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Wenn Leo nach Yonville kam, um Emma zu besuchen, aß er häufig bei dem Apotheker zu Mittag. Aus Höflichkeit lud er ihn ein, ihn nun auch einmal in Rouen zu besuchen.
»Gern!« gab Homais zur Antwort. »Ich muß sowieso einmal ausspannen, sonst roste ich hier noch ganz und gar ein. Wir wollen zusammen ins Theater gehen, ein bißchen kneipen und ein paar Dummheiten loslassen!«
»Aber Mann!« mahnte Frau Homais besorgt. Die undefinierbaren Gefahren, denen er entgegenlief, ängstigten sie im voraus.
»Was ist da weiter dabei? Hab ich meine Gesundheit nicht schon genug ruiniert in den fortwährenden Ausdünstungen der Drogen? Ja, ja, so sind die Frauen! Vergräbt man sich in die Wissenschaften, so sind sie eifersüchtig; und will man sich gelegentlich in harmlosester Weise ein bißchen erholen, dann ists ihnen auch wieder nicht recht. Aber lassen wirs gut sein! Rechnen Sie auf mich! In allernächster Zeit tauch ich in Rouen auf: und dann wollen wir mal zusammen eine Kiste öffnen!«
Früher hätte sich Homais gehütet, einen derartigen Ausdruck zu gebrauchen, aber seit einiger Zeit gefiel er sich ungemein darin, den jovialen Großstädter zu spielen. Ähnlich wie seine Nachbarin, Frau Bovary, fragte er den Adjunkt auf das neugierigste nach den Pariser Sitten und Unsitten aus. Er begann sogar in seiner Redeweise den Jargon der Pariser anzunehmen, um den Philistern zu imponieren.
Eines Donnerstags früh traf ihn Emma zu ihrer Überraschung in der Küche des Goldnen Löwen im Reiseanzug, das heißt, in einen alten Mantel gemummt, in dem man ihn noch nie gesehen hatte, eine Reisetasche in der einen Hand, einen Fußsack in der andern. Er hatte sein Vorhaben keinem Menschen verraten, aus Furcht, die Kundschaft könne an seiner Abwesenheit Anstoß nehmen.
Der Gedanke, die Orte wiedersehen zu sollen, wo er seine Jugend verlebt hatte, regte ihn sichtlich auf, denn während der ganzen Fahrt redete er in einem fort. Kaum war man in Rouen angekommen, so stürzte er aus dem Wagen, um Leo aufzusuchen. Dem Adjunkt half kein Widerstreben: Homais schleppte ihn mit in das »Grand Café zur Normandie«, wo er, bedeckten Hauptes, stolz wie ein Fürst eintrat. Er hielt es nämlich für höchst provinzlerhaft, in einem öffentlichen Lokal den Hut abzunehmen.
Emma wartete drei Viertelstunden lang auf Leo. Schließlich eilte sie in seine Kanzlei. Unter allen möglichen Mutmaßungen, wobei sie ihm den Vorwurf der Gleichgültigkeit und sich selber den der Schwäche machte, verbrachte sie dann den Nachmittag, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt, im Boulogner Hofe.
Um zwei Uhr saßen Leo und Homais immer noch bei Tisch. Der große Saal des Restaurants leerte sich. Sie saßen am Ofen, der die Form eines hochragenden Palmenstammes hatte, dessen innen vergoldete Fächer sich unter der weißen Decke ausbreiteten. Neben ihnen, im hellen Sonnenlichte, hinter Glaswänden, sprudelte ein kleiner Springbrunnen über einem Marmorbecken. An seinem Rande hockten zwischen Brunnenkresse und Spargel drei schläfrige Hummern; daneben lagen Wachteln, zu einem Haufen aufgeschichtet.«
Der Apotheker tat sich sozusagen eine Güte. Wenngleich ihn die Pracht noch mehr entzückte als das vortreffliche Mahl, so tat der Burgunder doch seine Wirkung. Und als das Omelett mit Rum aufgetragen ward, da offenbarte er unmoralische Theorien »über die Weiber«. Am meisten rege ihn eine »schicke« Frau auf, und nichts ginge über eine elegante Robe in einem vornehm eingerichteten Raume. Was die körperlichen Reize anbelange, da sei viel Fleisch »nicht ohne«.
Leo sah verzweifelt auf die Uhr. Der Apotheker trank, aß und schmatzte weiter.
»Sie müssen sich übrigens ziemlich einsam fühlen hier in Rouen«, sagte er plötzlich. »Aber schließlich wohnt ja Ihr Liebchen nicht allzuweit.« Da Leo errötete, setzte er hinzu: »Na, gestehen Sie nur! Wollen Sie leugnen, daß Sie in Yonville….«
Der junge Mann stammelte etwas Unverständliches.
»… im Hause Bovary jemanden poussieren….«
»Aber wen denn?«
»Na, das Dienstmädel!«
Es war sein Ernst. Aber Leos Eitelkeit war stärker als alle Vorsicht. Ohne sichs zu überlegen, widersprach er. Er liebe nur brünette Frauen.
»Da haben Sie nicht unrecht«, meinte der Apotheker. »Die haben mehr Temperament!«
Homais begann zu flüstern und verriet seinem Freunde die Symptome, an denen man erkennen könne, ob eine Frau Feuer habe. Er geriet sogar auf eine ethnographische Abschweifung. Die Deutschen seien schwärmerisch, die Französinnen wollüstig, die Italienerinnen leidenschaftlich.
»Und die Negerinnen?« fragte der Adjunkt.
»Das ist etwas für Kenner! Kellner! Zwei Tassen Kaffee!«
»Gehen wir?« fragte Leo ungeduldig.
» Yes!«
Aber zuvor wollte er den Besitzer des Restaurants sprechen und ihm seine Zufriedenheit aussprechen.
Des weiteren schützte der junge Mann einen geschäftlichen Gang vor. Er wollte nun endlich allein sein.
»Ich begleite Sie natürlich!« sagte Homais.
Unterwegs erzählte er unaufhörlich von seiner Frau, von seinen Kindern, von ihrem Gedeihen, von seiner Apotheke, vom verwahrlosten Zustand, in dem er sie übernommen, und wie er sie in die Höhe gebracht habe.
Vor dem Boulogner Hofe verabschiedete sich Leo kurzerhand von ihm, eilte die Treppe hinan und fand seine Geliebte in der größten Erregung. Bei der Erwähnung des Apothekers geriet sie in Wut. Leo versuchte, sie durch allerlei vernünftige Gründe zu beruhigen. Es sei wirklich nicht seine Schuld gewesen. Sie kenne Homais doch. Wie habe sie nur glauben können, daß er lieber mit ihm statt mit ihr zusammen sei? Aber sie wollte gar nichts hören und schickte sich an, fortzugehen. Er hielt sie zurück, sank vor ihr auf die Knie, umschlang sie mit beiden Armen und sah sie mit einem rührenden Blick voller Begehrlichkeit und Unterwürfigkeit an.
Sie stand aufrecht vor ihm. Mit großen flammenden Augen sah sie ihn ernst, fast drohend an. Dann aber verschwamm dieser Ausdruck in Tränen. Ihre geröteten Lider schlossen sich, sie überließ ihm ihre Hände, die er an seine Lippen zog. Da erschien der Hausdiener. Ein Herr wünsche ihn dringend zu sprechen.
»Du kommst doch wieder?« fragte Emma.
»Gewiß!«
»Aber wann?«
»Sofort!«
Es war der Apotheker.
»Ein feiner Trick, nicht?« schmunzelte er, als er Leo erblickte.
»Ich wollte Ihnen Ihre Unterredung verkürzen. Sie war Ihnen doch offensichtlich unangenehm. So! Jetzt gehen wir zu meinem Freund Bridoux, einen Bittern genehmigen!«
Leo beteuerte, er müsse in seine Kanzlei. Aber der Apotheker lachte ihn aus und machte seine Witze über die Juristerei.
»Lassen Sie doch den Aktenkram Aktenkram sein! Zum Teufel, warum nur nicht? Seien Sie kein Frosch! Kommen Sie, wir gehn zu Bridoux! Seinen Terrier müssen Sie mal sehen! Der ist zu spaßig!« Und da der Adjunkt immer noch widerstrebte, fuhr er fort: »Na, da begleite ich Sie wenigstens! Werde in Ihrem Laden eine Zeitung lesen oder in irgendeinem alten Schmöker blättern.«
Leo war wie betäubt durch Emmas Unwillen, durch des Apothekers Geschwätz und vielleicht auch durch die Nachwirkung des reichlichen Frühstücks. Unentschlossen stand er da, während Homais immer wieder in ihn drang:
»Kommen Sie nur mit! Wir gehn zu Bridoux! Er wohnt keine hundert Schritte von hier! Rue Malpalu!«
Diese Aufforderung wirkte wie eine Suggestion. Aus Feigheit oder Narrheit oder aus jenem merkwürdigen Drange, der den Menschen mitunter zu Handlungen bewegt, die seinem eigentlichen Willen zuwiderlaufen, ließ sich Leo zu Bridoux führen. Sie fanden ihn in dem kleinen Hofe seines Hauses, wo er drei Burschen beaufsichtigte, die das große Rad einer Selterwasserzubereitungsmaschine drehten. Nach einer herzlichen Begrüßung gab Homais seinem Kollegen Ratschläge. Dann trank man den Bittern. Leo war hundertmal im Begriffe, sich zu empfehlen, aber Homais hielt ihn immer wieder fest, indem er sagte:
»Gleich! Gleich! Ich gehe ja mit! Wir wollen nun mal in den `Leuchtturm von Rouen'! Dem Redakteur guten Tag sagen. Ich mache Sie mit ihm bekannt, mit Herrn Thomassin.«
Trotzdem machte sich Leo endlich los und eilte wiederum in den Boulogner Hof. Emma war nicht mehr da. Im höchsten Grade aufgebracht, war sie fortgegangen. Jetzt haßte sie Leo. Das Stelldichein zu versäumen, das faßte sie als Beschimpfung auf! Nun suchte sie nach noch andern Gründen, mit ihm zu brechen. Er sei eines höheren Aufschwungs unfähig, schwach, banal, feminin, dazu knickerig und kleinmütig.
Dann wurde sie ruhiger; sie sah ein, daß sie ihn schlechter machte, als er war. Aber das Herabzerren eines Geliebten hinterläßt immer gewisse Spuren. Man darf ein Götzenbild nicht berühren: die Vergoldung bleibt einem an den Fingern kleben.
Fortan unterhielten sie sich immer häufiger von Dingen, die nichts mit ihrer Liebe zu tun hatten. In den Briefen, die ihm Emma schrieb, war die Rede von Blumen, Versen, vom Mond und den Sternen, mit einem Worte von allen den primitiven Requisiten, die eine mattgewordne Leidenschaft aufbaut, um den Schein aufrecht zu erhalten. Immer wieder erhoffte sie sich von dem nächsten Beieinandersein die alte Glückseligkeit, aber hinterher gestand sie sich jedesmal, daß sie nichts davon gespürt hatte. Diese Enttäuschung wandelte sich trotzdem in neues Hoffen. Emma kam immer wieder zu Leo voll Begehren und sinnlicher Erregung. Sie warf die Kleider ab und riß das Korsett herunter, dessen Schnuren ihr um die Hüften schlugen wie zischende Schlangen. Mit nackten Füßen lief sie an die Tür und überzeugte sich, daß sie verriegelt war. Mit einer hastigen Bewegung entledigte sie sich dann des Hemdes – und bleich, stumm, ernst und von Schauern durchströmt, warf sie sich in seine Arme.
Aber auf ihrer von kaltem Schweiß beperlten Stirn, auf ihren stöhnenden Lippen, in ihren irren Augen, in ihrer wilden Umarmung lebte etwas Unheimliches, Feindseliges, Todtrauriges. Leo fühlte es. Es hatte sich eingeschlichen, um sie zu trennen.
Ohne daß er darnach zu fragen wagte, kam er ferner zu der Erkenntnis, daß die Geliebte alle Prüfungen der Lust und des Leids schon einmal an sich selber erfahren haben mußte. Was ihn dereinst entzückt hatte, das flößte ihm jetzt Grauen ein.
Dazu kam, daß er gegen die täglich zunehmende Vergewaltigung seiner Person rebellierte. Er grollte ihr ob ihrer immer neuen Siege. Oft zwang er sich, kalt zu bleiben, aber wenn er sie dann auf sich zukommen sah, ward er doch wieder schwach, wie ein Absinthtrinker, den das grüne Gift immer wieder verführt.
Allerdings wandte sie alle Liebeskünste an: von ausgesuchten Genüssen bei Tisch bis zu den Raffinements der Kleidung und den schmachtendsten Zärtlichkeiten. Sie brachte aus ihrem Garten Rosen mit, die sie an der Brust trug und ihm ins Gesicht warf. Sie sorgte sich um seine Gesundheit und gab ihm gute Ratschläge, wie er leben solle. Abergläubisch schenkte sie ihm ein Amulett mit einem Madonnenbildchen. Wie eine ehrsame Mutter erkundigte sie sich nach seinen Freunden und Bekannten.
»Laß sie! Geh nicht aus! Denk nur an mich und bleib mir treu!«
Am liebsten hätte sie ihn überwacht oder gar überwachen lassen. Mitunter kam ihr letzteres in den Sinn. Es trieb sich in der Nähe des Boulogner Hofes regelmäßig ein Tagedieb herum, der dies wohl übernommen hätte. Aber ihr Stolz hielt sie davon ab.
»Mag er mich hintergehen! Dann ist er eben nichts wert! Was tuts? Ich halte ihn nicht!«
Eines Tages ging sie zeitiger von ihm weg als gewöhnlich. Als sie allein den Boulevard hinschlenderte, bemerkte sie die Mauer ihres Klosters. Da setzte sie sich auf eine schattige Bank unter den Ulmen. Wie friedsam hatte sie damals gelebt! Sie bekam Sehnsucht nach den jungfräulichen Vorstellungen von der Liebe, die sie sich damals aus Büchern erträumt hatte….
Dann erinnerte sie sich an ihre Flitterwochen … an den Vicomte, mit dem sie Walzer getanzt hatte, … an die Ritte durch den Wald … an den Tenor Lagardy … Alles das zog wieder an ihr vorüber…. Und mit einem Male stand ihr auch Leo so fern wie alles andre.
»Aber ich liebe ihn doch!« flüsterte sie.
Sie war dennoch nicht glücklich, und nie war sie das gewesen! Warum reichte ihr das Leben nie etwas Ganzes? Warum kam immer gleich Moder in alle Dinge, die sie an ihr Herz zog?
Wenn es irgendwo auf Erden ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisterungsfähig und liebeserfahren zugleich, mit einem Dichterherzen und einem Engelskörper, ein Schwärmer und Sänger, warum war sie ihm nicht zufällig begegnet? Ach, weil das eine Unmöglichkeit ist! Weil es vergeblich ist, ihn zu suchen! Weil alles Lug und Trug ist! Jedes Lächeln verbirgt immer nur das Gähnen der Langweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuß den Ekel, der ihm unvermeidlich folgt! Die heißesten Küsse hinterlassen dem Menschen nichts als die unstillbare Begierde nach der Wollust der Götter!
Eherne Klänge dröhnten durch die Luft. Die Klosterglocke schlug viermal. Vier Uhr! Es dünkte Emma, sie säße schon eine Ewigkeit auf ihrer Bank. Unendlich viel Leidenschaft kann sich in einer Minute zusammendrängen, wie eine Menschenmenge in einem kleinen Raume….
Emma lebte nur noch für sich selbst. Die Geldangelegenheiten kümmerten sie nicht mehr. Aber eines Tages erschien ein Mann von schäbigem Aussehen und erklärte, Herr Vinçard in Rouen schicke ihn her. Er zog die Stecknadeln heraus, mit denen er die eine Seitentasche seines langen grünen Rockes verschlossen hatte, steckte sie im Ärmelaufschlag fest und überreichte ihr höflich ein Papier. Es war ein Wechsel auf siebenhundert Franken, den sie ausgestellt hatte. Lheureux hatte ihn seinem Versprechen entgegen an Vinçard weitergegeben.
Sie schickte Felicie zu dem Händler. Er könne nicht abkommen, liess er zurücksagen. Der Unbekannte hatte stehend gewartet und dabei hinter seinen dichten blonden Augenlidern neugierige Blicke auf Haus und Hof gerichtet. Jetzt fragte er einfältig:
»Was soll ich Herrn Vinçard ausrichten?«
»Sagen Sie ihm nur«, gab Emma zur Antwort, »… ich hätte kein Geld! Vielleicht in acht Tagen … Er solle warten … Ja, ja, in acht Tagen!«
Der Mann ging, ohne etwas zu erwidern. Aber am Tage darauf erhielt sie eine Wechselklage. Auf der gestempelten Zustellungsurkunde starrten ihr mehrfach die Worte »Hareng, Gerichtsvollzieher in Büchy« entgegen. Darüber erschrak sie dermaßen, daß sie spornstreichs zu Lheureux lief.
Er stand in seinem Laden und schnürte gerade ein Paket zu.
»Ihr Diener!« begrüßte er sie. »Ich stehe Ihnen sogleich zur Verfügung!«
Im übrigen ließ er sich in seiner Beschäftigung nicht stören, bei der ihm ein etwa dreizehnjähriges Mädchen half. Es war ein wenig verwachsen und versah bei dem Händler zugleich die Stelle des Ladenmädchens und der Köchin.
Als er fertig war, führte er Frau Bovary hinauf in den ersten Stock. Er ging ihr in seinen schlürfenden Holzschuhen auf der Treppe voran. Oben öffnete er die Tür zu einem engen Gemach, in dem ein großer Schreibtisch mit einem Aufsatz voller Rechnungsbücher stand, die durch eine eiserne, mit einem Vorhängeschloß versehene Stange verwahrt waren. An der Wand stand ein Geldschrank von solcher Größe, daß er sichtlich noch andre Dinge als bloß Geld und Banknoten enthalten mußte. In der Tat lieh Lheureux Geld auf Pfänder aus. In diesem Schrank lagen unter anderm die Kette der Frau Bovary und die Ohrringe des alten Tellier. Der ehemalige Besitzer des Café Français hatte inzwischen sein Grundstück verkaufen müssen und in Quincampoix einen kleinen Kramladen eröffnet. Dort ging er seiner Schwindsucht langsam zugrunde, inmitten seiner Talglichte, die weniger gelb waren als sein Gesicht.
Lheureux setzte sich in seinen großen Rohrstuhl und fragte:
»Na, was gibts Neues?«
Emma hielt ihm die Vorladung hin.
»Hier, lesen Sie!«
»Ja, was geht denn mich das an?«
Diese Antwort empörte sie. Sie erinnerte ihn an sein Versprechen, ihre Wechsel nicht in Umlauf zu bringen. Er gab das zu.
»Aber notgedrungen hab ichs doch tun müssen! Mir saß selber das Messer an der Kehle!«
»Und was wird jetzt geschehn?«
»Ganz einfach! Erst kommt ein gerichtlicher Schuldtitel und dann die Zwangsvollstreckung! Schwapp! Ab!«
Emma konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Sie hätte ihm beinahe ins Gesicht geschlagen. Ruhig fragte sie, ob es denn kein Mittel gebe, Herrn Vinçard zu vertrösten.
»Den und vertrösten! Da kennen Sie Vinçard schlecht! Das ist ein Bluthund!«
Dann müsse eben Lheureux einspringen.
»Hören Sie mal,« entgegnete er, »mir scheint, daß ich schon genug für Sie eingesprungen bin! Sehen Sie!« Er schlug seine Bücher auf: »Hier! Am 3. August zweihundert Franken … am l7. Juni hundertundfünfzig Franken … am 23. März sechsundvierzig Franken … am 10. April….«
Er hielt inne, als fürchte er eine Dummheit zu sagen.
»Dazu kommen noch die Wechsel, die mir Ihr Mann ausgestellt hat, einen zu siebenhundert und einen zu dreihundert Franken! Von Ihren ewigen kleinen Rechnungen und den rückständigen Zinsen gar nicht zu reden! Das ist ja endlos! Da findet sich ja gar niemand mehr hinein! Ich will nichts mehr mit der Sache zu tun haben!«
Emma fing an zu weinen, nannte ihn sogar ihren lieben guten Lheureux, aber er verschanzte sich immer wieder hinter »diesen Schweinehund, den Vinçard«. Übrigens verfüge er selber über keinen roten Heller in bar. Kein Mensch bezahle ihn. Man zöge ihm das Fell über die Ohren. Ein armer Händler, wie er, könne nichts borgen.
Emma schwieg. Lheureux nagte an einem Federhalter. Durch ihr Schweigen sichtlich beunruhigt, sagte er schließlich:
»Na, vielleicht … wenn dieser Tage was einkommt….«
Sie unterbrach ihn:
»Wenn ich die letzte Rate für das Grundstück in Barneville bekomme….«
»Wieso?«
Er tat so, als sei er sehr überrascht, daß Langlois noch nicht gezahlt habe. Mit honigsüßer Stimme sagte er:
»Na, da machen Sie mal einen Vorschlag!«
»Ach, den müssen Sie machen!«
Er schloß die Augen, als ob er sich etwas überlegte. Hierauf schrieb er ein paar Ziffern, und dann erklärte er, er käme sehr schlecht dabei weg, die Geschichte sei faul und er schneide sich in sein eignes Fleisch. Schließlich füllte er vier Wechsel aus, jeden zu zweihundertundfünfzig Franken, mit Fälligkeitstagen, die je vier Wochen auseinanderlagen.
»Vorausgesetzt natürlich, daß Vinçard darauf eingeht!« sagte er. »Mir solls ja recht sein! Ich fackle nicht lange! Bei mir gehr alles wie geschmiert!«
Er zeigte ihr im Vorbeigehen schnell noch ein paar Neuigkeiten.
»Es ist aber nichts für Sie darunter, gnädige Frau!« meinte er. »Wenn ich bedenke: dieser Stoff, das Meter zu drei Groschen und angeblich sogar waschecht! Die Leute reißen sich drum! Man sagt ihnen natürlich nicht, was wirklich dran ist…. Sie könnens sich ja denken!«
Durch derlei Geständnisse seiner Unreellität andern gegenüber sollte er sich bei ihr als desto ehrlicher hinstellen. Emma war bereits an der Tür, als er sie zurückrief und ihr drei Meter Brokatstickerei zeigte, einen »Gelegenheitskauf«, wie er sagte.
»Prachtvoll! Nicht?« sagte er. »Man nimmt es jetzt vielfach zu Sofabehängen. Das ist hochmodern!«
Mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers hatte er den Spitzenstoff bereits in blaues Papier eingeschlagen und Emma in die Hände gedrückt.
»Ich muß doch aber wenigstens wissen, was …«
»Ach, das eilt ja nicht!« unterbrach er sie und wandte sich einem andern Kunden zu.
Noch an dem nämlichen Abend bestürmte sie Karl, er solle doch seiner Mutter schreiben, daß sie den Rest der Erbschaft schicke. Es kam die Antwort, es sei nichts mehr da. Nach Erledigung aller Verbindlichkeiten verblieben ihm – abgesehen von dem Grundstück in Barneville – jährlich sechshundert Franken, die ihm pünktlich zugehen würden.
Nunmehr verschickte sie an ein paar von Karls Patienten Rechnungen; und da dies von Erfolg war, machte sie das häufiger. Der Vorsicht halber schrieb sie darunter: »Ich bitte, es meinem Manne nicht zu sagen. Sie wissen, wie stolz er in dieser Beziehung ist. Verzeihen Sie gütigst. Ihre sehr ergebene….« Hie und da liefen Beschwerden ein, die sie unterschlug.
Um sich Geld zu verschaffen, verkaufte sie ihre alten Handschuhe, ihre abgelegten Hüte, altes Eisen. Dabei handelte sie wie ein Jude. Hier kam ihr gewinnsüchtiges Bauernblut zum Vorschein. Auf ihren Ausflügen nach Rouen erstand sie allerhand Trödel, den Lheureux an Zahlungs Statt annehmen sollte. Sie kaufte Straußenfedern, chinesisches Porzellan, altertümliche Truhen. Sie lieh sich Geld von Felicie, von Frau Franz, von der Wirtin vom »Roten Kreuz«, von aller Welt. Darin war sie skrupellos. Mit dem Geld, das sie noch für das Barneviller Haus bekam, bezahlte sie zwei von den vier Wechseln. Die übrigen fünfzehnhundert Franken waren im Handumdrehen weg. Sie ging neue Verpflichtungen ein und immer wieder welche.
Manchmal versuchte sie allerdings zu rechnen, aber was dabei herauskam, erschien ihr unglaublich. Sie rechnete und rechnete, bis ihr wirr im Kopfe wurde. Dann ließ sie es und dachte gar nicht mehr daran.
Um ihr Haus war es traurig bestellt. Oft sah man Lieferanten mit wütenden Gesichtern herauskommen. Am Ofen trocknete Wäsche. Und die kleine Berta lief zum größten Entsetzen von Frau Homais in zerrissenen Strümpfen einher. Wenn sich Karl gelegentlich eine bescheidene Bemerkung erlaubte, antwortete ihm Emma barsch, es sei nicht ihre Schuld.
»Warum ist sie so reizbar?« fragte er sich und suchte die Erklärung dafür in ihrem alten Nervenleiden. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht genügend Rücksicht auf ihr körperliches Leiden genommen habe. Er schalt sich einen Egoisten und wäre am liebsten zu ihr gelaufen und hätte sie geküßt.
»Lieber nicht!« sagte er sich. »Es könnte ihr lästig sein!«
Und er ging nicht zu ihr.
Nach dem Essen schlenderte er allein im Garten umher. Er nahm die kleine Berta auf seine Knie, schlug seine Medizinische Wochenschrift auf und versuchte dem Kind das Lesen beizubringen. Es war noch gänzlich unwissend. Sehr bald machte es große, traurige Augen und begann zu weinen. Da tröstete er es. Er holte Wasser in der Gießkanne und legte ein Bächlein im Kies an, oder er brach Zweige von den Jasminsträuchern und pflanze sie als Bäumchen in die Beete. Dem Garten schadete das nur wenig, er war schon längst von Unkraut überwuchert. Lestiboudois hatte schon wer weiß wie lange keinen Lohn erhalten! Dann fror das Kind, und es verlangte nach der Mutter.
»Ruf Felicie!« sagte Karl. »Du weißt, mein Herzchen, Mama will nicht gestört werden!«
Es wurde wieder Herbst, und schon fielen die Blätter. Jetzt war es genau zwei Jahre her, daß Emma krank war! Wann würde das endlich wieder in Ordnung sein? Er setzte seinen Weg fort, die Hände auf dem Rücken.
Frau Bovary war in ihrem Zimmer. Kein Mensch durfte sie stören. Sie hielt sich dort den ganzen Tag auf, im Halbschlafe und kaum bekleidet. Von Zeit zu Zeit zündete sie eins der Räucherkerzchen an, die sie in Rouen im Laden eines Algeriers gekauft hatte. Um in der Nacht nicht immer ihren schnarchenden Mann neben sich zu haben, brachte sie es durch allerlei Grimassen so weit, daß er sich in den zweiten Stock zurückzog. Nun las sie bis zum Morgen überspannte Bücher, die von Orgien und von Mord und Totschlag erzählten. Oft bekam sie davon Angstanfälle. Dann schrie sie auf, und Karl kam eiligst herunter.
»Ach, geh nur wieder!« sagte sie.
Manchmal wieder lief sie, vom heimlichen Feuer des Ehebruchs durchglüht, schwer atmend und in heißer sinnlicher Erregung ans Fenster, sog die kühle Nachtluft ein und ließ sich den Wind um das schwere Haar wehen. Zu den Gestirnen aufblickend, wünschte sie sich die Liebe eines Fürsten….
Leo trat ihr vor die Phantasie. Was hätte sie in diesem Augenblick darum gegeben, ihn bei sich zu haben und sich von ihm sattküssen zu lassen.
Die Tage des Stelldicheins waren ihre Sonntage, Tage der Verschwendung! Und wenn Leo nicht imstande war, alles allein zu bezahlen, steuerte sie auf das freigebigste dazu bei, was beinahe jedesmal der Fall war. Er versuchte, sie zu überzeugen, daß sie ebensogut in einem einfacheren Gasthofe zusammen kommen könnten. Sie wollte jedoch nichts davon hören.
Eines Tages brachte sie in ihrer Reisetasche ein halbes Dutzend vergoldete Teelöffel mit, das Hochzeitsgeschenk ihres Vaters. Sie bat Leo, sie im Leihhause zu versetzen. Er gehorchte, obgleich ihm dieser Gang sehr peinlich war. Er fürchtete, sich bloßzustellen. Als er hinterher noch einmal darüber nachdachte, fand er, daß seine Geliebte überhaupt recht seltsam geworden sei und daß es vielleicht ratsam wäre, mit ihr zu brechen. Seine Mutter hatte übrigens einen langen anonymen Brief bekommen, in der ihr von irgendwem mitgeteilt worden war, ihr Sohn »ruiniere sich mit einer verheirateten Frau.« Der guten alten Dame stand sofort der konventionelle Familienpopanz vor Augen: der Vampir, die Sirene, die Teufelin, die im Hexenreiche der Liebe ihr Wesen treibt. Sie wandte sich brieflich an Leos Chef, den Justizrat Dübocage, dem die Geschichte längst schon zu Ohren gekommen war. Er nahm Leo dreiviertel Stunden lang ordentlich ins Gebet, öffnete ihm die Augen, wie er sich ausdrückte, und zeigte ihm den Abgrund, dem er zusteuere. Wenn es zum öffentlichen Skandal käme, sei seine weitere Karriere gefährdet! Er bat ihn dringend, das Verhältnis abzubrechen, wenn nicht im eignen Interesse, so doch in seinem, des Notars.
Leo gab zu guter Letzt sein Ehrenwort, Emma nicht wiederzusehen. Er hielt es nicht. Aber sehr bald bereute er diesen Wortbruch, indem er sich klar ward, in welche Mißhelligkeiten und in was für Gerede ihn diese Frau noch bringen konnte, ganz abgesehen von den Anzüglichkeiten, die seine Kollegen allmorgendlich losließen, wenn sie sich am Kamine wärmten. Er sollte demnächst in die erste Adjunktenstelle rücken. Es ward also Zeit, ein gesetzter Mensch zu werden. Aus diesem Grunde gab er auch das Flötespielen auf. Die Tage der Schwärmereien und Phantastereien waren für ihn vorüber! Jeder Philister hat in seiner Jugend seinen Sturm und Drang, und wenn der auch nur einen Tag, nur eine Stunde währt. Einmal ist jeder der ungeheuerlichsten Leidenschaft und himmelstürmender Pläne fähig. Den spießerlichsten Mann gelüstet es einmal nach einer großen Kurtisane, und selbst im nüchternen Juristen hat sich irgendwann einmal der Dichter geregt.
Es verstimmte Leo jetzt, wenn Emma ohne besondre Veranlassung an seiner Brust schluchzte. Und wie es Leute gibt, die Musik nur in gewissen Grenzen vertragen, so hatte er für die Überschwenglichkeiten ihrer Liebe kein Gefühl mehr. Die wilde Schönheit dieser Herzensstürme begriff er nicht.
Sie kannten einander zu gut, als daß der gegenseitige Besitz sie noch zu berauschen vermochte. Ihre Liebe hatte die Entwicklungsfähigkeit verloren. Sie waren beide einander überdrüssig, und Emma fand im Ehebruche alle Banalitäten der Ehe wieder.
Wie sollte sie sich aber Leos entledigen? So verächtlich ihr die Verflachung ihres Glückes auch vorkam: aus Gewohnheit oder Verderbtheit klammerte sie sich doch daran. Der Sinnengenuß ward ihr immer unentbehrlicher, so sehr sie sich auch nach höheren Wonnen sehnte. Sie warf Leo vor, er habe sie genarrt und betrogen. Sie wünschte sich eine Katastrophe herbei, die ihre Entzweiung zur Folge hätte, weil sie nicht den Mut hatte, sich aus freien Stücken von ihm zu trennen.
Sie hörte nicht auf, ihn mit verliebten Briefen zu überschütten. Ihrer Meinung nach war es die Pflicht einer Frau, ihrem Geliebten alle Tage zu schreiben. Aber beim Schreiben stand vor ihrer Phantasie ein ganz anderer Mann: nicht Leo, sondern ein Traumgebilde, die Ausgeburt ihrer zärtlichsten Erinnerungen, eine Reminiszenz an die herrlichsten Romanhelden, das leibhaft gewordne Idol ihrer heißesten Gelüste. Allmählich ward ihr dieser imaginäre Liebling so vertraut, als ob er wirklich existiere, und sie empfand die seltsamsten Schauer, wenn sie sich in ihn versenkte, obgleich sie eigentlich gar keine bestimmte Idee von ihm hatte. Er war ihr ein Gott, in der Fülle seiner Eigenschaffen unsichtbar. Er wohnte irgendwo hinter den Bergen, in einer Heimat romantischer Abenteuer, unter Rosendüften und Mondenschein. Sie fühlte, er war ihr nahe. Er umarmte und küßte sie….
Nach solchen Traumzuständen war sie kraftlos und gebrochen. Die Raserei dieses Liebeswahnes erschlaffte sie mehr als die wildeste Ausschweifung.
Mehr und mehr verfiel sie in dauernde Mattheit. Gerichtliche Zustellungen und Vorladungen kamen. Es war ihr unmöglich, sie zu lesen. Leben war ihr eine Last. Am liebsten hätte sie immerdar geschlafen.
Am Fastnachtsabend kam sie nicht nach Yonville zurück. Sie nahm am Maskenballe teil. In seidnen Kniehosen und roten Strümpfen, eine Rokokoperücke auf dem Kopfe und einen Dreimaster auf dem linken Ohr, tollte und tanzte sie durch die laute Nacht. Es bildete sich eine Art Gefolge um sie, und gegen Morgen stand sie unter der Vorhalle des Theaters, umringt von einem halben Dutzend Masken, Bekannten von Leo: Matrosen und Fischerinnen. Man wollte irgendwo soupieren. Die Restaurants in der Nähe waren alle überfüllt. Schließlich entdeckte man einen bescheidenen Gasthof, in dem sie im vierten Stock ein kleines Zimmer bekamen.
Die männlichen Masken tuschelten in einer Ecke; wahrscheinlich einigten sie sich über die Kosten. Es waren zwei Studenten der medizinischen Hochschule, ein Adjunkt und ein Verkäufer. Was für eine Gesellschaft für eine Dame! Und die weiblichen Wesen? An ihrer Ausdrucksweise merkte Emma gar bald, daß sie fast alle der untersten Volksschicht angehören mußten. Nun begann sie sich zu ängstigen. Sie rückte mit ihrem Sessel beiseite und schlug die Augen nieder.
Die andern begannen zu tafeln. Emma aß nichts. Ihre Stirn glühte, ihre Augenlider zuckten, und ein kalter Schauer rieselte ihr über die Haut. In ihrem Hirn dröhnte noch der Lärm des Tanzsaals; es war ihr, als stampften tausend Füße im Takte um sie herum. Dazu betäubte sie der Zigarrenrauch und der Duft des Punsches. Sie wurde ohnmächtig. Man trug sie ans Fenster.
Der Morgen dämmerte. Hinter der Sankt-Katharinen-Höhe stand ein breiter Purpurstreifen auf dem bleichen Himmel. Vor ihr rann der graue Strom, im Winde erschauernd. Kein Mensch war auf den Brücken. Die Laternenlichter verblichen.
Sie erholte sich allmählich und dachte an ihre Berta, die fern in Yonville schlief, im Zimmer des Mädchens. Ein Wagen voll langer Eisenstangen fuhr unten vorüber; das Metall vibrierte in eigentümlichen Tönen….
Da stahl sie sich in plötzlichem Entschlusse fort. Sie ließ Leo und kam allein zurück in den Boulogner Hof. Alles, selbst ihr eigner Körper war ihr unerträglich. Sie hätte fliegen mögen, sich wie ein Vogel hoch emporschwingen und sich rein baden im kristallklaren Äther.
Nachdem sie sich ihres Kostüms entledigt hatte, verließ sie den Gasthof und ging über den Boulevard, den Causer Platz, durch die Vorstadt, bis zu einer freien Straße mit Gärten. Sie ging rasch. Die frische Luft beruhigte sie. Nach und nach vergaß sie die lärmende Menge, die Masken, die Tanzmusik, das Lampenlicht, das Souper, die Dirnen. Alles war weg wie der Nebel im Winde. Im »Roten Kreuz« angekommen, warf sie sich aufs Bett. Es war in demselben Zimmer des zweiten Stocks, wo ihr Leo damals seinen ersten Besuch gemacht hatte. Um vier Uhr nachmittags ward sie von Hivert geweckt.
Zu Haus zeigte ihr Felicie ein Schriftstück, das hinter der Uhr steckte. Emma las:
»Beglaubigte Abschrift. Urteilsausfertigung …« Sie hielt inne. »Was für ein Urteil?« Sie besann sich.
Etliche Tage vorher war ein andres Schriftstück abgegeben worden, das sie ungelesen beiseitegelegt hatte. Erschrocken las sie weiter:
» Im Namen des Königs!…« Sie übersprang einige Zeilen. »… binnen einer Frist von vierundzwanzig Stunden … achttausend Franken …« Und unten: »Vorstehende Ausfertigung wird … zum Zwecke der Zwangsvollstreckung erteilt …«
Was sollte sie dagegen tun? Binnen vierundzwanzig Stunden!
»Die sind morgen abgelaufen!« sagte sie sich. »Unsinn! Lheureux will mir nur angst machen!«
Mit einem Male aber durchschaute sie alle seine Machenschaften, den Endzweck aller seiner Gefälligkeiten. Das einzige, was sie etwas beruhigte, war gerade die enorme Höhe der Schuldsumme. Durch ihre fortwährenden Käufe, ihr Nichtbarbezahlen, die Darlehen, das Ausstellen von Wechseln, die Zinsen, die Prolongationen, Provisionen usw. waren ihre Schulden bis zu dieser Höhe angelaufen. Lheureux wartete auf dieses Geld ungeduldig. Er brauchte es zu neuen Geschäften.
Mit unbefangener Miene trat Emma in sein Kontor.
»Wissen Sie, was mir da zugefertigt worden ist? Das ist wohl ein Scherz!«
»Bewahre!«
»Wieso aber?«
Er wandte sich ihr langsam zu, verschränkte die Arme und sagte:
»Haben Sie sich wirklich eingebildet, meine Verehrteste, daß ich bis zum Jüngsten Tage Ihr Hoflieferant und Bankier bliebe? Für nichts und wieder nichts? Es ist vielmehr die höchste Zeit, daß ich mein Geld zurückkriege! Das werden Sie doch einsehen!«
Sie bestritt die Höhe der Schuldsumme.
»Ja, das tut mir leid!« erwiderte der Händler. »Das Gericht hat die Forderung anerkannt. Gegen den Schuldtitel ist nichts zu machen. Sie haben ja die Vorladung bekommen! Übrigens bin ich nicht der Kläger, sondern Vinçard.«
»Könnten Sie denn nicht….«
»Ich kann gar nichts!«
»Aber … sagen Sie … überlegen wir uns einmal….«
Sie redete hin und her. Sie habe nicht gewußt, sie sei überrascht Worden….
»Ist das denn meine Schuld?« fragte Lheureux mit einer höhnischen Geste. »Während ich mich hier abplagte, haben Sie herrlich und in Freuden gelebt!«
»Wollen Sie mir eine Moralpredigt halten?«
»Das könnte nichts schaden!«
Sie wurde feig und legte sich aufs Bitten. Dabei ging sie so weit, daß sie den Händler mit ihrer schmalen weißen Hand berührte.
»Lassen Sie mich zufrieden!« wehrte er ab. »Am Ende wollen Sie mich gar noch verführen!«
»Sie sind ein gemeiner Mensch!« rief sie aus.
»Na, na!« lachte er. »Werden Sie nur nicht gleich ungnädig!«
»Ich werde allen Leuten erzählen, was für ein Mensch Sie sind! Ich werde meinem Manne sagen….«
»Und ich werde Ihrem Manne was zeigen….«
Er entnahm seinem Geldschranke Emmas Empfangsbestätigung der Summe für das verkaufte Grundstück.
»Glauben Sie, daß er das nicht für einen kleinen Diebstahl halten wird, der arme gute Mann?«
Sie brach zusammen, wie von einem Keulenschlage getroffen. Lheureux lief zwischen seinem Schreibtisch und dem Fenster hin und her und sagte immer wieder:
»Jawohl, das zeig ich ihm … das zeig ich ihm….«
Plötzlich trat er vor Emma hin und sagte in wieder friedlichem Tone:
»'s ist grade kein Vergnügen – das weiß ich wohl! – aber es ist noch niemand dran gestorben, und da es der einzige Weg ist, der Ihnen bleibt, um mich zu bezahlen….«
»Aber wo soll ich denn das viele Geld hernehmen?« jammerte Emma und rang die Hände.
»Na, wenn man Freunde hat wie Sie!«
Er sah sie scharf und so tückisch an, daß ihr dieser Blick durch Mark und Bein ging.
»Ich will Ihnen einen neuen Wechsel geben….«
»Danke! Habe genug von den alten!«
»Könnte ich nicht was verkaufen?«
»Was denn?« fragte er achselzuckend. »Sie besitzen doch gar nichts!« Dann rief er durch das kleine Schiebfensterchen in seinen Laden hinein: »Anna, vergiß nicht die drei Stück Tuch Nummer vierzehn!«
Das Mädchen trat ein. Emma begriff, was das heißen sollte. Sie machte einen letzten Versuch.
»Wieviel Geld wäre dazu nötig, die Zwangsvollstreckung aufzuhalten?«
»Es ist schon zu spät!« antwortete Lheureux.
»Wenn ich nun aber ein paar Tausend Franken brächte? Ein Viertel der Summe?… Ein Drittel?… Und noch mehr?«
»Das hätte alles keinen Zweck!«
Er drängte sie sanft dem Auslange zu.
»Ich beschwöre Sie, bester Herr Lheureux! Nur ein paar Tage Zeit!«
Sie schluchzte.
»Donnerwetter! Gar noch Tränen!«
»Sie bringen mich zur Verzweiflung!« jammerte sie.
»Mir auch egal!«
Er machte die Türe zu.