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Es gilt in den Kreisen der bäuerlichen Wetterpropheten als ausgemacht, daß auf einen kalten, schneereichen Winter ein gutes Erntejahr folgt. Aber weder der alte Lux noch sonst irgendeiner konnte sich erinnern, daß die Saaten je so gut gestanden hätten wie in jenem denkwürdigen Frühling und Sommer, von dem Jetzt zu berichten sein wird.
Die blühenden Flachsfelder glichen blauen Seen, die fröhliche Wellen schlugen, wenn der Wind darüber strich; das Korn schoß in mannshohe Halme, die Wiesen dufteten stärker als je; es war als wollte der herbe Boden, der bisher geizig und karg gewesen war, nun auf einmal seine lang gesparten Schätze verschwenden wie ein Geizhals, der vor seinem Tod plötzlich 279 erkennt, wie verfehlt sein Leben war, und nun mit vollen Händen Geld unter die Leute wirft.
Und dennoch konnte man sich nicht recht des ungewohnten Segens freuen. Auf allen Gemütern lastete bange, drückende Schwüle. Aus den großen Weltstädten, wo Überfluß und Luxus auf breiten, glänzenden Straßen spazieren gingen, hatte sie sich verbreitet bis in die einsamen Dörfer im Hochwald, in der Heide, am Meeresufer und in die Region des ewigen Eises, wo am Rand der Gletscher die Menschen in kleinen Sennhütten wohnten wie einst zur Urzeit. Unerhört seit Menschengedenken war der wirtschaftliche Druck. Steigende Teuerung, Arbeitslosigkeit und rohe Willkür der Geldgewaltigen drückten ungeheure Massen der Bevölkerung in wirtschaftliche Sklaverei hinab. Auf den Märkten verkroch sich das bare Geld, die Waren gingen durch hundert wucherische Hände, bevor sie den Käufer erreichten, für den sie bestimmt waren, bis der Preis der Ware unerschwinglich war. »So geht es nicht weiter,« war die allgemeine Redensart. 280 Alle die vielen Kulturfortschritte, Entdeckungen und Erfindungen rastlos grübelnder Menschenhirne hatten keine Zufriedenheit, kein Glück gebracht und im Grunde nur die Summe des Elends vergrößert.
In irgendeinem Winkel von Europa hatte jemand das Wort »Weltkrieg« ausgesprochen. Und das Wort nahm Gestalt an, wurde gedreht und gewendet und gedeutelt, in allen Zeitungen breitgetreten, von Gelehrten und Hohlköpfen, von Akademien und Biertischen so lange herumgeworfen, bis es zur Lawine ward wie der kleine Schneeball, der auf einer schiefen Ebene hinabrollt. Jeder gab etwas dazu, Wahres und Falsches; aus dem Arsenal der Weltgeschichte, aus der Hexenküche der eigenen Phantasie, aus der Traumwelt der Kunst. Und mit einemmal war das Wort, das seit vielen Jahren als leerer Begriff gegolten, eine furchtbare, blutigrot leuchtende Möglichkeit. Um diese Möglichkeit rankten sich die sehnsüchtigen Wünsche all der vielen Hunderttausende, die Leben, Talent, Tatkraft 281 dem harten Dienste der Armee widmeten. Rekrutendrillen, Gamaschendienst, Manöverspielerei, Schreibstubenweisheit höherer Behörden: sollte das ganze Spiel nun endlich, endlich Sinn und Zweck bekommen? Einen gräßlichen, blutigen, zerstörenden, aber einen wirklichen Sinn, damit man einmal doch spüren konnte, daß man ein Mann war und keine Dienstmaschine! Und die Millionen armer Teufel mit vollen Muskeln und leerem Geldbeutel, die eine verlotterte Gesellschaftsordnung um das heilige Recht auf Arbeit betrog, die gierigen Wucherer und Spekulanten, die gut bezahlte Kriegslieferungen witterten, die Intelligenzmenschen, auf denen würgend und drosselnd der Geldsack der Kapitalisten lag: hatten sie nicht alle zu gewinnen, wenn das geschah, was man zugleich fürchtete und ersehnte? Und die Schwächlinge, die Lebensmüden, von allen Genüssen des Luxus Übersättigten empfanden das lustgemischte Grauen der üppigen, entarteten Römer, die sich einst von den nackten Schwertern und Armen 282 anstürmender Barbarenhorden mit perverser Wollust erschlagen und erwürgen ließen.
Und wer die letzten Jahre politisch denkend miterlebt hatte, die Balkankriege, die beständigen Rüstungen an der russischen Grenze, die Wühlarbeit der Slawen in ganz Europa, das Kriegstreiben in dem überhitzten Kessel Belgrad: der konnte nicht im Zweifel sein, wo der zündende Funke auffliegen mußte.
Die Möglichkeit war da, lebte in der Phantasie von Millionen, hob immer drohender das blutige Haupt: warum sollte sie nicht eines Tages zur Wirklichkeit werden? Hatten nicht seit uralten Zeiten tiefe Denker die Weisheit verkündet, daß alles Wirkliche zuerst im Menschenhirn lebt, bevor es in die Erscheinung tritt, daß es die Geister sind, die sich diese ganze Körperwelt bauen?
Auch in den stillen Frieden der Waldheimat warfen die kommenden Ereignisse ihren Schatten. Geheime Reservat-Erlässe kamen von den Behörden und wurden im Flüsterton besprochen. Im Stift hatte die Militärverwaltung anfragen 283 lassen, wieviel an Fleisch und Milch die Ökonomie im Falle der Mobilmachung liefern könne. Die Webereien des unteren Waldviertels bekamen Aufträge, grobes Leinen und Militärtuch in großen Massen zu erzeugen. Als der Förster für die Waldkulturen ein paar Zentner Stacheldraht bestellte, wurde ihm bedeutet, daß dieser Artikel vom Staate mit Beschlag belegt sei. Und aus allen Teilen des weiten Habsburgerreiches kamen ähnliche Nachrichten. Millionen sahen auf von ihrer Arbeit, erstaunt, befremdet, erschreckt wie einer, der auf festem Erdboden sein Haus begründet zu haben meint und nun merkt, daß er auf einem Vulkan gebaut hat.
Und dazwischen ging immer noch der Alltag seinen ruhigen Gang, im ewigen Wechsel von Saat und Ernte, von Blühen, Werden und Vergehen.
Der Lux Ferdl machte nun wirklich Ernst mit dem Heiraten.
Er brauchte keinen Fürsprecher und keine Brautwerberin dazu; nein, er ging aufs Ganze, 284 redete mit dem Moser so, als ob der im Grunde von ihm was gewollt hätte statt umgekehrt; und dann nahm er die Mirzl fest bei der Hand und führte sie hinauf auf den Luxhof zu seinem Vater.
Potztausend, was der Alte für Augen machte!
Zweimal wischte er sich die Hand am blauen Fürtuch ab, bevor er sie ihr hinreichte. Und die Hanni mußte Kaffee kochen – sie tat es nicht gern und witterte in dem raschen Mädel die künftige, scharfe Hausfrau, die ihr das Regiment aus den Händen winden würde, das sie bisher über Küche und Geflügelhof geführt.
Der Ferdl zeigte ihr das ganze Haus von oben bis unten: den Kuhstall, wo die schönen Tiere mit den Ketten rasselten und neugierig den Kopf nach den beiden drehten, die Pferde, den Wagenschuppen, den Heuboden und die Getreidescheuern, den Hühnerhof, den großen Obst- und Gemüsegarten und zum Schluß noch die Taubenzucht auf dem Dachboden. Und sie ging von einem zum andern mit steigender Lust, sie kraute die Kühe zwischen den dichten, krausen 285 Stirnhaaren, freute sich über das junge Füllen, das wie poliertes Kupfer glänzte, und sah vom Dachboden aus weithin über Wiesen und Felder bis zum Wald. Und der Ferdl ward nicht müde mit Zeigen und Erklären.
Ja, da saß eine wohl warm und sicher, konnte aus dem Vollen wirtschaften und immer neues Leben um sich haben, und einen kräftigen, sauberen Mann bekam man obendrein dazu . . .
Es war schwül und heiß da droben unter den Dachschindeln; die weißen, grauen und braunen Tauben flogen aufgeregt um ihren Kopf. Da stand sie nun inmitten des flatternden, gurrenden, flügelschlagenden Lebens wie eine junge Bauerngöttin, selber voll Kraft und rosiger Frische, und dem braunen Burschen, der seinen Arm um sie legte und den warmen Leib an sich preßte voll begehrlicher Lebenslust, war zumut, als halte er das leibhaftige Glück in den Armen.
»Aber sag, Ferdl, wird's dem Vater nicht antun, wenn wir zwei da wirtschaften, wo er doch immer alles allein angeschafft hat?« 286
Der Ferdl beruhigte sie. Der Vater war keiner von denen, die sich mit ihren Kindern nicht vertragen. Längst hatte er gesagt, daß eine junge Frau auf den Luxhof gehöre, und alles vorgesehen für den Fall. Und überdies besaß er noch einen kleinen Hof mit Garten drüben am Kampfluß, der jetzt verpachtet war – das war die »Ausnahm« der Luxbauern seit Generationen. Wenn sie das große Gut übergaben, zogen sie sich in die freundliche grüne Stille des kleinen Anwesens zurück und bauten dort ihr Obst und Gemüse statt Korn, Hafer und Kartoffeln. In dem weißen, mit rotbraunen Ziegeln gedeckten Haus, das wie ein Herrschaftsschlößchen aussah, waren alle alten Luxbauern und Bäuerinnen gestorben – vorher aber hatten sie dort noch recht gemütlich gelebt, sich selber zur Zufriedenheit und den Kindern nicht zur Last; war gar oft der junge Besitzer des Hofes in den ersten Jahren nach der Übergabe zum Ähnl oder zur Großmuatta in das weiße Haus hinaufgegangen und hatte um allerlei guten Rat wegen der 287 Wirtschaft gefragt. Es galt als Familientradition, daß die Patriarchen der Lux-Dynastie nicht vor dem achtzigsten Lebensjahr starben; und der Vater des braunen Ferdl hatte noch ein gutes Dutzend Jahre bis dahin und wollte ein paar stramme Enkelkinder sehen, bevor er den Hof aus den Händen ließ. Da sollten also die jungen Leute brav dazuschauen.
Alles das wurde in der schönen guten Stube neben der Bürgermeisterkanzlei besprochen, belacht und beraten, während der Kaffee in den goldgeränderten Riesentassen dampfte, der Kuchen duftete, die Schwarzwälderin ihr Kuckuck dazwischen rief und draußen der Hahn auf dem Misthaufen krähte, als verkünde er seinem ganzen gackernden Harem die große Neuigkeit.
Und weil die Hauptpersonen alle einig waren, so gab es bald eine Hochzeit, wo vierzig Gäste bei Tische saßen, der Moser den Wein in Strömen fließen ließ und der Pater Balduin in Vertretung des Herrn Pfarrers, der sich von solchen Spektakelsachen gern zurückzog, an die Jungfer Braut 288 eine feierliche Ansprache hielt. Dafür bekam er von ihr auch in allen Ehren den Kuß, der nach altem Waldviertler Brauch jedem Hochzeitsgast gebührt. Und dann zog er heimwärts in den Pfarrhof samt der Mariann, die an der Tafel einsilbig dagesessen, über Kopfweh geklagt und bei dem Kuß ein essigsaures Gesicht gemacht hatte. Denn die schwere Kränkung, die ihr die Mirzl angetan, war nicht so bald zu vergessen.
Die Gäste aber lärmten und zechten weiter, der Ferdl nötigte zum Essen und Trinken, füllte den Weibsleuten selbst die »Bscheidteller« neben ihrem Gedeck mit Backwerk, damit ihre Leute daheim auch was kriegen sollten. Dann versteckten sie ihm die Braut, er lief im ganzen Haus herum, sie zu suchen und fand sie endlich in ihrem Mädchenzimmer, bewacht vom langen Stiegler und vom dicken Griensteidl, die vor der Tür Habtacht standen. Irgendein Spaßvogel in der Hochzeitsgesellschaft hatte sie aus der Gaststube heraufgeschleppt, wo sie in stiller, dienstfreier Beschaulichkeit ihr Viertel Wein tranken 289 und dem Trubel zusahen. Die Ehrenwache kostete den Bräutigam natürlich ein paar Glas Wein. Dann mußte die Braut auf die lange Hochzeitstafel steigen und zwischen all den Gläsern, Schüsseln und Tellern auf den künftigen Schwiegervater zugehen, ohne etwas umzustoßen, denn das hätte einen Schatten auf den Jungfernkranz geworfen, der so fest und sicher in ihren dicken braunen Flechten saß. Schmunzelnd sah der alte Lux das kernige, stramme Mädel mit hochgerafftem Kleid auf sich zukommen, bewunderte im stillen ihre elastischen Fußknöchel und dachte an allerlei aus seiner Lenz- und Liebeszeit – da stieß jemand heimlich ein Weinglas um, daß es eine rote Lache auf dem weißen Tischtuch gab. Natürlich schob man das unter allgemeinem Hallo auf die Jungfer Braut. Da flossen die starken Witze und der starke Wein um die Wette, bis der Braut um Mitternacht das »Kranzl abgetanzt« wurde und die Musikanten beim Morgengrauen eine Gruppe von Gästen nach der andern »heimblasen« mußten. 290
Ein paar Wochen später zog in das verlassene Moserhaus eine neue Herrin ein. Kein schmuckes Dirndl, sondern ein gar handfestes Weib, wie es zum Moser paßte; wirtschaftlich und flink, stark egoistisch und immer im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß sie keineswegs mit leeren Händen gekommen; aber eine gute Hausfrau war die Müllnerin, das mußte man ihr lassen. Und es gab viele, die es dem Moser vergönnten, daß er nun ein wenig unter den Pantoffel kam.
Sie hatten sich in aller Stille im Städtchen drunten trauen lassen. Die Braut trug allerdings keinen Myrtenkranz, sondern ein schwarzseidenes Kopftuch, durfte auch beim Hochzeitsmahl nicht über den Tisch steigen, sondern ging schön längs der Bank hin, aber nichtsdestoweniger freute sich der Moser, daß nun aus seiner alten Liebe eine liebe Alte geworden war; so nannte er sie wenigstens so lange, bis sie sich die Anrede gehörig verbat. »A Frau in meinen Jahren is noch lang nöt alt, das merk dir!« sagte sie. Der Moser staunte anfangs ein wenig 291 über den neuen Ton. Es kam ihm vor, als sei er auf dem Wege, das Hausregiment zu verlieren. Aber die Müllnerin verstand halt das Geschäft gar so gut, war eine vorzügliche Köchin und artig zu den Gästen, die alle die neue Wirtin sehen wollten; und sie ersetzte bald die Mirzl in so vollendeter Weise, daß der Alte sich ganz auf den Weinhandel warf. Das war sein Lieblingsfach und trug manches schöne Stück Geld ein.
So lebten und wirtschafteten sie weiter in dem stillen Nest, unbekümmert um das, was da draußen vorging in jenen Höhen und Tiefen, wo die Lose der Menschheit fallen.
Mit einem gewissen kühlen Bedauern hatte man das traurige Schicksal des Wachtmeisters zur Kenntnis genommen. Als der leblose Körper auf den Schlitten gehoben und fortgeführt war, betete mancher im Ort ein stilles Vaterunser für die arme Seele. Aber bald hörte man, daß er im Spital zu Zwettl wieder zur Not zusammengeflickt und für sechs Monate beurlaubt worden war. Später würde man ihn 292 wohl von Kasdorf weg versetzen – so erzählte der Förster, der ihn im Spital besuchte.
Der lange, schmale Saal mit den dreißig Betten war ganz erfüllt von weißem Licht. Decke, Wände, Überzüge, Möbel: alles weiß. Nur die viereckigen Täfelchen am Kopfende starrten schwarz und drohend wie die Schilder an Friedhofskreuzen; da standen die Namen der Kranken und die lateinischen Titel ihres Leidens. Es gab keine interessanten Fälle, die Zahl der Patienten war klein – die Leute erledigten das Kranksein und Sterben meist ohne Arzt und Spital. Der große Christus an der Stirnwand breitete seine von Nägeln zerfleischten Arme aus als stumme Mahnung, daß wir alle zum Weh geboren und die Welt ein großes, großes Krankenhaus ist.
Da lag er auf seinem Schmerzenslager, und die Tafel am Bett sprach von einer zehn Zentimeter langen Stirnwunde, von zwei gebrochenen Rippen, inneren Verletzungen und einer Gehirnhautentzündung. 293
Tagelang war er bewußtlos gewesen. Das Fieber stieg hoch über vierzig Grad. Die Ärzte sahen sich an und machten lateinische Worte, die Pflegeschwester riet zur letzten Ölung. Endlich regte sich wieder schüchtern das Leben. Die beiden Ärzte, die in ihrer ganzen Praxis noch keinen solchen Fall erlebt hatten, bemühten sich um die Wette. Alle Kranken sprachen von nichts als vom Fall Pummer. Aber langsam, langsam ging's. Viele Wochen verstrichen. Es schien, als setze der Kranke den Kräften, die an der Genesung wirkten und schafften, einen heimlichen Widerstand entgegen. Aber die Gewalten der Natur waren stärker. Und endlich wich das Fieber, tiefe Ermattung kam als erster Bote einer Wendung zum Besseren, und die Ärzte erklärten, der Patient dürfe nun Besuche empfangen, aber er müsse sich noch sehr schonen, sehr wenig sprechen . . .
Viel Besuche bekam er allerdings nicht. Der Stiegler und der Griensteidl erkundigten sich pflichtgemäß nach dem Befinden ihres Vorgesetzten, redeten ein wenig herum und schielten 294 dabei nach der Uhr. Der Förster kam mit einem Sack voll Neuigkeiten: der obere Wirt war knapp am Abwirtschaften, der alte Moser, der Fallot, wolle richtig die Viehhändlerswitwe heiraten, und die Mirzl – hm ja – das Aufgebot sei schon bestellt. Und was denn wär' mit dem Urlaubsgesuch – er wolle ihm gern dabei helfen, weil es mit dem Schreiben wohl noch nicht recht ginge beim Pummer. Der Förster saß am Bettrand, machte sich seine Notizen, und in gemeinsamer Arbeit kam das schwierige Werk zustande. Der Förster wollte es morgen ins reine schreiben und jemanden damit heraufschicken, damit der Wachtmeister nur seine Unterschrift darunterzusetzen brauchte. Sechs Monate Urlaub wären wohl nicht zu viel.
»Und jetzt sag mal, Pummer,« – der Förster dämpfte seine rauhe Stimme zum Flüsterton, damit die anderen Kranken nichts hören sollten – »was war denn das damals beim Holzschlag im Wald, he? Hat dich denn unser Herrgott schon ganz verlassen?« 295
Aber der Pummer schüttelte den Kopf und gab keine Antwort. Und die Pflegeschwester mit der schwarzen Flügelhaube glitt heran: Die Besuchszeit sei schon lang vorüber und der Herr Wachtmeister recht erschöpft vom Sprechen . . .
Er konnte nicht schlafen in jener Nacht. So gebrochen fühlte er sich. Wille und Gedanken waren schlaff und müde. Wenn die Schwester mit den Kranken zu Abend gebetet hatte und nun die große Stille kam, kaum unterbrochen durch tieferes Atmen oder einen unterdrückten Seufzer aus dieser oder jener Ecke, und das rote Lämpchen unter dem Gekreuzigten wie ein mystischer Blutstropfen durch die Dunkelheit leuchtete, dann war ihm wohl. Aber die Nacht verging, der Morgen graute herein, seine müden Blicke stießen sich an den Wänden wund, und die Gedanken fanden keinen Ausweg aus dem Labyrinth seines Lebens.
Als draußen die ersten Schneeglöckchen blühten, kam die Mariann. Ein Sträußchen der lieben Frühlingsboten legte sie ihm auf die 296 Bettdecke. Sie hatte sich überwinden müssen, um hierherzukommen; niemals in ihrem Leben war sie in einem Spital gewesen, der sonderbare Geruch, der Anblick der daliegenden Männer mit ihren weißen Hemden und blaugestreiften Bettdecken erregte Grauen und Mitleid zugleich in ihr.
Was mußte er gelitten haben. Das Herz wollte ihr zerspringen vor Weh, als sie ihn daliegen sah, abgemagert, mit eingefallenen Wangen, tiefliegenden Augen, über denen die schwarzen Brauen noch einmal so dicht und buschig erschienen als sonst. Sie griff nach seiner knochigen Hand, die einst so dunkelbraun gewesen war und nun weiß und bleich auf der Decke lag, und drückte sie lange und fest.
Und mit einemmal begriff er, was in ihr vorging, fühlte die warme Welle von liebendem Mitleid, die ihm entgegenschwoll; die kalte Rinde, von rauher Gewohnheit und Soldatendienst um sein Herz gelegt, zerbrach, und der Wachtmeister Pummer, der starr und tränenlos am Sarg seiner Mutter gestanden, empfand nach vielen 297 Jahren wieder einmal, wie es heiß in seine Augen stieg.
Und nun war seine spröde Zunge gelöst, und er gab Vertrauen für Vertrauen. Was er der Mutter erzählt hätte, wenn er sie noch am Leben gefunden, das beichtete er jetzt der Mariann, die da vor ihm saß, ein lang verblühtes Mädel, eine lächerliche Figur mit ihrem blumengeputzten Hut und den ausgeschnittenen Schuhen, und doch der einzige Mensch, der es treu und gut mit ihm meinte. Von der Sehnsucht seiner Knabenjahre erzählte er, von den zwei Jahren Lateinschule, die für sein Leben verloren waren und nur den heißen Drang nach Höherem in ihm geweckt hatten, der niemals mehr zur Ruhe kam. Und wie ihm dann die unseligen grünen Hefte in die Hände gefallen waren und sein Ehrgeiz aufs neue wild emporflammte. Wie er damals an jenem Weihnachtsabend durch den finsteren Wald gegangen war und immer leise Schritte hinter sich vernahm, die ihn verfolgten wie ein Gespenst. Und plötzlich, er wußte nicht wie, packten ihn ein 298 paar eiserne Arme, jemand stieß ihn mit schwerem Schuh in die Kniekehlen, daß er zusammenbrach, ein dritter Kerl mit geschwärztem Gesicht steckte ihm ein Tuch in den Mund – und so banden sie ihn an den Baum und ließen ihn allein mit seiner Schande und seinem ohnmächtigen Zorn.
Das Bett stand ganz nah am Fenster. Niemand von den andern konnte sie hören; da und dort saßen Bekannte und Verwandte derer, die hier lagen, sie waren vollauf mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Draußen blaute der erste Frühlingstag. Noch hatte die Sonne den Schnee nicht weggefressen, und wenn sie einen Wolkenfächer vor ihr Rundgesicht hielt, war es eisig kalt. Aber der Wind sang schon getrost und stark sein Lied vom Blühen und Werden.
»Ja, so ist die Sach, meine liebe Mariann. Die lateinische Schrift da am Taferl – o, ich weiß noch genau von der Schul her, wie's auf deutsch heißt – die sagt nöt, was mir fehlt. Aber die Schand – die Schand wird auf mir brennen mein Leben lang. Und es wär besser 299 g'wesen, sie hätten mich liegenlassen und verbluten im Wald. Hätt mir ja am liebsten selber a Kugel in den Kopf g'jagt. Beim Militär lernt ma ja, wohin eins treffen muß, damit's g'schwinder geht. Aber weißt: dann hätt mir der Pfarrer vielleicht den Platz am Friedhof verweigert. Und das hab ich doch nöt wollen – das nöt.«
Schaudernd bedeckte die arme Mariann die Augen mit der Hand.
Sie faßte die Sache nicht ganz. War denn die Ehre, von der die Männer immer sprachen, so ein fürchterliches Götzenbild, wie es die alten Heiden gehabt hatten, dem man alles opfern mußte, Gesundheit und gar noch das Leben?
Und verschämt lispelte sie mit ihren Lippen, die aussahen wie ein verwelktes Rosenblatt: Ob denn der Herr Pummer niemals daran gedacht hätt', daß es vielleicht irgendwo jemanden gäbe, der nichts, gar nichts wissen wollt' von Ehr oder Schand, und ihm gut sein könnt' – recht gut . . .
Da schwieg der Pummer still und sah nach den ziehenden Wolken am blauen Himmel, lange, 300 lange Zeit, als wollte er da droben lesen in dem ewigen Gesetzbuch des Himmels, in dem geschrieben steht, daß auf jeden harten Winter ein linder Frühling kommen muß. Und als sein Blick wieder nach dem Gesicht der Mariandel' zurückkehrte, sagte er ganz leise:
»Jetzt darf ich noch nöt denken an so was. So wund und weh is alles in mir . . .«
Dann nahmen sie Abschied. Ein halber Trost und eine heimliche Hoffnung war's ja doch für die Mariann.
Mit dem Wachtmeister ging es besser und besser. Als die Märzveilchen ihre blauen Augen aufschlugen, was da droben im Waldviertel immer erst Ende April geschieht, wurde er als geheilt unter Segenswünschen entlassen und ihm nur noch eine Nachkur bei guter Kost und mäßiger Bewegung im Freien ans Herz gelegt. Und die Ärzte gratulierten sich gegenseitig zu dem, was sie hier geleistet hatten – der Mann vollkommen gesund, Rückfall ausgeschlossen, und es war doch ein verzweifelter Fall: zehn Zentimeter lange 301 Stirnwunde, Bruch zweier Rippen, schwere innere Verletzungen und eine Gehirnhautentzündung!
Und so mietete sich denn der Wachtmeister bei einer Lehrerswitwe ein, die ein hübsches möbliertes Zimmer zu vergeben hatte, mit der Aussicht auf die Stadtmauern und die große Kastanienallee; gegenüber an der Straße lag der Gasthof Neunteufel, man konnte gerade in den großen Tanzsaal hineinsehen, der jetzt öde dalag, mit fleckigen Wandspiegeln und Spinnweb in den Winkeln, seit der Fasching vorbei war.
Dort saß er oft am offenen Fenster, ein stiller Gast, wie er angenehm und wohlgefällig ist vor den Augen seiner Hauswirtin – das bissel Virginiarauchen konnte man ihm schon verzeihen, sagte die Quartierfrau beim Abendklatsch auf dem Hausbankerl zur Nachbarin, der Selige hatte ja auch geraucht. Nur gar so wortkarg war er, rein gar nichts zu reden mit ihm; vielleicht trug er ein heimliches Herzeleid mit sich herum. So ein starker, hübscher Mann, und die 302 Neunteufel Reserl hatte ihm neulich so lange nachgeschaut, die männersüchtige Gretl!
Drunten auf der Steinbank klatschten die Weiber, und droben im Fenster lehnte der Pummer, sah den Mond durch die Wolken steuern und fühlte ordentlich, wie sich langsam, ganz langsam wieder ein Stück Menschentum herauspellte aus dem Krebspanzer der Dienstmontur.
Nebel stiegen vom Fluß empor und deckten das Tal, daß es aussah wie ein wogendes Meer. Und der Pummer saß da und blickte hinaus in das Grau; so schaut ein Mensch von seinem öden, verlassenen Schiff in die Weite des Ozeans, wenn ihm das Steuerruder zerbrochen ist und er sich treiben läßt in die Wasserwüste, wohin Wind und Wellen wollen.
Eines Tages entstand in dem stillen, leeren Tanzsaal beim Neunteufel eine große Bewegung. Hausbursche und Kellnerin nagelten kleine Fähnchen in den Stadt- und Landesfarben, Reisigbüschel und Papierrosen an die Wände; ein Podium mit Notenpulten wurde hergerichtet, 303 sogar ein Klavier schleppten sie mit Ach und Krach hinauf, die Haustochter schmückte eigenhändig die Gipsbüste des Kaisers mit frischen Gartenblumen. Die Stühle bekamen schwarze Nummern und die Tische weiße Tücher; sogar eine Perolinspritze trat in Tätigkeit. Das konnte keiner gewöhnlichen Tanzerei gelten.
Der Wachtmeister war nicht neugierig. Er hatte immer lieber in die Ferne gesehen, nach den duftblauen Höhenzügen, dem wogenden goldgelben Getreide, dem dunkelgrünen Wald; was in seiner Nähe vorging, interessierte ihn nicht. Aber nun zog etwas seine Blicke doch immer wieder mit seltsamer Kraft ins Innere des Saales hinein. Es dämmerte, das elektrische Licht strahlte auf, Herr Neunteufel ging in eigener Person durch den Raum und sah prüfend herum; Leute kamen, Damen und Herren, mit und ohne Familie, setzten sich auf die numerierten Stühle und bestellten Bier – und nun knarrte das Podium, und Männer mit Instrumenten stiegen die Stufen empor – eine Viola und 304 ein Cello und Geigen – wahrhaftig, es war der Männergesang- und Orchesterverein Kasdorf, und gedruckte Zettel, von Hand zu Hand gereicht, enthielten das Programm der großen »Liedertafel«.
Der Oberlehrer hatte seine braune Samtjoppe mit einem schwarzen Bratenrock vertauscht. Die weiße Halsbinde saß schief; er war sehr aufgeregt und ganz durchdrungen von seiner großen Kulturmission. Ob denn alles wohl klappen würde? Wer konnte das wissen? Der Pater Balduin griff noch immer hie und da ein bißchen falsch, und im Sextett war eine Stelle, da setzte die Koppensteiner regelmäßig zu früh ein. Und er trug doch die Verantwortung für alles!
Hastig wischte er den Schweiß von der Glatze, klopfte mit dem Fiedelbogen auf den Boden seiner Geige – einmal – zweimal. Lautlose Stille. Das Konzert begann.
Was da unten im Zuschauerraum bei Biergläsern und Weinstutzen saß, war das Publikum jener kleinen Landstädte, kein Volk mehr und 305 noch lange nicht wahrhaft gebildet – die geistige und gesellschaftliche Mittelschichte von Lehrern, kleinen Beamten, Pensionisten, die froh war, daß irgendein Ereignis die öde Langweile des Alltagslebens unterbrach; zum Schluß sollte getanzt werden, das war den Mädchen ja doch das wichtigste; der Oberlehrer hatte sich sehr gegen diesen letzten Programmpunkt gesträubt, denn das drücke das künstlerische Niveau des Ganzen hinab, meinte er; aber er mußte doch zum Schlusse nachgeben, sonst wäre der Saal kaum zur Hälfte zu füllen gewesen.
Und sie taten ihr Bestes. Aber sie vergaßen, daß der Genius, der seine segnenden Schwingen über sie gebreitet hielt, als sie im stillen Pfarrhof beisammensaßen im Namen der Kunst, sich scheu zurückzog vor jener bunten Gesellschaft von Halbgebildeten, die kritisch und im vollen Bewußtsein, ihr Eintrittsgeld bezahlt zu haben, das Programm über sich ergehen ließen und viel lieber eine lustige Operettenmusik gehört hätten. 306
Den Anfang machten ein paar Soloquartette aus dem Regensburger Liederkranz. Kräftig und voll tönten die Stimmen, der Oberlehrer sang den ersten Tenor, etwas fettig und in der Höhe gepreßt – und die Herren taten ihren Stimmen keinen Zwang an, als sie zu viert die himmlische Ruh' und freundliche Stille der Nacht priesen und sich gegenseitig fragten, wem sie das erste Glas bringen sollten. Dieser Teil des Programms fand auch den stärksten Beifall. Aber das schöne Largo von Händel weckte keinen Widerhall in den Gemütern der Zuhörer, obgleich es wirklich gut gebracht war, das Sextett aus »Lucia« klang matt, und die arme Therese Koppensteiner am Klavier griff wirklich ein paarmal daneben, weil sie vor Lampenfieber zitterte.
Und in der großen Pause setzte die Kritik ein. Die Frommen fanden es unpassend, daß die zwei Geistlichen mitwirkten, die Mädchen spöttelten über den langen dürren Hals des Herrn Gärtner, die Trinker schalten über zu langsame Bedienung; wieder andere tadelten 307 das Programm als langweilig und schlecht zusammengestellt.
Der Herd der Opposition war ein Tisch in der zweiten Reihe. Dort saß der Herr Rabenlechner, Regens chori an der Stadtpfarrkirche und Besitzer einer Musikschule, also eine Autorität ersten Ranges. Er war mit der Auffassung des Dirigenten durchaus unzufrieden und erläuterte einem kleinen Kreise aufmerksamer Zuhörer, wie falsch sie war.
Inzwischen steuerte der Oberlehrer in glücklicher Ahnungslosigkeit von einem Bekannten zum andern und fragte strahlend:
»Das sind halt Leistungen, nicht wahr? Ja, ja, unsere Leute können was!«
Und da natürlich niemand widersprach, so hielt er das Ganze für einen ungeheuren Triumph.
Der lange Gärtner war nicht so sanguinisch. Kopfschüttelnd stimmte er an seinem Instrument herum. Er hatte die letzte Nummer, die prächtige F-Dur-Sonate für Klavier und Cello von Beethoven. 308
»Zwangvolle Plage, Müh' ohne Zweck – wozu das alles?« dachte er, als er droben auf dem Podium saß und die kritisch blitzenden Brillengläser des Herrn Rabenlechner und die vielen stumpfsinnig-neugierigen Augen der hundertköpfigen Bestie Publikum auf sich gerichtet fühlte. Ihm war, als ob Schnecken über seine nackte Haut kröchen. Dieser Gesellschaft da sollte er Beethoven spielen, seinen Beethoven?
Und wenn die Theresia wieder falsch griff!
Aber als die ersten Töne klangen, schwand sein Mißmut. Hol' der Henker das ganze Publikum und die Brillengläser des Regens chori dazu – er spielte für sich, für sich ganz allein! Und wie sie dann mehr und mehr ins Feuer kamen und die Jungfer Theresia mitgerissen ward von ihrem Partner, daß ihre Finger nur so flogen und nicht daneben griffen, nicht ein einziges Mal – wie der schlanke Wuchs der Melodie emporstieg wie ein junger Baum und die Äste und Zweige der Variationen ausbreitete, immer voller und reicher, und der Baß in seine 309 Krone rauschte gleich einem Windstoß, da standen doch da unten die dummen Mäuler still, und die Ohren horchten auf die Offenbarungen des Meisters, und sogar der Regens chori nickte ein klein wenig mit dem weißen Haupt.
Aber der Herr Gärtner sah und merkte nichts. Durch die offenen Fenster kam der Nachtwind; auf einen heißen, schwülen Tag war ein kalter Abend gefolgt. Und der Wind blies gegen seinen schweißfeuchten Körper und griff mit eisigen Tatzen auf seiner eingesunkenen Brust herum. Große Tropfen starrten auf seiner Stirn, und die Augen glühten im Fieber. Er spielte seinen Beethoven!
Und der Pummer stand noch immer drüben, die erkaltete Zigarre im Mund, und sah durch das leuchtende Geviert des Fensters wie in eine abgetane Epoche seines Lebens hinein.
Er verstand ja gar nichts von Musik. Aber so viel empfand er: es mußte etwas Gutes und Schönes sein, was sie da mit so viel Liebe und Leidenschaft trieben; etwas, um das es sich lohnte 310 zu leben und vielleicht auch zu sterben – denn ob der arme Unterlehrer mit seinem blassen. knochigen Gesicht noch heut übers Jahr fiedeln würde, konnte kein Mensch voraussagen.
Drunten auf der Straße war eine sonderbare Bewegung entstanden. Hupentöne zerrissen die schwarzen Schleier der Nacht. Näher und näher kamen sie, unheimlichen Unkenrufen vergleichbar – jetzt steuerte ein Auto, mit seinen Lichtbündeln wie mit Fühlern vor sich hertastend, vorsichtig über das holprige Pflaster. Ein Auto in der kleinen Stadt – so spät abends – was hatte das zu bedeuten? Heimkehrende hemmten den Schritt; aus den Gasthäusern traten da und dort die Leute auf die Straße; Fenster öffneten sich. Wandelnde Liebespärchen streckten vorsichtig wie Schildkröten die Köpfe aus dem schützenden Dunkel der Kastanienallee. Nun stand das Auto still auf dem großen Platz, und die steinernen Wolken der Pestsäule glühten im grellen Licht der beiden Lampen – da hob sich eine dicke schwarze Gestalt vom Sitz. 311
»Der Pater Benedikt!« »Das ist das Auto vom Stift.« »Warum fahrt er denn durch die Stadt? Am Fluß drunten hat er's ja näher!«
So schwirrten die Reden hin und her wie aufgeregte Nachtschmetterlinge.
»Von Wien kommt er, hat er g'sagt?« »Ja, es soll was dort g'schehen sein.« »Er will reden. Stad sein, Leutln!« »Halt's es z'samm. Der geistliche Herr will reden!« »Pst, Pst!«
Es ward still unter der Menge, die das Fahrzeug umstand, so still, daß man weithin über den Platz die Töne des Klaviers und die wunderbar weiche Melodie des Cellos vernahm, die aus den hellen, offenen Fenstern quollen.
Und mitten hinein in die atemlose Spannung klang die Stimme des Paters, scharf und hart, als spräche er von der Kanzel herunter:
»Gestern nachmittag ist der Erzherzog Franz Ferdinand samt seiner Gemahlin in Sarajewo ermordet worden! Die Attentäter sind Serben!«
Dumpfes Gemurmel. Dann schwollen die Stimmen an. Rufe wurden laut: »Nieder mit 312 Serbien!« »Jetzt kommt der Krieg!« »Der Krieg mit Serbien!« »Hoch Österreich!« »Totschlagen die Serben!«
Alle sprachen in wilder Aufregung miteinander, durcheinander. Noch immer tönten die Klänge der Beethoven-Sonate, aber niemand achtete mehr darauf. Das Auto bahnte sich seinen Weg zur Straße am Fluß, vorsichtig, langsam, keuchend und tutend. Jetzt verschwand es im Dunkel.
Der Wachtmeister atmete schwer. Er lehnte sich aus dem Fenster, um besser zu sehen und zu hören. Aber er sah doch nichts als eine schwarze, formlose Masse von Menschen, er hörte immer nur das eine Wort, das ihn so gewaltig ergriff und sein Innerstes durchschüttelte.
Und plötzlich schwand der Ausdruck hoffnungsloser Traurigkeit aus seinem Gesicht.
Hoch aufgerichtet stand er da, ein Mensch, der sich erhoben hat aus dem morschen Sarg seines alten Ichs.
Und immer noch brausten unten die Rufe:
»Krieg! Krieg!« 313