Gustave Flaubert
Frau Bovary
Gustave Flaubert

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Elftes Kapitel

Rouault hatte den Brief des Apothekers sechsunddreißig Stunden nach dem Ereignis erhalten. Um ihn zu schonen, hatte Homais so geschrieben, daß er gar nicht genau wissen konnte, was eigentlich geschehen war.

Der gute Mann war zunächst wie vom Schlag gerührt umgesunken. Dann sagte er sich, sie könne wohl tot sein, aber sie könne auch noch leben…. Schließlich hatte er seine Bluse angezogen, seinen Hut aufgesetzt, Sporen an die Stiefel geschnallt und war im Galopp weggeritten. Den ganzen Weg über verging er beinahe vor Angst. Einmal mußte er sogar absitzen. Er sah nichts mehr, er hörte Stimmen ringsum und glaubte, er verlöre den Verstand.

Der Tag brach an. Er sah drei schwarze Hennen, die auf einem Baum schliefen. Er erbebte vor Schreck über diese böse Vorbedeutung. Schnell gelobte er der Madonna drei neue Meßgewänder für ihre Kirche und eine Wallfahrt in bloßen Füßen vom heimatlichen Kirchhof bis zur Kapelle von Vassonville.

In Maromme, wo er rastete, brüllte er die Leute im Gasthof munter, rannte mit der Schulter die Haustür ein, stürzte sich auf einen Hafersack, goß in die Krippe eine Flasche Apfelsekt, setzte sich wieder auf seinen Gaul und trabte von neuem los, daß die Funken stoben.

Immer wieder sagte er sich, daß man sie sicher retten würde. Die Ärzte hätten schon Mittel. Er erinnerte sich aller wunderbaren Heilungen, die man ihm je erzählt hatte. Dann aber sah er sie tot. Sie lag auf dem Rücken vor ihm, mitten auf der Straße. Er riß in die Zügel. Da schwand die Erscheinung.

In Quincampoix trank er, um sich Mut zu machen, nacheinander drei Tassen Kaffee.

Es wäre auch möglich, sagte er sich, daß sich der Absender in der Adresse geirrt hatte. Er suchte in seiner Tasche nach dem Briefe, fühlte ihn, wagte aber nicht, ihn noch einmal zu lesen. Schließlich kam er auf die Vermutung, es sei vielleicht nur ein schlechter Witz, irgendein Racheakt oder der Einfall eines Betrunkenen. Und wenn sie wirklich schon tot wäre, dann müßte er es doch an irgend etwas merken! Aber die Fluren sahen aus wie alle Tage, der Himmel war blau, die Bäume wiegten ihre Wipfel. Eine Herde Schafe trottete friedlich vorüber.

Endlich erblickte er den Ort Yonville. Er kam im Galopp an, nur noch im Sattel hängend. Er hatte das Pferd mit Schlägen vorwärts gehetzt; aus den Flanken des Tieres tropfte Blut. Als der alte Mann wieder zu sich kam, warf er sich unter heftigem Weinen in Bovarys Arme.

»Meine Tochter! Meine Emma! Mein Kind! Sag mir doch …«

Der andre antwortete schluchzend:

»Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! Es ist so schrecklich!«

Der Apotheker zog sie auseinander.

»Die gräßlichen Einzelheiten sind unnütz! Ich werde dem Herrn schon alles erzählen. Da kommen Leute! Würde! Fassung! Man muß Philosoph sein!«

Der arme Karl gab sich alle Mühe, stark zu sein. Mehrere Male wiederholte er:

»Ja, ja … Mut! Mut!«

»Na, wenns sein muß!« sagte Rouault. »Ich hab welchen! Himmeldonnerwetter! Wir wollen unsrer Emma das Geleite geben, und wenns noch so weit wäre!«

Die Glocke begann zu läuten. Alles war bereit. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Rouault und Bovary saßen nebeneinander in den Chorstühlen. Die drei Chorknaben wandelten psalmodierend vor ihnen hin und her. Musik brummte. Bournisien in vollem Ornat sang mit scharfer Stimme. Er verbeugte sich vor dem Tabernakel, hob die Hände empor und breitete die Arme aus. Der Kirchendiener hantierte. Vor dem Chorpult stand der Sarg zwischen vier Kerzen. Karl bekam eine Anwandlung, aufzustehn und sie auszublasen.

Er strengte sich an, Andacht zu empfinden, sich zum Glauben an ein jenseitiges Dasein aufzuschwingen, wo er Emma wiedersehen würde. Er versuchte sich einzubilden, sie sei verreist, weit, weit weg und schon seit langer Zeit. Aber wenn er daran dachte, daß sie dort unter dem Leichentuche lag, daß alles zu Ende war, daß man sie nun in die Erde scharrte, da faßte ihn wilde Wut und schwarze Verzweiflung. Und dann wieder war ihm, als empfände er überhaupt nichts mehr. Er fühlte fich in seinem Schmerze erleichtert, aber alsbald warf er sich vor, eine erbärmliche Kreatur zu sein.

Auf die Fliesen der Kirche schlug in gleichen Zeiträumen etwas wie ein Eisenstab auf. Dieses harte Geräusch drang aus dem Hintergrund, bis es mit einem Male im Winkel eines Seitenschiffes aufhörte. Ein Mensch in einem groben braunen Rock kniete mühsam nieder. Es war Hippolyt, der Knecht vom Goldnen Löwen. Heute hatte er sein Bein erster Garnitur angeschnallt.

Ein Chorknabe machte die Runde durchs Kirchenschiff, um Geld einzusammeln. Die großen Kupferstücke klirrten eins nach dem andern in der silbernen Schale.

»Schnell weg! Ich leide!« rief Bovary und warf zornig ein Fünffrankenstück hinein.

Der Sammelnde bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung.

Man sang, man kniete nieder, man richtete sich wieder auf… Das nahm kein Ende! Karl erinnerte sich, daß er mit Emma in der ersten Zeit ihres Hierseins einmal zur Messe dagewesen war. Sie hatten rechts an der Mauer gesessen… Die Glocke begann wieder zu läuten. Ein allgemeines Stühlerücken fing an. Die Sargträger hoben die drei Stangen der Bahre in die Höhe. Man verließ die Kirche.

Justin stand an der Tür der Apotheke. Er verschwand schleunigst, blaß und taumelnd.

Alle Fenster im Orte waren voller Neugieriger, um den Trauerzug vorbeiziehen zu sehn. Karl ging voran, erhobenen Hauptes. Er trug eine tapfre Miene zur Schau und grüßte kopfnickend jeden, der aus den Gassen oder den Häusern trat, um sich dem Zuge anzuschließen.

Die sechs Träger, drei auf jeder Seite, schritten langsam vorwärts. Sie keuchten. Die Priester, die Sänger und die Chorknaben sangen das De profundis. Ihre bald lauten, bald leisen Stimmen verhallten im Feld. Wo der Weg eine Biegung machte, verschwanden sie auf Augenblicke, aber das hohe silberne Kreuz schimmerte immer zwischen den Bäumen.

Die Frauen schlossen sich hinten an, in schwarzen Mänteln mit zurückgeschlagenen Kapuzen, in den Händen dicke brennende Wachskerzen. Karl fühlte, wie ihn seine Kräfte verließen unter der ewigen Monotonie der Gebete und der Lichter, inmitten des faden Geruchs von Wachs und Meßgewändern. Ein frischer Wind wehte herüber. Roggen und Raps grünten, und Tautropfen zitterten auf den Dornenhecken am Wege. Allerlei fröhliche Laute erfüllten die Luft: das Quietschen eines kleinen Wagens in der Ferne auf zerfahrener Straße, das wiederholte Krähen eines Hahnes oder der Galopp eines Füllens, das sich unter den Apfelbäumen austobte. Der klare Himmel war mit rosigen Wölkchen betupft. Bläuliche Lichter spielten um die Schwertlilien vor den Häusern und Hütten. Karl erkannte im Vorbeigehen jeden einzelnen Hof. Er entsann sich eines bestimmten Morgens, an dem er, einen Kranken zu besuchen, hier vorübergekommen war, erst hin und dann auf dem Rückwege zu »ihr«.

Manchmal flatterte das schwarze mit silbernen Tränen bestickte Leichentuch auf und ließ den Sarg sehen. Die ermüdeten Träger verlangsamten den Schritt. Die Bahre schwankte fortwährend wie eine Schaluppe auf bewegter See.

Endlich war man da.

Die Träger gingen bis ganz hinter, bis zu einer Stelle im Rasen, wo das Grab gegraben war. Man stellte sich im Kreis herum auf. Während der Priester sprach, rieselte die rote, an den Seiten aufgehäufte Erde über die Kanten hinweg in die Grube, lautlos und ununterbrochen.

Dann wurden die vier Seile zurechtgelegt und der Sarg darauf gehoben. Karl sah ihn hinabgleiten … tiefer … immer tiefer.

Endlich hörte man ein Aufschlagen. Die Seile kamen geräuschvoll wieder hoch. Bournisien nahm den Spaten, den ihm Lestiboudois reichte. Und während er mit der rechten Hand den Weihwedel schwang, warf er wuchtig mit der linken eine volle Schaufel Erde ins Grab. Der Sand und die Steinchen polterten auf den Sarg, und das Geräusch dröhnte Karl in die Ohren, unheimlich wie ein Widerhall aus der Ewigkeit.

Der Priester gab die Schaufel an seinen Nachbar weiter. Es war Homais. Würdevoll füllte und leerte er sie und reichte sie dann Karl, der auf die Knie sank, mit vollen Händen Erde hinabwarf und »Lebe wohl!« rief. Er sandte ihr Küsse und beugte sich über das Grab, als ob er sich hinabstürzen wollte.

Man führte ihn fort. Er beruhigte sich sehr bald. Offenbar empfand er gleich den andern eine merkwürdige Befriedigung, daß alles überstanden war.

Auf dem Heimwege zündete sich Vater Rouault ruhig seine Pfeife an, was Homais insgeheim nicht besonders schicklich fand. Er berichtete, daß Binet nicht zugegen gewesen war, daß sich Tüvache nach der Messe »gedrückt« hatte und daß Theodor, der Diener des Notars, einen blauen Rock getragen hatte, »als ob nicht ein schwarzer aufzutreiben gewesen wäre, da es nun einmal so üblich ist, zum Teufel!« So hechelte er alles durch, was er beobachtet hatte.

Alle andern beklagten Emmas Tod, besonders Lheureux, der nicht verfehlt hatte, zum Begräbnis zu erscheinen.

»Die arme, liebe Frau! Welch ein Schlag für ihren Mann!«

Der Apotheker antwortete:

»Wissen Sie, wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er aus Verzweiflung Selbstmord begangen.«

»Sie war immer so liebenswürdig! Wenn ich bedenke, daß sie vorigen Sonnabend noch in meinem Laden war!«

»Ich hatte nur keine Zeit,« sagte der Apotheker, »sonst hätte ich mich gern auf ein paar Worte vorbereitet, die ich ihr ins Grab nachgerufen hätte!«

Wieder im Hause, kleidete sich Karl um, und der alte Rouault zog seine blaue Bluse wieder an. Sie war neu, und da er sich unterwegs öfters die Augen mit dem Ärmel gewischt hatte, hatte sie Farbenspuren auf seinem staubbedeckten Gesicht hinterlassen. Man sah, wo die Tränen herabgerollt waren.

Die alte Frau Bovary setzte sich zu ihnen. Alle drei schwiegen. Endlich sagte Vater Rouault mit einem Seufzer:

»Erinnerst du dich noch, mein lieber Karl, wie ich damals nach Tostes kam, als du deine erste Frau verloren hattest? Damals tröstete ich dich, damals fand ich Worte! Jetzt aber….« Er stöhnte tief auf, wobei sich seine ganze Brust hob. »Ach, nun ist es aus mit mir! Ich habe meine Frau sterben sehen … dann meinen Sohn … und heute meine Tochter!«

Er bestand darauf, noch am selben Tage nach Bertaux zurückzureiten. In diesem Hause könne er nicht schlafen. Auch seine Enkelin wollte er nicht sehen.

»Nein! Nein! Das würde mich zu traurig machen! Aber küsse sie mir ordentlich! Lebe wohl! Du bist ein braver Junge! Und das hier,« er schlug auf sein Bein, »das werde ich dir nie vergessen. Hab keine Bange! Und euren Truthahn bekommst du auch noch jedes Jahr!«

Aber als er auf der Höhe angelangt war, wandte er sich um, ganz wie damals nach der Hochzeit, als er sich nach dem Abschied auf der Landstraße bei Sankt Viktor noch einmal nach seiner Tochter umgedreht hatte. Die Fenster im Dorfe glühten wie im Feuer unter den Strahlen der Sonne, die in der Ebene unterging. Er beschattete die Augen mit der Hand und gewahrte fern am Horizont ein Mauerviereck und Bäume darinnen, die wie schwarze Büschel zwischen weißen Steinen hervorleuchteten. Dort lag der Friedhof….

Dann ritt er seinen Weg weiter, im Schritt, dieweil sein Gaul lahm geworden war.

Karl und seine Mutter blieben bis in die späte Nacht auf und plauderten, obwohl sie beide sehr müde waren. Sie sprachen von vergangenen Tagen und von dem, was nun werden sollte. Die alte Frau wollte nach Yonville übersiedeln, ihm die Wirtschaft führen und für immer bei ihm bleiben. Sie fand immer neue Trostes- und Liebesworte. Im geheimen freute sie sich, eine Neigung zurückzugewinnen, die sie so viele Jahre entbehrt hatte.

Es schlug Mitternacht. Das Dorf lag in tiefer Stille. Das war wie immer. Nur Karl war wach und dachte in einem fort an »sie«.

Rudolf, der zu seinem Vergnügen den Tag über durch den Wald geritten war, schlief ruhig in seinem Schloß. Ebenso schlummerte Leo. Einer aber schlief nicht in dieser Stunde.

Am Grabe, unter den Fichten, kniete ein junger Bursche und weinte. Seine vom Schluchzen wunde Brust stöhnte im Dunkel unter dem Druck einer unermeßlichen Sehnsucht, die süß war wie der Mond und geheimnisvoll wie die Nacht.

Plötzlich knarrte die Gittertür. Lestiboudois hatte seine Schaufel vergessen und kam sie zu holen. Er erkannte Justin, als er sich über die Mauer schwang. Nun glaubte er zu wissen, wer ihm immer Kartoffeln stahl.


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