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Aber dann bloß der goldene Nußberger wieder in die Gläser und die Stimmung wurde heiter.
»Eigentlich ist er doch zu stark für einen Tischwein,« meinte der Vater Benedikt und hob den kleinen Römerkelch empor wie die Monstranz bei der Messe.
»Den soll man nur am Bernhardifest trinken,« sagte bedächtig der Kämmerer, indem er sich ein frisches Gläschen eingoß.
»Ach was, der Fisch will schwimmen,« rief der Waldmeister.
»Fisch? Den gibt's doch erst heut abend.«
»Aber der Franzl hat in der Küche schon einen hintern Habit g'steckt,« lachte der Novizenmeister. Und weil die jungen Kleriker sehnsüchtig 232 herüberschielten, schob er ihnen die Flasche zu mit bedeutsam erhobenem Finger: »Trunksucht ist eine schwere Sünde.«
Der Pfarrer von Kasdorf blickte wohlgefällig auf das junge Volk und dachte der Zeiten, als er selbst noch dort an jenem Katzentisch gesessen und ehrfurchtsvoll die alten Wandbilder betrachtet hatte, die von der Gründungssage des Stiftes erzählten, von Hadmar von Kuenring, der einen Rosenbusch erblühen sah mitten im Schnee. Da ging er, der ein gewaltiger Raubritter und Leuteschinder war, in sich und erkannte, daß die Gnade des Herrn unendlich ist und auf ein gottloses Leben eine fromme Sterbestunde gehört wie der Deckel mit dem Totenkreuz auf einen Sarg – und tat Buße für seine vielen Sünden und erbaute das Kloster.
Sie redeten jetzt alle durcheinander, mit einer gesuchten und zur Schau getragenen Gleichgültigkeit; einer sprach am andern vorbei und wartete keine Antwort ab. 233
Dann erhob sich der Abt, der ziemlich schweigsam dagesessen hatte, und gab das Zeichen zum Tischgebet.
Die klingenden lateinischen Worte hallten wider von der hochgewölbten Decke, von den Wänden mit der frommen Legende Hadmars von Kuenring.
Man verneigte sich gegen den Abt und stand noch eine Weile in den tiefen Fensternischen plaudernd beisammen. Später kam sogar ein kleines Kartenspiel in Gang.
Der Abt zog sich in seine Gemächer zurück. Auf der Stiege mit den schönen, verschnörkelten Marmorbalustraden trat ihm ein Konventdiener entgegen und reichte ihm ein Telegramm; das Stift war durch einen jener Millionen von dünnen Kupferfäden, durch welche Lust und Leid des ganzen Erdballs fließen, in Verbindung mit der Welt.
Er faltete den Zettel auseinander, las ihn aufmerksam, ließ die Hand mit dem Blatt langsam sinken und starrte vor sich hin, mitten 234 auf der Treppe stehend, mit einem versteinerten Gesicht.
Der Pfarrer von Kasdorf saß mit drei Brüdern bei einer Tarockpartie; aber er spielte zerstreut. Der Novizenmeister, der eine dicke Haut besaß und längst nimmer an Krieg und Pestilenz dachte, nützte die gute Gelegenheit und gewann ihm ein paar Kronen ab. Aber getreu dem Gelübde von der freiwilligen Armut beschloß er, sie morgen gewissenhaft in den Opferstock der Stiftskirche zu legen.
Dämmerung senkte sich auf die grauen Mauern, und der hallende Schlag der Turmuhr mahnte zur Heimkehr. Der Pfarrer nahm Abschied.
»Schön fahren is heunt, Hochwürden, – a feine Schlittenbahn,« meinte der Konventdiener, als er dem Johann das Pferd anschirren half. Und dann rollte er das Fassel Klosterwein herbei. Das wurde mit Riemen und Stricken gehörig auf dem Hinterteil des Schlittens verstaut; es gluckste verheißungsvoll, als der Johann und der Konventdiener es mit vereinten Kräften emporlüpften. 235
Der alte Vater Hadmar wackelte über den Hof. »Es wird wieder nichts draus –,« murmelte er vor sich hin.
»Küß d' Hand, Hochwürden, und fröhliche Feiertäg,« sagte der Diener und freute sich des Trinkgelds.
Das Pferd griff mächtig aus, als wittere es schon den warmen, heimischen Stall.
Es begann zu schneien. Winzig kleine, flimmernde Flocken, die den Schlitten umgaben wie eine weiße Wolke.
Nichts stimmt so sehr zum Nachdenken als das leise Rauschen der stahlbeschlagenen Kufen, der eintönige, gedämpfte Klingklang der Schellen durch die wachsende Dämmerung eines Winterabends.
Der Pfarrer wickelte sich fest in seinen Pelz und steckte sich eine Zigarre an. Aber er fand den gewohnten Gleichmut der Seele nicht. Wie ein Alp lag es auf ihm.
Stand es wirklich so schlimm, wie der Abt behauptet hatte? 236
Krieg! Man konnte sich gar nichts darunter vorstellen. Seit Menschengedenken hatte niemand einen Krieg mitgemacht. Das Wort löste keinen klaren Gedanken aus. Nur ein banges Grausen kroch einem übers Herz wie eine kalte, klebrige Schlange.
Die Sandsteinheiligen flogen an ihm vorbei, über deren grotesken Kopfschmuck von Schnee er beim Herfahren heimlich gelächelt hatte; er sah sie nicht. Der unendliche Frieden der Winterlandschaft breitete sich vor ihm aus; hie und da schimmerten die rötlich erleuchteten Fenster eines Hauses herüber; da war nun Weihnachtsglück und Herdfrieden und selige Kindergesichter um den funkelnden Lichterbaum. Und er zwang sich, an sein eigenes Heim zu denken, an die Mariann und an die blassen Weberkinder, die sich nun schon auf die Bescherung freuten, an sein warmes Zimmer, an den schwarzen Pudelkopf mit dem duftenden Inhalt. Vergebens – er empfand keine Weihnachtsstimmung mehr. 237
Die Menschen dieser armen Gegend, ohnehin mühselig und beladen genug – sie sollten noch das Kreuz eines Krieges auf sich nehmen?
Nein, das durfte nicht geschehen, das konnte Gott nicht zulassen, niemals!
Freilich war das ganze Leben des Christenmenschen ein ewiger Kampf, und man sprach nicht umsonst von der leidenden, streitenden und triumphierenden Kirche – aber so war es doch nicht gemeint – so nicht!
Ein plötzlicher Ruck des Schlittens schreckte ihn aus seinem Grübeln. Das Pferd machte einen heftigen Satz und blieb dann auf den lauten Zuruf des Knechtes stehen.
»Was gibt's denn, Johann?«
»Das Leitseil is g'rissen, Hochwürden. Nur Geduld, wir werden's glei haben . . .«
Aber nachdem er eine Viertelstunde an dem Riemenwerk herumgebastelt, erklärte er verdrießlich, er könne ohne Werkzeug mit der Sache nicht zurecht kommen.
»Drüben in Friedersbach, eine Viertelstunde 238 von hier, ist ein Sattler,« sagte der Pfarrer. »So lang werden wir uns schon noch helfen mir dem zerrissenen Strang. Vorwärts!«
Er stieg aus und stampfte durch den Schnee neben dem Knecht her, der das Pferd an dem notdürftig verknoteten Leitseil führte.
Wenigstens brachte ihn das kleine Mißgeschick auf andere Gedanken.
Von Friedersbach mußte man dann auf einem anderen Wege nach Kasdorf fahren, mit einem Umweg durch den Klosterwald.
Ob die Mariann mehr brummen oder mehr jammern wird?
In der Werkstatt des Sattlermeisters tanzten vier Kinder um den Christbaum herum; es roch nach Leder, Weihnachtskuchen, Tannenduft und unreiner Kinderwäsche, das Kleinste lag in der Wiege und guckte mit runden, staunenden Glotzaugen die Lichter an. Die Sattlerin kam herein, plump und schwer auftretend; sie trug das sechste Kind unter dem Herzen. Der Pfarrer faßte eine schweißfeuchte Hand, streichelte ein paar 239 struppige Kinderköpfe, bekam schlechte Hausbäckerei vorgesetzt und sehnte sich unbeschreiblich in die reine, kühle Winterluft hinaus.
Dann kam der Meister, ein noch junger Mensch von scheuem, linkischem Wesen, besah den Schaden und begann sofort zu arbeiten.
Der Pfarrer saß beim Ofen, in dem die Holzscheite krachten, und sprach mit der Frau. Und mitten in dem Frage- und Antwortspiel des banalen Gespräches fiel ihm der Gedanke auf die Seele: Wenn jetzt der Krieg kommt, muß auch dieser Mann fort – fort von Weib und Kindern, und das letzte, das jüngste wird er vielleicht nie mehr sehen . . .
Endlich war das Leitseil in Ordnung. Der Sattler begleitete den Pfarrer hinaus und wünschte fröhliche Feiertage. In ein paar Stunden kam er ja mit der Frau und den größeren Kindern zur Christmette; man muß seinem Herrgott auch einmal ein Opfer bringen. Ob der Herr Pfarrer selbst die Mette lesen werde? 240
Nein, war die Antwort, dieses Jahr war die Reihe an Pater Balduin. Also frohe Weihnacht allerseits – gelobt sei Jesus Christus!
Das Pferd schnaubte, der Johann schrie hü und hott, die Lichte des Dorfes versanken zwischen den Schneedünen. Vorwärts, vorwärts!
Der Pfarrer zog die Uhr. Eine tüchtige Verspätung! Die Mariann wird brummen, wie eben nur eine gereizte Hausfrau brummen kann.
Sie fuhren durch den Wald.
Weißen Riesenkorallen gleich leuchteten Bäume und Sträucher durch das Dunkel. Rauhreif. Der ganze Wald schien verzaubert, erfüllt von grotesken Gestalten; wo das Licht der Laterne hinsprühte, glitzerten Millionen Diamanten.
Das Pferd ging jetzt ganz langsam. Noch eine Anhöhe war zu überwinden; mitten im Wald lag die Wasserscheide zweier Bäche, die dem Kamp zuflossen. Da ragte auf dem höchsten Punkt ein großes hölzernes Kruzifix. Hier war vor Jahren einmal ein Bauer, der vom Viehmarkt heimkam, von einem Strolch erschlagen worden. 241
Es war eine unheimliche Stelle, besonders zur Nachtzeit, und wer vorüberging, bekreuzte sich und eilte rasch weiter. So betete denn auch der Johann ein kleines Stoßgebet, an das ein Ablaß von hundert Tagen geknüpft war, und trieb das Pferd zu schnellerem Gang. Aber mitten im Gemurmel hielt er inne; sein stumpfsinniges Gesicht erstarrte in Staunen und Schreck.
Was dort am Fuß des Kreuzes stand, den Kopf gesenkt, eine Laterne auf die Brust gebunden, die einen schmalen Lichtkegel auf die dickbeschneiten Bäume warf, das war – – heiliger Gott, ja – das war der Wachtmeister Pummer! Der Pfarrer bog sich aus dem Schlitten.
»Herr Wachtmeister! Herr Wachtmeister!«
Es schallte laut durch die Finsternis. Der schwarze Körper rührte sich nicht.
Den Pfarrer begann es zu grausen. Die hölzernen Glieder des Gekreuzigten erhielten durch die Reflexe des flackernden Lichtes ein seltsames und unheimliches Leben. Wie eine mystische 242 Vision, wie ein Totentanz aus dem Mittelalter war es, der regungslose schwarze Körper, die weitgestreckten Arme des Kreuzes und dahinter die weiße Stille des winterlichen Zauberwaldes.
War er tot?'
Der Pfarrer sprang in den Schnee: »Hilf mir die Stricke zerschneiden, Johann. Schnell. Vielleicht retten wir ihn noch.«
Sie arbeiteten mit ihren Taschenmessern. Plump und schwer fiel ihnen der mächtige Körper in die Arme.
»Wir laden ihn auf den Schlitten. Vorwärts, fass' an!«
Der Pfarrer tastete sich mit der Hand unter der hartgefrorenen Uniform nach der Herzgegend des Verunglückten.
»Er lebt,« sagte er tief aufatmend. »Aber es war die höchste Zeit. Schnell, mach', daß wir heimkommen. Das ist eine Weihnachtsbescherung – Heiland im Himmel!«
Sie wickelten ihn in warme Decken. Er tat einen tiefen Atemzug, der wie ein Stöhnen klang. 243
»Johann, du wirst schweigen wie das Grab, verstanden?«
Der Knecht nickte. Rasch flog der Schlitten den Hang hinab.
Im Kopf des Pfarrers arbeiteten die Gedanken. Rache war's, brutale Rache, die den Unglücklichen da an den Baum gebunden, damit die Leute ihn finden sollten, in einer kläglichen und lächerlichen Situation, wenn sie aus den Dörfern der Umgebung nach Kasdorf zur Mitternachtsmette gingen.
Und er konnte sich nicht wehren. Wenn er eine Anzeige machte, war er ja erst recht mit Schmach gebranntmarkt und bei der Bevölkerung unmöglich.
So einfach in seiner Roheit war, was da geschehen . . . Aber was dahinter und darunter lag, in jenen Gründen und Abgründen der Menschenseele, aus denen zuletzt alles Geschehen floß: was war das?
Er dachte an die schweren, eisenklirrenden Worte des Johannis-Evangeliums, an das 244 Sorgengesicht des Abtes und das Gespräch der Brüder. Und schaudernd erkannte er: das war's ja, das Schreckliche, vor dem jetzt der Herzschlag der Welt stillstand: Krieg!
Ob ihn ein Mensch gegen den andern führte in Haß und Durst nach Rache, oder ob ganze Völker aneinanderschlugen, war es nicht im Grunde dasselbe?
Und er nannte sich den Seelenhirten, er trug das dreimal heilige Zeichen dessen, der einst gesagt: Liebet eure Feinde. Und konnte nicht helfen, dem einzelnen nicht und den vielen auch nicht. Er seufzte.
Der Wachtmeister begann zu zittern. Die schwere Erkältung zeigte ihre ersten Wirkungen. Klappernd schlugen seine Zähne aneinander, von oben bis unten lief ein Frösteln durch seinen Körper. So zittert ein Baum, den die Axt an der Wurzel durchgeschlagen hat, bevor er die Krone neigt und niederstürzt.
Die Umrisse der Ortschaft hoben sich dunkel vom Himmel ab. Hie und da ein rötliches Licht 245 aus den Fenstern. Wenn man nur ungesehen zum Pfarrhof kam!
Gottlob, es war finster genug. Und heute, am Heiligabend, ging wohl niemand unnötigerweise auf die Straße hinaus.
Im Pfarrhof hatte man den hochwürdigen Herrn die längste Zeit vergebens erwartet. Endlich, als der Kaplan, verdrießlich vor Hunger, im Säulensaal auf und nieder schritt wie ein gefangener Löwe vor der Fütterung, bedachte die Mariann, daß die Weberkinder nach der Bescherung noch einen weiten Weg nach Hause machen mußten.
Pater Balduin zündete also die Christbaumkerzen an und steckte mit dem letzten Zündholz seine Pfeife in Brand, weil das Rauchen den Heißhunger beschwichtigte.
Dann kamen die Kinder aus der Küche, wo sie sich den Magen mit Fischsuppe und Semmelknödeln gefüllt hatten, und standen mit ihren blassen, schmalen Gesichtern um den Baum herum, scheu und verlegen aneinandergedrückt, 246 während die Mariann in ihr Zimmer lief, um die Geschenke zu holen. Den Tabakbeutel und die Hausschuhe, die Strümpfe, Schals und Wollsachen für die Kinder trug sie frei und offen. Die gestickte Tasche aber mit Glaube, Liebe, Hoffnung und Virginierzigarren steckte sie unter den Latz ihrer blütenweißen Hausschürze. Sorgenden Blickes sah sie nach der Uhr. Warum war Herr Pummer nicht schon längst gekommen? Er hatte doch so bestimmt versprochen, bei der Bescherung dabei zu sein!
Der Kaplan hielt inzwischen an die Kinder eine Ansprache, der Würde des Festes entsprechend – sie war kurz und exakt wie seine Messen, die immer kaum halb so lange dauerten wie die des Herrn Pfarrers. Und dann war Bescherung, die Mariann bekam feuchte Wangen und der Kaplan feuchte Handküsse, und endlich stellten sich die Kleinen in Reih und Glied, wie es ihnen der Herr Gärtner in der Schule eingepaukt hatte, und sangen mit dünnen, zitternden Stimmen: »Stille Nacht, heilige Nacht!« 247
Aber mitten in die langgezogenen Töne des uralten Friedensliedes klang von draußen Schellenlaut, hastig und schrill und gar nicht so wie sonst, wenn der Pfarrer heimkam; der Tipferl bellte laut, und als die Mariann zum Fenster lief und zwischen den Stengeln der Eisblumen in den Hof guckte, da wurde sie plötzlich blaß und fuhr mit beiden Händen an die Brust und stieß ein leises: »Jesus Maria!« aus. Und schlüpfte aus der Tür und kam just noch zurecht, um zu sehen, wie der Pfarrer und der Johann ein schweres, plumpes Mannsbild die knarrenden Holzstufen des ersten Stockwerks hinaufschleppten, an dem lebensgroßen holzgeschnitzten Heiland vorüber, der mit traurigen Augen auf den armen Märtyrer niedersah.
Und als sie sich etwas gefaßt und Atem geschöpft hatte, stieg sie hastig die Treppe hinauf, den dreien nach, und die Knie wankten ihr bei jedem Tritt . . .
Dann kam der Johann mit einer Blechschüssel herunter. Der Pfarrer hatte ihm befohlen, 248 Schnee zu holen und die erfrorenen Glieder des Wachtmeisters tüchtig abzureiben. Und während von drinnen das Weihnachtslied klang und den Kindern das rote Blut der Freude in die durchsichtigen Wangen stieg, gab's im dunklen Hausflur einen dumpfen Krach; achtlos zertrat der schwere Bauernstiefel des Knechts die schöne Zigarrentasche, die verloren auf den Steinfliesen lag, das mühsame Werk des alten Mädels mit den bunten Sinnbildern von Glaube, Liebe und Hoffnung. 249