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Eine Doppelreihe freundlich bunter Häuschen am Ufer des braunen Flußes hinauf und hinab, die sich an den Händen halten wie artige Kinder; dann ein Marktplatz mit einer Pestsäule, elend gepflastert, wo jeden Montag der große Viehmarkt stampft und brüllt; und ein Dutzend engbrüstiger Villen mit kleinen putzsüchtigen Vorgärtchen in jener Stillosigkeit, die Provinzbaumeister für die Moderne halten; dazwischen das Sparkassengebäude mit dem an die Wand gemalten Bienenfries – gibt es auf der ganzen Welt ein Sparkassengebäude ohne gemalte Bienen? – das Rathaus mit einem Relief, den pflügenden Kaiser Joseph darstellend, die Bürgerschule, die Hauptpost: das ist das Städtchen Zwettl, der Mittelpunkt des Waldviertels. 184
Draußen, wo aus einem klarblauen Himmel die Lerchen trillern, wogt im Sommer das blonde Korn und rauschen Nadelwälder; von allen Seiten rücken sie an die Stadt heran, schöner, gut gepflegter Stiftsforst, denn auch den Bäumen geht es gut unter dem Krummstab, und der vergoldete Heiland auf dem Kirchenturm der alten Abtei, die eine halbe Stunde von dem Städtchen entfernt liegt, wie eine Insel inmitten des Waldmeeres, hebt die Hand, als wolle er den Wald segnen und alle seine Bewohner. Die kleine Sekundärbahn überschreitet auf einer hohen Brücke den Fluß und macht mit Pfeifen und Zischen einen gewaltigen Lärm dazu. Ein paar alte Pensionisten wackeln mit ihren Stöcken zum Bahnhof, neue Gesichter zu sehen – eine tiefsinnigere Unterhaltung gibt es hier nicht. Die Eisenbahnzüge führen das schöne weiße Holz der Wälder den großen Städten zu, sie verfrachten die groben Tücher der armen Weber, die noch auf Handwebstühlen arbeiten, die Schals, die nach England geschickt, dort mit indischen Stempeln 185 bedruckt und von uns als echt indische Schals um das zehnfache Geld gekauft werden; denn die Welt will immer und immer wieder betrogen sein.
Hie und da ragt ein Stück Vergangenheit: eine rissige alte Stadtmauer, an der der Efeu hinaufklettert, ein paar Ruinentrümmer auf der Anhöhe über dem Fluß, wo einst eine Feste der Hunde von Kuenring war, die sich als trotzige Raubritter gegen den Landesherrn wehrten. Aber das Neue kommt über die Stadt und ihre Bewohner, langsam und unaufhaltsam, es zerstört die Mauern und Gesinnungen der Vergangenheit, drängt die alte Bauernkultur zurück und rüttelt mit ungeduldigen Fäusten an Dingen und Menschen. In den stillen, holzgetäfelten Stuben der alten Bürgerhäuser, wo vor fünfzig Jahren noch die Zither klang, kreischt jetzt das Grammophon, beim Neunteufel gibt's ein Kino und einen Tennisplatz, von grünem Gitterwerk umschlossen wie ein Affenkäfig.
In dem großen finsteren Gerichtsgebäude waltet die Dame Justitia ihres sauren Amtes. 186
Stumm und steinern steht sie da, die Wage in der Hand, mit verbundenen Augen, wie es sich gehört. Ihr Antlitz ist rauh und rissig, als hätte das Alter Runzeln hineingegraben; es ist auch keine Kleinigkeit, tagtäglich die tausend Erbärmlichkeiten anzuhören, mit denen sich die Menschen das bißchen Leben verbittern, und wenn sie vielleicht einmal im Idealismus ihrer jungen Tage sich eingebildet hat, man könne die Menschheit bessern und bekehren, so hat sie jetzt diese Hoffnung längst aufgegeben.
Denn die Kinder der Scholle sind bockbeinig und streiten sich auf Tod und Leben um ihr wirkliches oder vermeintliches Recht; ererbter Wahn sieht in der steinernen Frau allen Ernstes ein göttliches Wesen, und erst wenn sie am Schluß der Verhandlung erkennen, wie überflüssig das Ganze eigentlich war, dann kommt der Katzenjammer, sie klagen über die großen Kosten, kratzen sich den Dickschädel und finden, sie hätten besser getan sich auszugleichen. Aber diese Erkenntnis dauert immer nur bis zum nächsten Streit. 187
Ob wohl die fürchterlichen Kriminalprozesse, die man Kriege nennt, nicht ganz ähnlich beginnen und enden?
Der Richter war heute schlechter Laune. Lauter jämmerliche Bagatellsachen. Ein Hüterbub, der seine Kühe im fremden Klee geweidet und vom Besitzer des Feldes geprügelt worden war. Dabei ging die Hose des Buben in Fetzen. Der Vater klagte auf Schadenersatz, der Bauer versprach eine neue Hose. Ob sie der Bub noch bei Lebzeiten kriegen wird? Dann kam eine Bäuerin, die Milch gepantscht, ein Knecht, der bei der Kornscheuer geraucht, ein Bauer, der seinen Hund ohne Maulkorb auf die Straße gelassen. Jeder der Verbrecher zahlte ein paar Kronen Strafe und zog murrend seines Wegs.
Dann hatte ein Bursch bei einem Streit im Wirtshaus ein Taschenmesser gezogen und ein anderer Drohungen gegen den Wirt ausgestoßen. Beide leugneten aus Leibeskräften und führten Entlastungszeugen an. Aber der Gendarm Stiegler 188 sagte unter Diensteid aus. Da gab es ein paar Wochen strengen Arrest.
Ein Tagedieb stand vor den Schranken wegen unbefugten Fischens und behauptete, er habe nur seinem Sohn beim Fischen zugesehen, der unter vierzehn Jahren war und nicht bestraft werden durfte.
So ging es den ganzen Vormittag. Der Richter stöhnte und schob das schwarze Barett aus der Stirn. Er hatte ein rotes, von Schmissen zersäbeltes Gesicht und einen sorgsam geteilten Scheitel.
»Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an,« sagte er in einer Verhandlungspause leise zum Staatsanwalt. »Das hat man mir nicht gesungen in meiner Studentenzeit, daß ich einmal so enden werde.« Trübselig guckte er aus dem Fenster. Der Staatsanwalt lächelte über sein Fuchsgesicht und putzte mit einem feinen Taschentuch den goldenen Kneifer. »Dienst, lieber Herr Kollega, Dienst. Es kann nicht jeder gleich Justizminister werden.« 189
Draußen in dem dunklen Vorzimmer, wo die Zeugen den Ruf des Gerichtsdieners erwarteten, war ein Tuscheln und Flüstern.
In dem kleinen Zeiselwagen des Moser waren sie alle zur Verhandlung gekommen, der Wirt, die Mirzl, der Kerschbaum Poldl, der Lux Ferdl und ein paar vom Gesinde des Luxhofes. Der Totengräber Lippl und noch zwei von seinen Freunden konnten sich das Herfahren ersparen, denen hatte der Untersuchungsrichter schon vor einigen Wochen eine sehr feste Stellung im Amtsgebäude selbst verschafft.
Die Mirzl sah recht gut aus in dem hellgrauen Tuchkleid, das sie dem Gericht zu Ehren heute angelegt; blaß war sie und hatte Ringe um die Augen, und jedesmal wenn die Tür des Verhandlungszimmers aufging, schrak sie zusammen, und ein nervöses Zittern ging über ihre Gestalt. Aber der Ferdl hielt sich dicht neben ihr und sprach ihr Mut zu, obwohl ihm selbst nicht ganz geheuer war. So viel stand bei ihm fest: wenn er diesmal mit heiler Haut aus den Krallen des 190 Gerichts herauskam, dann konnte sich der Pummer in acht nehmen.
Alte Traditionen der Vergangenheit wurden wieder lebendig in seinem Blut. Nicht umsonst hatten die Vorfahren des Lux in jenen furchtbaren Bauernkriegen mitgestritten, die zur Reformationszeit und noch lange nachher das ganze Land Niederösterreich zerfleischten; droben auf der Rosenburg versammelte man sich und zog aus zum »Herrenderschlagen«, zur Plünderung der Burgen, Märkte und Pfarrhöfe, zum Kampf für das uralte gute Bauernrecht, das noch heute in so manchem unklaren Hirn spukt: freies Holz, freie Jagd und Fischerei. Waren auch ein paar von den Waldviertler Bauern damals auf dem großen Platz in Zwettl mit dem Schwert hingerichtet worden . . .
Nein, nein. Das waren vergangene Zeiten. Der Ferdl wollte nichts tun, was dem Wachtmeister an Leib und Leben ging. Er war gutmütig wie alle hitzigen Hunde, die viel bellen und wenig beißen. Aber unmöglich machen wollte 191 er ihn bei allen Leuten im Ort und ganz besonders bei dem Mädel. Nicht gleich jetzt – o nein. Er wollte sich was besonders Feines ausdenken.
Rache will kalt genossen sein . . .
Seine Blicke streiften den Moser, der mit zwinkernden Augen herumguckte und sich den Kopf kratzte. Ob der Alte wirklich dem Mädel die zwei Morgen Ackerland verschrieb, um die sie ihn quälte seit Wochen? Schönes, gutes Feld, ach ja. Es grenzte an die Kornbreiten des Vaters. Erst gestern waren sie beide draußen gewesen und hatten sich den Fall angesehen. Und der alte Lux hatte ein paarmal mit dem Kopf genickt und gemeint, das wär' ein feiner Boden, dunkel, schwer und fruchtbar, und tät guter Weizen drauf wachsen. Der Ferdl sagte nichts dazu, schob nur die Pfeife aus dem linken Mundwinkel in den rechten und paffte etwas stärker. Und dann fing der Alte von der Mosermirzl zu reden an. Daß das Mädel eine gute Gattung wär', brav und sauber, Holz bei der Hütten. Und daß eine tüchtige Frau schon not 192 tät im Luxhof, die Männer allein richteten's nicht, und für den Sakra, den Ferdl, wär's auch schon Zeit, wenn er sich die Dummheiten wollt abgewöhnen und heiraten. Der Ferdl sagte auch jetzt noch nichts, sondern schob die Pfeife aus dem rechten Mundwinkel wieder in den linken und spuckte aus.
Eigentlich hat der Vater recht. Die Mirzl wär keine üble Frau für ihn. Zu plagen brauchte sie sich auch nicht, es gab Knechte und Dirnen genug auf dem Luxhof. Na und vor allem: der Pummer durfte sie nicht kriegen. Der schon gar nicht.
Heut nach der Verhandlung wollten sie zum Notar. Der Ferdl war sehr neugierig, ob es Ernst wurde mit dem Feld. Bevor er die Verschreibung nicht mit eigenen Augen sah, glaubte er nicht daran.
Freilich, freilich: vor der breiten Straße, die in sein sonniges Zukunftsland führte, lag wie ein Querbalken die Gerichtsverhandlung. Alles kam auf die Aussage des Mädels an. »Dirndl, sei g'scheit!« raunte er ihr in einem unbewachten 193 Moment zu. Sie senkte den Kopf tiefer und gab keine Antwort.
Der Moser war verdrießlich. Wozu sie ihn eigentlich dahergeschleppt hatten, begriff er nicht recht. Er hatte ein grenzenloses Mißtrauen gegen alle Offenbarungen der Staatsgewalt: das Steueramt, die Militärbehörde und besonders gegen das Gericht. Auch die Sache mit der Verschreibung war ihm nicht recht. Der beste Ackergrund in der ganzen Gemeinde! Wozu braucht das Mädel eigentlich so ein großes Stück Land? Aber freilich, wenn sie heiraten will, muß er ihr etwas Ordentliches mitgeben. Sonst steht er gar als Geizkragen da. Und der Ferdl war einer der reichsten Bauernsöhne im ganzen Ort. Er mußte wohl in den sauren Apfel beißen. Dann konnte er ruhig die Viehhändlerswitwe heiraten. Ob die das wohl wert war, so ein schönes Feld? Ein verteufelt schlaues Mädel, die Mirzl. Na ja – sie war halt seine Tochter!
Der Kerschbaum Poldl hatte seit der Ausfahrt von Kasdorf noch keine zehn Worte gesprochen 194 und immer nur seine Pfeife geraucht. Sein Gesicht war der fleischgewordene Vorsatz: Nicht mit zehn Pferden kriegt ihr etwas aus mir heraus.
Die Hanni vom Luxhof saß wie ein aufgeplusterter Vogel mit ihren breiten Röcken da und überlegte jedes Wort, das sie bei der Verhandlung sagen sollte. Sie war sehr stolz auf ihre Bedeutung als Zeugin.
Und nun knarrte die Tür wieder, und der hutzelige kleine Amtsdiener, der wie eine getrocknete Zwetschge aussah, rief mit dünner, scharfer Stimme die Zeugen auf.
Sie traten ein. Die Mirzl zögerte auf der Schwelle sekundenlang und machte eine Bewegung, als wollte sie zurücktreten. Aber der Ferdl schob sie hinein.
Da saßen hinter einem erhöhten Tisch ein paar Männer mit strengen Amtsgesichtern. Vor ihnen lagen auf dem grünen Tuch, als corpus delicti, alte Jagdstutzen und zwischen ihnen das Porzellanknöpfchen, im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinzwinkerte, geheimnisvoll 195 funkelnd wie damals, als es vor den drei Gendarmen aus dem Waldmoos geleuchtet hatte gleich einem Goldkäfer.
Die Verhandlung begann.
Der Staatsanwalt mit dem Fuchsgesicht guckte den Lux über den Rand seines Augenglases hinweg sehr scharf und mißtrauisch an, während das goldene Knöpfchen aus einer Hand in die andere ging und betastet und bewitzelt wurde. Aber der Lux war klug; er schwieg still und ließ seinen Advokaten reden, einen feinen, pfiffigen Kerl aus der Stadt, der dem Teufel eine Seel' hätte abdisputieren können; der Luxbauer konnte sich so einen leisten. Trotzdem neigte sich einen Augenblick die Schale der Gerechtigkeit stark zu ungunsten des Ferdl; das war während einer dramatischen Szene, als der Lippl, der genau spürte, wie der fremde Schriftgelehrte ihn eintunken wollte statt des Ferdl, diesem in leidenschaftlicher Erregung ein paar Ehrenbeleidigungen an den Kopf warf. Der Ferdl wollte auffahren, aber ein Blick aus den 196 Brillengläsern seines Verteidigers dämpfte merkwürdig rasch seinen Groll zu einem trockenen Lachen.
Dann kam das Zeugenverhör mit dem Gesinde des Luxhofes. Die Hanni erklärte, der junge Herr sei ein paarmal mit einem Stutzen Eichkatzeln schießen gegangen, weiter wisse sie nichts. Was die andern aussagten, war völlig belanglos, und auch eine Rundfrage bei einer Anzahl von Ortsbewohnern hatte nur unbestimmte Redereien und Vermutungen ergeben. Mit dummschlauem Gesicht erklärte der Moser, in dessen Nähe der Kerschbaum Poldl beim Kirchtag seine bedenklichen Reden losgelassen, er könne sich an gar nichts erinnern und hätte selbst schon ein paar Gläser Wein im Kopf gehabt.
Unter allgemeiner Spannung wurde nun die Mirzl vernommen. Der Richter stellte allerhand Kreuz- und Querfragen. Ihre ruhige, sichere Art machte den besten Eindruck, und der Staatsanwalt, der die junge Weiblichkeit auf allen Sprossen der sozialen Leiter nicht ungern sah, nickte 197 befriedigt. Wie sie neben dem sehnigen, schlanken Ferdl dastand, gab es ein prächtiges Paar. Als aber die verhängnisvolle Frage nach dem Aufenthalt des Ferdinand Lux in der kritischen Nacht gestellt wurde, zog das Mädel sein Taschentuch und begann zu heulen, daß man es bis ins Zeugenzimmer hörte.
Der Richter lächelte, und die anwesenden Männer lachten. Der Staatsanwalt aber sagte in einer Anwandlung von Galanterie:
»Ich denke, wir wissen genug. Die Zeugin kann sich entfernen.«
So rettete die Mirzl ihr guter Schutzengel vor Meineid und Todsünde.
Dem Lippl ging es nicht so gut. Man hatte in seinem Bettstroh ein Vierteldutzend zerlegte Jagdstutzen gefunden, die aus dem Besitz seiner Freunde stammten; und weil er mehrfach vorbestraft und es bei ihm »eh alles oans« war, so büßte er mit seinen eigenen auch die Sünden der andern mit. Denn es gibt ein Sprichwort im Waldviertel: Wenn du einen Stein umfallen siehst, 198 so gib ihm noch einen Fußtritt. Auch die Aussagen des Gendarmen Griensteidl über seine im Rausch gemachten Äußerungen schadeten ihm sehr.
Am besten kam der Kerschbaum Poldl, der sich ganz dumm stellte, bei der Sache weg. Er hatte seinen Stutzen zur rechten Zeit in die Obhut des Lippl gegeben, an dem eben die Reihe war, die »Mauer« zu machen und das Schießzeug aufzuheben. Deshalb konnte man ihn nicht einmal wegen unbefugten Tragens von Waffen belangen wie den Ferdl.
Aber gerade über die Hauptfrage, wer den Heustadel in Brand gesteckt, war keine Klarheit zu gewinnen, und der feingezimmerte Indizienbeweis des Wachtmeisters krachte in allen seinen Fugen. Zudem lag eine Meldung des langen Stiegler vor, daß einige Tage vor der Brandnacht Zigeuner am Rand des Klosterwaldes gelagert hätten.
Das Gericht gelangte endlich zu dem Beschluß, den Totengräber Lippl wegen Wilderns und Übertretung des Waffenpatents zu ein paar 199 Monaten zu verdonnern. Doch wurde ein Teil der Strafe durch die Untersuchungshaft verbüßt erachtet und ihm gestattet, den Rest erst nach ein paar Tagen anzutreten. Der Ferdl bekam eine Geldstrafe wegen unbefugten Waffentragens und eine scharfe Verwarnung vom Staatsanwalt dazu. Dann kam der übliche Streit um die Zeugengebühren, die von den Zeugen recht hoch und vom Gericht möglichst niedrig bemessen wurden. Und dann gab's wieder andere Fälle, und die Mühle der Justiz arbeitete weiter mit Knirschen und Seufzen und gewaltig viel Wasserverschwendung.
Es war eine ganz fidele Gesellschaft, die sich gegen Mittag im »Kaffeerestaurant Neunteufel« zusammenfand, und der gefeierte Held und Märtyrer zugleich der Lippl, dem dieser Tag der Höhepunkt seines Lebens schien.
Der Poldl schlug ihn auf die Schultern und nannte ihn einen Mordskerl; die strohblonde Hanni sah ihn freundlich an, der Ferdl aber steckte ihm einen großen blauen Lappen zu, als 200 zweite Rate seines Schmerzensgeldes, wie es ausgemacht war.
Der Lippl, um den sich die bessern Einwohner des Ortes sonst wenig kümmerten und der nur als Spaßmacher galt, war von alledem so gerührt, daß er nur mehr leise knurrend bemerkte:
»Heunt ham's mich erwischt, an anders Mal kommst halt du dran.«
»Ah beilei,« meinte der Ferdl. »Geh zu, Lippl, dir liegt ja gar nix dran an dem bissel Einsperren.«
Der alte Neunteufel ging von einem Gast zum andern und machte freundliche Worte. Früher war er ein einfacher Bauernwirt gewesen, aber der Aufschwung des Städtchens, der bald nach dem Bau der Sekundärbahn begann, hatte auch ihn mitgerissen, und so ließ er über dem Portal seines uralten Hauses die Aufschrift: »Kaffeerestaurant« in meterhohen Goldbuchstaben anbringen, erklärte die Gaststube zum Restaurant und das große Extrazimmer mit der gewölbten Decke zum Kaffeehaus, wo in den dicken Fensternischen kleine Tischchen mit nachgeahmten 201 Marmorplatten standen; er schaffte auch zwei Billardbretter und ein Pianino an, stellte Ledersofas in die Ecken und hing Bilder an die Wände; er richtete die Petroleumhängelampen für elektrisches Licht ein, das vom städtischen Elektrizitätswerk unten am Kampfluß erzeugt ward, und vermietete den großen Tanzsaal im ersten Stock an eine Kinounternehmung. So schwanden allmählich die Bauerngäste und machten den kleinstädtischen Figuren des Mittelstandes Platz, zwischen denen der Wirt umherwandelte wie ein Planet zwischen Fixsternen, in einer halb städtischen, halb ländlichen Kleidung; nur drunten in der Schwemme saß noch ein Stück der alten Zeit, knorrige Bauern mit weißem Haar, blauen Fürtüchern und ehrwürdig stinkenden Pfeifen.
Der Moser und seine Tochter erschienen erst nach dem Zwölfuhrläuten; sie kamen vom Notar, wo der Alte unter vielem Seufzen und Kopfschütteln die Verschreibung richtig gemacht hatte. Er wollte gar nicht dran, und hätte ihm die Mirzl nicht im entscheidenden Moment selbst 202 die Feder in die Hand gedrückt, so hätte er sich's vielleicht noch jetzt überlegt.
Aber das schlaue Mädel wußte ihm die bittere Pille zu verzuckern. Denn als sie nach einem anständigen Mittagessen in der gemütlichsten Fensternische beim Wein saßen und der Ferdl just voll inniger Dankbarkeit unter dem herabhängenden Tischtuch eine runde kleine Hand drückte, tat sich die Tür auf, und die Müllnerin kam herein, begleitet von einer Gevatterin als Anstandsdame, wie es sich schickt für eine immerhin noch in den besten Jahren stehende Frau.
Die Mirzl hatte die beiden Weiber, die sie seit ihrer Kinderzeit kannte, auf dem Rückweg vom Notar besucht und so dringend eingeladen, ihnen Gesellschaft zu leisten, daß eine Absage unhöflich gewesen wäre. Und nun fand jeder Topf seinen Deckel; der Moser schmunzelte und machte sich an die Viehhändlerswitib heran, die geziert und gespreizt tat wie ein junges Mädel; der Lippl unterhielt sich etwas abseits mit der strohblonden Hanni und gab zu verstehen. daß 203 er nach Absitzung seiner Strafe ihr gerne noch nähertreten wolle, sie ließ sich den gezuckerten Wein gut schmecken und lachte ihn an aus den wässerigen Augen. Die Mirzl aber zeigte voll Stolz dem Ferdl die Verschreibung. Der sah bewundernd an ihr hinauf. So was Schneidiges!
Es war spät am Nachmittag, als man sich zur Heimkehr entschloß. Der Herbstwind riß die gelben Blätter von den Kastanienbäumen; breite Hausdächer starrten in die Dämmerung und warteten auf den ersten Schnee. Vom Kampfluß hoben sich Nebelschleier, wurden dichter und dichter und wogten zwischen den Häusern hin und her wie ein See, aus dem die plumpe Pestsäule mit ihren steinernen Wolken als schroffes Felsenriff emporstieg.
Der Ferdl nickte der Justitia, zu der er am Vormittag mißtrauisch emporgesehen, mit gekniffenen Augen zu. »Hast mir halt doch nix tun können, du steinernes Frauenzimmer!« murmelte er vergnügt. Dann ging man zum Kaufmann am Hauptplatz Einkäufe besorgen, 204 schob sich langsam in dem dunklen Gewölbe hin und her, feilschte, wählte und prüfte genau und suchte langsam die Münzen aus dem Beutel. Der Moser brauchte einen neuen Heber, der Ferdl ein Kistchen Sonntagszigarren für den Vater, die Weiber allerhand Putzkram und der Lippl eine Weichselholzpfeife. Die mußte ihm die Hanni aussuchen und bezeigte hierbei viel Geschmack und Verständnis; sie wählte einen runden geschnitzten Kopf mit einem springenden Hirsch, das paßte am besten für den verunglückten Jagdliebhaber. »Wenn ich nur rauchen kann im Arrest, nachher is mir alles oans,« meinte er gemütlich. Der Ferdl half wiederum der Mirzl bei der Auswahl von Bändern, Strümpfen und Haarkämmen und würzte seine Tätigkeit mit verschiedenen unpassenden Anspielungen, so daß das arme Mädel ganz verlegen wurde. Dann ließ der Moser einspannen und man fuhr im behaglichen Bewußtsein, den Tag gut ausgenutzt zu haben, die sandige Straße mit leisem Räderknirschen dahin. 205
Unten lag die Stadt im Nebel, aber auf der Hochebene droben war die Luft scharf und klar. »So ist das Wetter schon recht,« meinte der Ferdl. »A guter Winter wird's.« Der Alte nickte. Er bezog es auf sich und erhoffte sich noch ein Dutzend ruhige Lebensjahre mit guter Gesundheit und anständigem Gewinn. Und in den dämmernden Himmel hinein zeichnete er sich die Bilder seines künftigen Lebens. Ja, die Müllnerin würde ein tüchtiges Weib abgeben, wenn sie erst seine Hauserin war. Mit dem Geld, das sie ihm zubrachte, wollte er seinen Grundbesitz vergrößern; ein Bauer im oberen Ort war nahe am Abwirtschaften, da konnte man billig einkaufen und gut. Er mußte doch den Verlust der Felder wieder einbringen, Kruziteufel!
Der Lippl drückte die Hanni an sich; als sie behauptete, es sei recht kühl, legte er sorglich die dicke Hallina um sie und führte unter den plumpen Falten mit seiner Hand allerlei kühne Manöver aus, ohne ernsthaften Widerstand zu finden. Daß der Poldl neben ihm saß, störte ihn nicht weiter; 206 der paffte Rauchwolken in den Abendwind und überlegte seinen nächsten Pirschgang.
Auch der Ferdl malte sich Bilder der Zukunft. Er sah die schönen Ackerflächen vor sich liegen, und die Mirzl stand im hellen Sonnenschein zwischen den braunen, dampfenden Schollen, wie aus dem Boden herausgewachsen, und sah zu, wie er pflügte. Er roch den herben Duft der Erde, hörte den Ruf der Hüterbuben und das frohe Lachen seines Mädels. Es war ihnen allen zumut, als hätte sich ein Ring geschlossen und sie wären nach gefährlicher Irrfahrt wieder in die sichere Heimat zurückgekehrt. Am zufriedensten aber war die Mirzl. Sie lehnte sich an die breiten Schultern des Burschen und lächelte so recht in sich hinein; jauchzen hätte sie mögen wie damals als Kind, da sie mit dem kleinen Egon Blindekuh gespielt; und wieder war derjenige, dem die Augen verbunden wurden, der Mann. 207