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Zweimal in der Woche, zur Zeit der Abenddämmerung, hielt der einfache Wagen des Großherzogs Karl August, dem die Weimarer Bürger ehrfurchtsvoll nachblickten, vor dem Goethehause.
Das war die Stunde, wo die beiden wunderbaren Freunde im vertraulichen Gespräch in dem Zimmer mit den vielen Gipsbüsten saßen, dessen gewölbte Decke mit bunten Blumenranken und Maiskolben bemalt war; die Stunde, wo die Schranken zwischen dem Fürsten und seinem Minister versanken und nichts blieb als die durch ein Menschenalter erprobte Freundschaft; wo das trauliche Du von einem zum andern ging, das Goethe, der Hofmann, in Gegenwart Fremder sorgsam vermied.
Da saß er, der frohe Gefährte seiner eigenen Jugend, jener köstlichen Geniezeit, erfüllt von lustigen Jagden und Abenteuern, nächtlichen Zigeunerlagern im Wald am flammenden Holzfeuer, und Schwärmereien für schöne Schauspielerinnen des Hoftheaters.
Ach, das war längst vorbei, und die Sense der Zeit hatte viele Runzeln in das gutmütige Antlitz geschnitten.
Es war heute alles wie sonst, nur daß ein unsichtbarer Schleier von Unruhe und Erwartung über dem Zimmer lag und die Augen des Hausherrn öfter nach der Türe blickten.
Leise pickte die große Wanduhr mit den vergoldeten Schnörkeln die Sekunden auf. Sie stammte aus Goethes Vaterhaus. Jeden Samstag, zur Zeit des Aveläutens, hatte sie der alte Stadtrat Kaspar Goethe aufgezogen, feierlich und langsam, wie er alles tat. Es war fast eine priesterliche Handlung.
Die kleine rundliche Gestalt des Großherzogs lag bequem hingegossen in einem breiten Lehnstuhl. Auf dem rosigen Gesicht spielte immer ein heimliches Lächeln. Er hörte gern eine fröhlich kecke Antwort auf seine manchmal etwas derben Scherze mit Kindern und jungen Mädchen und sparte nicht mit Bonbons, die er stets in der Tasche trug.
So kannte ihn das kleine Weimar. Aber die großen Geister seiner Zeit kannten ihn als den Mann, der 154 zuerst vor allen deutschen Fürsten seinem Lande eine freisinnige Verfassung gegeben und Preßfreiheit eingeführt hatte, zum Entsetzen aller Mucker und Dunkelmänner.
Goethe saß im bequemen Hausanzug, mit dem langen blauen Überrock und weißem Halstuch.
Sie hatten von Wien, vom Beamtenkaiser Franz und von Grillparzer gesprochen und Karl August war neugierig, den Gast aus Österreich kennen zu lernen.
»Wie schade, daß unsere Dichter nicht ein wenig zusammenrücken wollen,« klagte Goethe, »die guten Köpfe sind über ganz Deutschland zerstreut. Da sitzt der eine in Wien, einer in Berlin, einer in Königsberg oder Bonn, so daß persönliche Berührungen zu den größten Seltenheiten gehören.«
Karl August nickte langsam mit dem ergrauten Kopf. Er war in den letzten Jahren etwas schwerhörig geworden und verstand nicht jedes Wort, das der alte Freund sprach. Aber die langjährige Vertraulichkeit schlug eine feine Brücke zwischen den Seelen, und nach einer Pause erwiderte er:
»Und weißt du ein Mittel gegen diese Zersplitterung?«
»Oh doch. Darum habe ich ja heute Herrn Grillparzer zu mir gebeten, Kanzler Müller brachte ihm die Einladung und wie ich höre, hat er zugesagt. Was meinst du: sollten wir ihn für das Weimarer Hoftheater als Dichter gewinnen?«
»Wenn er dazu bereit ist . . . Ich zweifle, daß ein Wiener hier Wurzel fassen kann. Einen Baum in neues Erdreich pflanzen, ist immer ein gefährliches Experiment. Hat dich nicht Napoleon durchaus nach Paris locken wollen? Einen Cäsar solltest du ihm schreiben, zur Verherrlichung seiner Herrschaft. Und du bist doch in Weimar geblieben.«
Goethe wußte nichts zu antworten.
Unhörbar war der Diener Friedrich eingetreten und hatte die Kerzen auf dem Tisch und in den Wandleuchtern angezündet.
»Es kommt ein Gewitter, Exzellenz. Soll ich die Fenster schließen?«
Goethe nickte und sah nach der Uhr. 155
»Er kommt nicht,« sagte Karl August ganz leise,
Es kam kein Gespräch mehr in Gang. Die Luft im Zimmer war schwül und drückend. Schweigen lastete in dem Raum wie eine unsichtbare Decke.
Und während der Fürst und der Dichter einer schwindenden Hoffnung nachsannen, wie man dem Vogel nachblickt, der aus seinem Käfig in den unendlichen Luftraum entflohen ist und sich freiheitsselig im Himmelsblau verliert, saß der Gast aus Wien in tiefes Sinnen verloren auf einer Bank im Park und zeichnete mit dem Spazierstock irrsinnige Figuren in den Sand zu seinen Füßen.
War es Angst, Schreck oder Freude gewesen, was ihn durchfuhr, als ihn der Kanzler zu Goethe einlud? Hatte er nun endlich Gelegenheit, ihm sein Herz auszuschütten? Was sollte er sagen, wo beginnen mit der Beichte seines Lebens?
Er erwog die Gegensätze. Verglich seine stürmische, nervöse Arbeitsweise, seine üppig ausschweifende Phantasie, seine stete Angst vor dem Verlust seiner Schöpferkraft mit dem unendlich ruhigen Gleichmaß dieser Urnatur.
Nichts, gar nichts von seinem Wissen und Können schien ihm jetzt wert, vor Goethe vorgebracht zu werden. Und klagen, sich trösten lassen von ihm, das schien ihm doch gar zu jämmerlich.
Und wenn sie ihn in der Tat hier fesseln wollten, wenn er sich losreißen müßte von allen Bindungen der Heimat, von der eigensinnig geliebten und ebenso eigensinnig gequälten Braut: immer und immer wird der große Alte vor ihm stehen, und sein Künstlerstolz bäumte sich auf gegen die Vorstellung, im Schatten eines Titanen zu leben und zu schaffen.
Wie sagte einst vor tausend Jahren Julius Cäsar: lieber wolle er auf dem Dorf der Erste als in Rom der Zweite sein.
Und dann der quälende Gedanke, daß er im Grunde doch so etwas wie ein Nachzügler war; wenn er sich auch dagegen wehrte, hier würde er immer nur als Epigone gelten und halb mit Erbarmen gelobt und anerkannt werden. 156
Und so saß er in dumpfem Brüten da und konnte sich nicht entschließen aufzustehen, bis die Dunkelheit alles in ihren Mantel hüllte.
Aber droben in dem Büstenzimmer des Goethehauses schlug die Wanduhr die Abendstunde; die schöne alte Uhr mit den goldenen Schnörkeln, mit weichen Schlägen, als sei der Hammer mit Tuch umwickelt. Diese Uhr hatte die Stunde von Goethes Geburt geschlagen. Mahnung und Trost zugleich lag in dem leise verhallenden Klang.
Goethe brach zuerst das Schweigen.
»Ich glaube, der gute Grillparzer ist das, was ich einst eine problematische Natur nannte. Ich muß bei ihm an unseren Herder denken, der sich und andern auch die schönsten Tage des Lebens vergällte, da er seinen Unmut durch Geisteskraft nicht zu mäßigen verstand. Überall wird er Neider und Gegner finden, denn sein Gemüt bringt er überall mit. Vom Staate will er Anerkennung seiner Kunst – aber Staaten schuf die Not; was hat die Kunst mit der Not zu tun?«
Der Großherzog war ans Fenster getreten und blickte in die Nacht hinaus.
»Siehst du die Wolken dort über dem Ettersberg, Wolfgang? Und das Wetterleuchten? Vielleicht kommt das Gewitter über uns; vielleicht auch nicht – aber es wetterleuchtet in unsere Ruhe und Abgeklärtheit herein. Neue Zeiten kommen, neue Menschen und neue Götter der Kunst und des Lebens. Und der, den wir jetzt vergebens erwartet haben, ist vielleicht einer von jenen, denen die Zukunft gehört. Und darum will er nichts wissen von uns. Er wird seinen Weg gehen, der nicht der unsrige ist.«
Goethe schwieg.
Über den Kronen der fernen Wälder flammten die lautlosen Blitze.