Journalismus zu eng; er wollte ein Buch Schreiben, ein »Werk«. So verfaßte er eine »Allgemeine Statistik von Yonville und Umgebung nebst klimatologischen Beobachtungen«. Die damit verbundenen Studien führten ihn ins volkswirtschaftliche Gebiet. Er vertiefte sich in die sozialen Fragen, in die Theorien über die Volkserziehung, in das Verkehrswesen und andres mehr. Nun begann er sich seiner kleinbürgerlichen Obskurität zu schämen; er bekam genialische Anwandlungen.

Seinen Beruf vernachlässigter dabei keineswegs, im Gegenteil, er verfolgte alle neuen Entdeckungen seines Faches. Beispielsweise interessierte ihn der große Aufschwung in der Schokoladenindustrie. Er war weit und breit der erste, der den Schoka (eine Mischung von Kakao und Kaffee) und die Eisenschokolade einführte. Er begeisterte sich für die hydro-elektrischen Ketten Pulvermachers und trug selbst eine. Wenn er beim Schlafengehen das Hemd wechselte, staunte Frau Homais diese goldene Spirale an, die ihn umschlang, und entbrannte in verdoppelter Liebe für diesen Mann, der wie ein Magier glänzte.

Für Emmas Grabmal hatte er sehr schöne Ideen. Zuerst schlug er einen Säulenstumpf mit einer Draperie vor, dann eine Pyramide, einen Vestatempel in Form einer Rotunde, zu guter Letzt eine »künstliche Ruine«. Keinesfalls aber dürfe die Trauerweide fehlen, die er für das »traditionelle Symbol« der Trauer hielt.

Karl und er fuhren zusammen nach Rouen, um bei einem Grabsteinfabrikanten etwas Passendes zu suchen. Ein Kunstmaler begleitete sie, namens Vaufrylard, ein Freund des Apothekers Bridoux. Er riß die ganze Zeit über schlechte Witze. Man besichtigte an die hundert Modelle, und Karl erbat sich die Zusendung von Kostenanschlägen. Er fuhr dann ein zweitesmal allein nach Rouen und entschloß sich zu einem Grabstein, über dem ein Genius mit gesenkter Fackel trauert.

Als Inschrift fand Homais nichts schöner als: STA VIATOR!

Diese Worte schlug er immer wieder vor. Er war richtig vernarrt in sie. Beständig flüsterte er vor sich hin: »Sta viator!«

Endlich kam er auf: AMABILEM CONJUGEM CALCAS!

Das wurde angenommen.

Seltsamerweise verlor Bovary, obwohl er doch ununterbrochen an Emma dachte, mehr und mehr die Erinnerung an ihre äußere Erscheinung. Zu seiner Verzweiflung fühlte er, wie ihr Bild seinem Gedächtnis entwich, während er sich so viel Mühe gab, es zu bewahren. Dabei träumte er jede Nacht von ihr. Es war immer derselbe Traum: er sah sie und näherte sich ihr, aber sobald er sie umarmen wollte, zerfiel sie ihm in Staub und Moder.

Eine Woche lang sah man ihn jeden Abend in die Kirche gehen. Der Pfarrer machte ihm zwei oder drei Besuche, dann aber gab er ihn auf. Bournisien war neuerdings überhaupt unduldsam, ja fanatisch, wie Homais behauptete. Er wetterte gegen den Geist des Jahrhunderts, und aller vierzehn Tage pflegte er in der Predigt vom schrecklichen Ende Voltaires zu erzählen, der im Todeskampfe seine eignen Exkremente verschlungen habe, wie jedermann wisse.

Trotz aller Sparsamkeit kam Bovary nicht aus den alten Schulden heraus. Lheureux wollte keinen Wechsel mehr prolongieren, und so stand die Pfändung abermals bevor. Da wandte er sich an seine Mutter. Sie schickte ihm eine Bürgschaftserklärung. Aber im Begleitbriefe erhob sie eine Menge Beschuldigungen gegen Emma. Als Entgelt für ihr Opfer erbat sie sich einen Schal, der Felicies Raubgier entgangen war. Karl verweigerte ihn ihr. darüber entzweiten sie sich.

Trotzdem reichte sie bald darauf selber die Hand zur Versöhnung. Sie schlug ihrem Sohne vor, sie wolle die kleine Berta zu sich nehmen; sie könne ihr im Haushalt helfen. Karl willigte ein. Aber als das Kind abreisen sollte, war er nicht imstande sich von ihm zu trennen. Diesmal erfolgte ein endgültiger, völliger Bruch.

Nun hatte er alles verloren, was ihm lieb und wert gewesen war, und er schloß sich immer enger an sein Kind an. Aber auch dies machte ihm Sorgen. Berta hustete manchmal und hatte rote Flecken auf den Wangen.

Ihm gegenüber machte sich in Gesundheit, Glück und Frohsinn die Familie des Apothekers breit. Was Homais auch wollte, gelang ihm. Napoleon half dem Vater im Laboratorium, Athalia stickte ihm ein neues Käppchen, Irma schnitt Pergamentpapierdeckel für die Einmachegläser, und Franklin bewies ihm bereits schlankweg den pythagoreischen Lehrsatz. Der Apotheker war der glücklichste Vater und der glücklichste Mensch.

Und doch nicht! Der Ehrgeiz nagte heimlich an seinem Herzen. Homais sehnte sich nach dem Kreuz der Ehrenlegion. Verdient hätte er es zur Genüge, meinte er. Erstens hatte er sich während der Cholera durch grenzenlosen Opfermut ausgezeichnet. Zweitens hatte er – und zwar auf seine eigenen Kosten – verschiedene gemeinnützige Werke veröffentlicht, beispielsweise die Schrift »Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung«, sodann seine »Abhandlung über die Reblaus«, die er dem Ministerium unterbreitet hatte, ferner seine statistische Veröffentlichung, ganz abgesehen von seiner ehemaligen Prüfungsarbeit. Er zählte sich das alles auf. »Dazu bin ich auch noch Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften.« In Wirklichkeit war es nur eine einzige.

»Eigentlich müßte es schon genügen,« rief er und warf sich selbstbewusst in die Brust, »daß ich mich bei den Feuersbrünsten hervorgetan habe!«

Er begann Fühlung mit der Regierung zu suchen. Zur Zeit der Wahlen erwies er dem Landrat heimlich große Dienste. Schließlich verkaufte und prostituierte er sich regelrecht. Er reichte ein Immediatgesuch an Seine Majestät ein, worin er ihn alleruntertänigst bat, »ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.« Er nannte ihn »unsern guten König« und verglich ihn mit Heinrich dem Vierten.

Jeden Morgen stürzte er sich auf die Zeitung, um seine Ernennung zu lesen; aber sie wollte nicht kommen. Sein Ordenskoller ging so weit, daß er in seinem Garten ein Beet in Form des Kreuzes der Ehrenlegion anlegen ließ, auf der einen Seite von Geranien umsäumt, die das rote Band vorstellten. Oft umkreiste er dieses bunte Beet und dachte über die Schwerfälligkeit der Regierung und über den Undank der Menschen nach.

Aus Achtung für seine verstorbene Frau, oder weil er aus emer Art Sinnlichkeit noch etwas Unerforschtes vor sich haben wollte, hatte Karl das geheime Fach des Schreibtisches aus Polisanderholz, den Emma benutzt hatte, noch nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich endlich davor, drehte den Schlüssel um und zog den Kasten heraus. Da lagen sämtliche Briefe Leos. Diesmal war kein Zweifel möglich. Er verschlang sie von der ersten bis zur letzten Zeile. Dann stöberte er noch in allen Winkeln, allen Möbeln, allen Schiebfächern, hinter den Tapeten, schluchzend, stöhnend, halbverrückt. Er entdeckte eine Schachtel und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Rudolfs Bildnis sprang ihm buchstäblich ins Gesicht. Es lag neben einem ganzen Bündel von Liebesbriefen.

Bovarys Niedergeschlagenheit erregte allgemeine Verwunderung.

Er ging nicht mehr aus, empfing niemanden und weigerte sich sogar, seine Patienten zu besuchen. Dadurch entstand das Gerücht, daß er sich einschließe, um zu trinken. Neugierige aber, die hin und nieder den Kopf über die Gartenhecke reckten, sahen zu ihrer Überraschung, wie der Menschenscheue in seinem langen Bart und in schmutziger Kleidung im Garten auf und ab ging und laut weinte.

An Sommerabenden nahm er sein Töchterchen mit sich hinaus auf den Friedhof. Erst spät in der Nacht kamen die beiden zurück, wenn auf dem Marktplätze kein Licht mehr schimmerte, außer aus dem Stübchen Binets.

Aber auf die Dauer befriedigte ihn die Wollust seines Schmerzes nicht mehr. Er brauchte jemanden, der sein Leid mit ihm teilte. Aus diesem Grunde suchte er Frau Franz auf, um von »ihr« sprechen zu können. Aber die Wirtin hörte nur mit halbem Ohre zu, da auch sie ihre Sorgen hatte. Lheureux hatte nämlich seine Postverbindung zwischen Yonville und Rouen eröffnet, und Hivert, der ob seiner Zuverlässigkeit in Kommissionen allenthalben großes Vertrauen genoß, verlangte Lohnerhöhung und drohte, »zur Konkurrenz« überzugehen.

Eines Tages, als Karl nach Argueil zum Markt gegangen war, um sein Pferd, sein letztes Stück Besitz, zu verkaufen, begegnete er Rudolf. Als sie einander sahn, wurden sie beide blaß. Rudolf, der bei Emmas Tode sein Beileid nur durch seine Visitenkarte bezeigt hatte, murmelte zunächst einige Worte der Entschuldigung, dann aber faßte er Mut und hatte sogar die Dreistigkeit, – es war ein heißer Augusttag – Karl zu einem Glas Bier in der nächsten Kneipe einzuladen.

Er lümmelte sich Karl gegenüber auf der Tischplatte auf, plauderte und schmauchte seine Zigarre. Karl verlor sich in tausend Träumen vor diesem Gesicht, das »sie« geliebt hatte. Es war ihm, als sähe er ein Stück von ihr wieder. Das war ihm selber sonderbar. Er hätte der andre sein mögen.

Rudolf sprach unausgesetzt von landwirtschaftlichen Dingen, vom Vieh, vom Düngen und dergleichen. Wenn er einmal in seiner Rede stockte, half er sich mit ein paar allgemeinen Redensarten. So vermied er jedwede Anspielung auf das Einst. Karl hörte ihm gar nicht zu. Rudolf nahm das wahr; er ahnte, daß hinter diesem zuckenden Gesicht Erinnerungen heraufkamen. Karls Wangen röteten sich mehr und mehr, seine Nasenflügel blähten sich, seine Lippen bebten. Einen Augenblick lang sahen Karls Augen in so düsterem Groll auf Rudolf, daß dieser erschrak und mitten im Satz steckenblieb. Aber alsbald erschien wieder die frühere Lebensmüdigkeit auf Karls Gesicht.

»Ich bin Ihnen nicht böse!« sagte er.

Rudolf blieb stumm. Karl barg den Kopf zwischen seinen Händen und wiederholte mit erstickter Stimme im resignierten Tone namenloser Schmerzen:

»Nein, ich bin Ihnen nicht mehr böse!«

Er fügte ein großes Wort hinzu, das einzige, das er je in seinem Leben sprach:

»Das Schicksal ist schuld!«

Rudolf, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand insgeheim, für einen Mann in seiner Lage sei Bovary doch allzu gutmütig, eigentlich sogar komisch und verächtlich.

Am Tag darauf setzte Karl sich auf die Bank in der Laube. Die Abendsonne leuchtete durch das Gitter, die Weinblätter zeichneten ihren Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete süß, der Himmel war blau, Insekten summten um die blühenden Lilien. Karl atmete schwer; das Herz war ihm beklommen und tieftraurig vor unsagbarer Liebessehnsucht.

Um sieben Uhr kam Berta, die ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen hatte, um ihn zum Essen zu holen.

Sein Kopf war gegen die Mauer gesunken. Die Augen waren ihm zugefallen, sein Mund stand offen. In den Händen hielt er eine lange schwarze Haarlocke.

»Papa, komm doch!« rief die Kleine.

Sie glaubte, er wolle mit ihr spaßen, und stieß ihn sacht an. Da fiel er zu Boden. Er war tot.

Sechsunddreißig Stunden darnach eilte auf Veranlassung des Apothekers Doktor Canivet herbei. Er öffnete die Leiche, fand aber nichts.

Als aller Hausrat verkauft war, blieben zwölf und dreiviertel Franken übrig, die gerade ausreichten, die Reise der kleinen Berta Bovary zu ihrer Großmutter zu bestreiten. Die gute alte Frau starb aber noch im selben Jahre, und da der Vater Rouault gelähmt war, nahm sich eine Tante des Kindes an. Sie ist arm und schickt Berta, damit sie sich das tägliche Brot verdient, in eine Baumwollspinnerei.

Seit Bovarys Tode haben sich bereits drei Ärzte nacheinander in Yonville niedergelassen, aber keiner hat sich dort halten können. Homais hat sie alle aus dem Feld geschlagen. Seine Kurpfuscherei hat einen unheimlichen Umfang gewonnen. Die Behörde duldet ihn, und die öffentliche Meinung empfiehlt ihn immer mehr.

Kürzlich hat er das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.

Die Übertragung des Romans Frau Bovary besorgte Arthur Schurig.

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig


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