Egid von Filek
Wachtmeister Pummer
Egid von Filek

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15.

Der Herr Wasservogel war wieder einmal nach Kasdorf geflogen. In der Gaststube beim Moser saß er, an demselben Platz, wo er im Vorjahr die Bekanntschaft des Wachtmeisters gemacht hatte, und jammerte über schlechten Geschäftsgang.

»Das sind Zeiten, Gott gerechter! Das sind Zeiten!«

Und er erzählte allerhand Neues aus Wien, das nicht in den Zeitungen stand; vom Lebensmittelwucher und von Schwindlern und Hochstaplern, die sich bei Kriegslieferungen unerhört bereicherten. Aber zwischen den Worten seiner Rede guckte überall der blasse Neid heraus, daß er dabei nicht selber hatte seinen Rebbach machen können. Denn für seine Artikel hatte das Ärar nicht das mindeste Interesse. 350

Die alten Bauern horchten mit offenen Mäulern auf den Wortschwall. Als er dann anfing, die große Tasche auszupacken und seine Ware anzupreisen – er arbeitete jetzt in Kaiserbildern, Hindenburg-Postkarten, Kriegsbroschüren und derlei Aktualitäten – schlichen sie davon. Nur die Moserin kaufte eine illustrierte Kriegsgeschichte.

»Daß ma doch a was weiß vom Krieg,« meinte sie.

Der Moser war zwar der Meinung, es gäbe Krieg genug in seiner Häuslichkeit, seit er die alte Liebe von einst geheiratet hatte, aber als gutdressierter Ehemann sprach er seine Gedanken nicht aus.

Herr Wasservogel aber lenkte die kleinen Schritte seiner O‑Beine dem Schulhause zu, begrüßte den Oberlehrer, sprach sein tiefgefühltes Bedauern aus über das unvermutete Hinscheiden des unvergeßlichen Herrn Gärtner – er hatte ihn in seinem Leben nur dreimal gesehen – und nahm dann einige Bestellungen auf Anschauungsbilder entgegen. 351

»Sagen Sie, Herr Wasservogel.« sprach der Oberlehrer so leise und vertraulich, als es eben noch mit seiner Würde im Einklang stand, »ist das richtig, daß die Ungedienten des zweiten Aufgebots ebenfalls zum Waffendienst herangezogen werden?«

Wasservogel legte sein scharfgeschnittenes Gesicht in bedenkliche Falten:

»Kann sein, Herr Direktor, kann schon sein . . . Na, wie Gott will. Ich hab Krampfadern und Plattfüß und einen Regimentsarzt zum Freund. Vielleicht komm ich ihnen aus. Gott soll Sie beschützen in der schweren Zeit, Herr Direktor. Und wenn Sie wieder was brauchen für die Schul, denken Sie an Wasservogel. Es geht jetzt so schlecht, das Geschäft . . .«

Damit empfahl sich Herr Wasservogel und ließ den Schulmonarchen in einem Zustand heimlicher Unruhe zurück. Am nächsten Tage kam eine Zuschrift von der Behörde, die ihm befahl, im Falle seiner Einrückung zum Heere einen Stellvertreter namhaft zu machen. Es war also 352 nichts mit der Enthebung. Und in der nächsten Woche standen die älteren Leute des Ortes gaffend um einen roten Zettel herum, auf dem in jener lakonischen Kürze, die militärische Verfügungen so wohltuend und charakteristisch von jenen der Zivilbehörden unterscheidet, alles Mannsvolk bis zum dreiundvierzigsten Lebensjahr zu einem bestimmten Termin behufs Musterung ins Städtchen befohlen ward.

Da gab's lange Gesichter und manche Frauen- und Kindertränen.

Aber ruhig und unaufhaltsam drehte sich der Erdball weiter, dem Schicksalstag entgegen; und der arme Herr Oberlehrer, der tagsüber genug zu tun hatte, um seine weinende Frau mit allerlei Trostgründen zu beruhigen, an die er selber nicht glaubte, lag des Nachts schlaflos in seinem Bett – Frau Rosel schlief wie ein Murmeltier, denn die Erschöpfung des Weinens macht müde – und sah dem Mond zu, wie er in majestätischer Ruhe durch die Wolken steuerte; aber seine Seele war arg zerwühlt, und er kämpfte 353 den härtesten Kampf, den der Mensch führen kann: den gegen seine Bequemlichkeit.

Vergebens las er die Geschichte Napoleons des Großen und des Deutsch-Französischen Krieges; umsonst ließ er die Buben und Mädel lauter hochkriegerische Aufsätze schreiben; vergebens war's, daß der Kaplan halb ernst und halb ironisch – wie es eigentlich gemeint war, wußte man bei ihm nie – ihn dazu beglückwünschte, daß er nun all das Wunderbare und Unerhörte des Weltkrieges erleben, wirklich erleben sollte, von dem man sich daheim ja doch keine blasse Vorstellung machen könne, trotz aller illustrierten Lieferungshefte, Zeitungsberichte und Wandkarten. Die nagende, bohrende Sorge wuchs mit jedem Tag.

Fern sei es von uns, einem so ausgezeichneten Mann und gewiegten Pädagogen, wie es Herr Wimmer war, daraus den Vorwurf der persönlichen Feigheit zu schmieden. Hand aufs Herz: haben wir nicht alle, die diesen Krieg tätig oder leidend mitgemacht, alle, ohne Ausnahme, hie 354 und da doch trotz unseres unantastbaren Mannesmuts das Herz etwas stärker gegen die Rippen hämmern gefühlt, wenn gewisse hochdramatische Momente kamen?

Man bedenke: Oberlehrer Wimmer hatte sein ganzes Leben lang unentwegt für die Kultur gekämpft und war ein begeisterter Anhänger der Friedensbestrebungen gewesen. Und jetzt im dreiundvierzigsten Jahr, knapp an der Altersgrenze, sollte er einen Säbel schwingen, ein Mannlicher-Gewehr abschießen, Handgranaten werfen und mit Hurra einen feindlichen Schützengraben stürmen? –

Es war an einem wunderschönen Frühlingstag, als Herr Wimmer auf dem Wagen des Moserwirtes, der eine Kuh kaufen wollte, durch die breite Hauptstraße von Zwettl fuhr, mit seinen Dokumenten in der Brusttasche, die ihm im Falle der Assentierung wenigstens das Einjährigenrecht sicherten, und einem aufgeregt pochenden Herzen darunter. Schon auf dem großen Hauptplatz traf er die ersten Vorboten 355 des Krieges. Unteroffiziere mit wichtigen Gesichtern eilten hin und her, Männer mit flimmernden Assentierungsbuschen am Hut hielten sich untergefaßt und sangen, da und dort standen Grauhaarige mit stumpfsinnigen oder neugierigen Gesichtern herum, ihre Legitimationen fest in den knochigen Fingern haltend wie etwas sehr Kostbares; dazu brüllten Kühe und Kälber in allen Tonarten die große Pestsäule an, denn es war gerade Viehmarkt, schwere genagelte Bauernschuhe schoben sich hin und her, in den Wirtshäusern war Gesumme und Gebrause, in bretternen Verkaufsbuden wurden Lebzeltherzen, Gebetbücher und Rosenkränze feilgeboten. Bauernwagen rasselten über das Pflaster, meist Ochsengespanne, denn die Pferde standen draußen im Feld. Der Dunst der vielen Tierleiber stank zum Himmel.

»Alsdann – viel Glück, Herr Oberlehrer,« sagte der Moser, als er seinen Fahrgast absetzte. »I werd die Daumen einhalten, damit Sie freikommen.«

»Mein Gott, mir liegt ja nicht so viel daran,« 356 erwiderte Herr Wimmer mit Haltung, »unangenehm wäre es eben nur für die Familie – das kleine Kind –«

»Halt ja, der Krieg,« seufzte der Wirt. Aber es klang nicht ganz aufrichtig.

Und so ging der Moser, eine Kuh zu kaufen, und der Oberlehrer, um sich mustern zu lassen.

Die Kommission hatte ihre Zelte beim Neunteufel aufgeschlagen. Der Hof war schwarz von Menschen; man stand und lehnte an den Wänden herum, saß auf leeren Bierfasseln, rauchte und trank das bernsteingelbe Wittingauer. Einige waren schon halb besoffen. Der Oberlehrer betrachtete die Gesellschaft mit kritischen Blicken.

Ein Feldwebel kam und brüllte:

»Gruppe fünf mir nach, vorwärts – marrsch!«

Ein Haufe von Menschen setzte sich mit der Schwerfälligkeit einer Hammelherde in Bewegung. Herr Wimmer sah auf seinen Zettel; da stand: T bis W, Gruppe vier. Er steuerte auf einen Posten zu, der weniger martialisch aussah als der Feldwebel. 357

»Bitte, wo findet denn meine Musterung statt?«

Der Mann sah ihn an:

»Was, jetzt kommen's daher? Die andern san scho längst oben! Erster Stock links! Schaun's, daß aufi kommen, aber g'schwind, g'schwind!«

Herrn Wimmer blieb der Mund offen vor Staunen und Entrüstung. So wagte man ihn hier zu behandeln! Ihn, den Herrn Oberlehrer, vor dem in Kasdorf alles den Hut zog!

Aber der Soldat schob ihn die Treppe hinauf und war im Nu verschwunden, bevor er seine wohlverdiente Zurechtweisung in Empfang nehmen konnte.

Droben war eine einzige dicke, klebrige Wolke von Dunst und Schweißgeruch; am oberen Ende des Saales, hinter einem Verschlag, arbeitete die Kommission buchstäblich im Schweiße ihres Angesichtes. Herr Wimmer sah sich um: wahrhaftig, das war ja derselbe Saal, wo im vorigen Sommer die Liedertafel des Gesangs- und Orchestervereins stattgefunden hatte! Und dort, wo er den Taktstock geschwungen und lächelnd 358 für den Beifall gedankt, ragte setzt wie eine drohende Guillotine der Meßapparat, Tafeln mit schwarzen Buchstaben hingen da zur Prüfung der Sehweite, ein dunkelgrüner Vorhang bewegte sich hin und her, um nackte Menschen ein- und auszulassen; und alle reckten die Hälse und starrten nach dem Vorhang, hinter dessen schmutzigen Falten ihre Zukunft verborgen lag.

Aber näher und näher rutschten sie alle auf den Bänken dem Verschlag entgegen, und der Herr Oberlehrer rutschte mit.

»Jetzt müassen's Ihnen aber doch ausziagn, Herr Nachbar,« meinte ein Fleischer, der neben ihm rutschte.

Mein Gott, das hatte er ganz vergessen, daß beim Militär nur der Mann gilt und nicht des Mannes Kleid. War das nicht eine Stelle aus einem Gedicht? Richtig, ja es hieß: Wie Karl der Große Schulvisitation hielt. Der Oberlehrer zog seufzend seine Hosen herunter. Er war wohl manchmal sehr öde, der Schuldienst. Aber besser als der Dienst mit der Waffe war er halt doch. 359

Menschliches, Allzumenschliches enthüllte sich, je näher die Entscheidung kam. Dieser zottige, hünenhafte Oberkörper, der auf viel zu schwachen Beinen saß, gehörte einem Schmied; er hatte Fäuste wie zwei Weicheisenhämmer. Ein Bäcker war da mit dünnen X‑Beinen und einem durch die Nachtarbeit grün gewordenen Gesicht. Dort die Hühnerbrust und der Buckel, die dünnen Arme und gekrümmten Beine deuteten auf einen Schneider. Und alle diese Körper dampften die schrecklichsten Gerüche. Der Oberlehrer stöhnte:

»Kann man nicht irgendwo ein Fenster öffnen?«

»I wo, da kunnten's Ihnen Ihren Speck verkühlen,« höhnte der Schmied, der nichts als Sehne und Muskel war.

»Ungeschliffener Kerl,« knurrte der Oberlehrer. Und es wurde weitergerutscht.

Ein paar Männer gingen durch den Saal, der Ausgangstür zu. »Taugliche,« flüsterte der Schneider mit heiserer Stimme. Herr Wimmer erschrak ein wenig. Die sahen alle nicht halb 360 so gut aus wie er. Na, wie Gott will! Ja, wenn man zwanzig Jahre jünger wäre, dann – –

»Vorwärts, vorwärts,« drängte der Feldwebel. Die Reihe der nackten Vordermänner wurde kürzer und kürzer. Und jetzt – er wußte nicht, wie ihm geschah – jetzt stand Herr Wimmer unter dem Maß, empfand den Druck eines unsanft herabgelassenen Brettes auf seinem Kopf und sah wie durch Nebelschleier einen langen grünen Tisch mit einigen Herrn in Uniform, von denen einer auf ihn zutrat und ihn von oben bis unten betrachtete.

»Beruf?« fragte jemand an dem grünen Tisch. »Oberlehrer,« antwortete eine andere Stimme. »Umdrehen!« kommandierte die Uniform, vor der Herr Wimmer stand, und er wandte sich gehorsam um. Dann schob ihn der Feldwebel beiseite, und der Regimentsarzt befahl seinem Hintermann: »Atmen Sie tief . . . so . . .«

»Jetzt weiß ich aber wirklich nicht: bin ich tauglich oder nicht?« fragte er den Unteroffizier, der neben dem Maßgalgen stand. 361

Der grinste ihn an. »Sö? Mit dem G'stell?«

Aber der Arme war in der kurzen Zeit, da er Kommißluft atmete, schon so militärfromm geworden, daß er diese Worte nicht einmal mehr als Beleidigung empfand, sondern still in seine Unterkleider kroch; dann händigte man ihm ein gelbliches Papier ein, auf dem stand zu lesen, daß er zwar noch immer Landsturmmann, aber zum Waffendienst ungeeignet sei. Mit einem Gefühl großer Erleichterung ging er die Stufen der Holztreppe hinab in den Hof, wo schon wieder neue Scharen ihres Schicksals harrten..

»Assentierungssträußerl g'fällig?« rief ein altes Weib. Er dankte höflich. Aber eine Krawattennadel mit dem schwarzgelben Kreuz kaufte er und zwei Broschen in Email mit dem Reichsadler und dem türkischen Halbmond, um seiner Frau eine Freude zu machen. Der Reingewinn war ja fürs Rote Kreuz bestimmt.

Und dann stand er noch eine Zeitlang im Hof herum und genoß das ungewohnte Schauspiel. Wirklich, es lag etwas Großes in der Hingebung, 362 mit der alle diese reifen Männer dem Ruf des Vaterlandes folgten! Eigentlich hatte er doch auch was mitmachen, etwas vom Krieg sehen wollen. Natürlich nicht in der Front, dazu war er nicht mehr elastisch genug, aber hinten irgendwo, im Etappenraum oder so . . . Landsturmpflichtig war er ja noch immer. Aber zum Waffendienst taugte er nicht, das hatte er schwarz auf weiß in der Tasche, da war nichts zu machen.

Als er wieder auf der Straße stand, wunderte er sich, wie schön blau der Himmel war, wie alle Leute so zufriedene Gesichter machten und wie lustig der Viehmarkt brüllte. Das Leben war im allgemeinen doch schön.

Auch der Moser war zufrieden. Er hatte eine hübsche, kräftige Kuh gekauft, Scheinfelder Rasse, und billig – wegen der großen Futternot mußten die Bauern jetzt viel Vieh verkaufen.

»Guat is gangen, i seh's Ihnen an . . . Da wird die Frau daheim sich freuen, was?«

»Na ja – aber eigentlich ist es doch ein gemischtes Gefühl –« 363

»Gehn mer auf a Viertel Alten,« schlug der Moser vor. Und sie gingen; aus dem einen Viertel wurden drei und vier, bis es Zeit war heimzufahren.

Der Stammtisch in Kasdorf zitterte schon vor banger Erwartung. Denn wenn er noch ein Mitglied verlor, konnte nicht einmal mehr ein »Königrufer« gespielt werden.

Aber seine Sorge war unbegründet.

Der Herr Oberlehrer berichtete ausführlich über seine Erlebnisse und schenkte sich und den aufmerksamen Zuhörern auch nicht die unerquicklichsten Details.

»Ja, wie gesagt, man hat mich genau untersucht; zwei-, dreimal mußte ich mich umdrehen und der Arzt hätte mich sicher für tauglich erklärt; aber mit Rücksicht auf meinen Beruf . . . Es ist nicht so arg mit dem Militarismus, man läßt doch gewisse Kulturrücksichten gelten.«

Er tat einen Kuhschluck und wischte sich die weißen Schaumflocken aus dem Schnurrbart.

»Mein Gott – ein paar Männer müssen doch 364 schließlich daheimbleiben, sonst stirbt ja die Menschheit aus,« meinte Herr Kerzendocht.

Die zwei geistlichen Herrn bekräftigten diese Ansicht durch lebhaftes Kopfnicken.

Und dann spielte man zur Feier des Tages einen Musterungstarock, den der Oberlehrer verlor, und schrieb zwei Feldpostkarten. Eine an den Förster, der zur selben Stunde seine alten Knochen auf dem Strohsack eines Barackenlagers ausstreckte, nachdem er tagsüber Rekruten gedrillt hatte, und die andere an den Wachtmeister Pummer. Der schlich soeben mit seiner Patrouille durch die nächtliche Finsternis eines galizischen Urwaldes, um zwischen Tod und Leben die Stellung eines russischen Scheinwerfers zu erkunden. 365

 


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