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Marie Piquot war gestorben. An gebrochenem Herzen, wie man damals sagte – einen Tod, so still und sanft wie ihr Leben gewesen war.
Von einem Ball war sie erhitzt nach Hause gekommen, hatte sich in den ungeheizten Räumen der Wohnung erkältet und mit heftigem Fieber zu Bett gelegt; nach kurzer Besserung ergriff sie die Krankheit aufs neue und löschte das matt flackernde Leben aus. 124
In einem verlorenen Winkel des Stefansdoms hatte Grillparzer gestanden, als die Leiche eingesegnet wurde, hatte den weißblauen Sarg mit dem Jungfernkranz, beladen mit Kränzen von Herbstblumen, an sich vorüberschweben gesehen, hinter ihm sein düsteres Gefolge, den Vater mit tief gesenktem Graukopf, die weinende Mutter im schwarzen Schleier, gestützt auf den Arm ihres Sohnes, ein paar Verwandte, dann den alten grämlichen Diener, der ihm oft die Teller gewechselt, wenn er in froher Abendgesellschaft neben dem Mädchen saß.
Und ein paar Wochen später hatte ihn die Mutter zu sich gebeten und ihm unter strömenden Tränen den letzten Willen Maries vorgelesen. Da stand es in klaren Worten, daß sie ihn geliebt wie keinen anderen Menschen auf der Welt, aber mit ungeheurer Selbstbeherrschung diese Liebe vor allen verborgen hatte, weil sie hoffnungslos war, seit sie von seinem Verhältnis mit Katty wußte.
Und Grillparzer hatte der weinenden Frau schweigend zugehört, ihre Hand geküßt und für das Vertrauen und die Zuneigung gedankt, die man ihm in der Familie schenkte; er war traurig, aber kein persönliches Empfinden für das arme gute Geschöpf, das den Weg in die Ewigkeit gegangen war, regte sich in ihm. Eine Grabschrift sollte er für sie schreiben, das war ihr letzter Wunsch. Er schalt sich gefühllos, kalt und arm im Herzen, und doch hatte das traurige Gespräch an sein Innerstes gerührt.
Und wie immer, wenn er sich mit Selbstvorwürfen quälte, die bitterer waren als alle Vorwürfe von Fremden, flüchtete er hinaus in die Natur, wollte allein sein mit ihren stummen Geschöpfen, mit Wäldern und Bergen, mit den wilden Blumen der Wiese und den fliehenden Wolken am Himmel . . .
Waldsteig hieß der schmale köstliche Weg, der mitten durch die Herbstlandschaft zwischen Weingärten und Obstbäumen, an einem steinernen Johann von Nepomuk vorüber in langen Windungen zu der Senke zwischen Kahlen- und Leopoldsberg führte.
Der Herbst war über die Landschaft gekommen, hatte goldgelbe Blätter auf alle Wege gestreut, die Trauben gesegnet und die Wälder in rote Feuerflammen gehüllt. 125 In den kleinen Bauerngärtchen leuchteten die bunten Sterne der Astern und die Dickköpfe der Dahlien.
Langsam, in seine Gedanken versponnen, stieg er höher und höher, bis er auf dem waldumrauschten Anger stand, der die Minnewiese hieß seit alten Tagen – es ging die Sage, Herr Walther von der Vogelweide hätte diesen einsam köstlichen Platz geliebt und sein wunderbares Lied »Unter der Linden an der Heide« mit Nachtigallenschlag und Tandaradei sei hier entstanden.
Er ließ sich nieder, auf einem moosbewachsenen Stein, der die Grenze zweier Gemarkungen bedeutete; ihm war als sei das ein Grenzstein seines Lebens, stand er doch in der Tag- und Nachtgleiche des Daseins, er sah den Herbst gekommen und liebte ihn und seine leise Melancholie.
In einem seltsamen Traum sah er sein künftiges Leben, sah sich selbst als alten Mann, geklärt und gekeltert vom Schicksal, frei von den roten Flammen der Leidenschaft, der den Weg zur Vollendung gefunden hatte, wie einst Parsifal.
Aber dieser Weg ging über Entsagung und Verzicht; es blieb nichts anderes übrig für einen Menschen von seiner Art. Er mußte ihr entsagen, der schmerzlich Geliebten, und vielleicht kam ein Anderer, ein Glücklicherer, der besser zu ihr taugte als er mit seiner ewigen Unentschlossenheit.
Denn das wars, was sein Leben verdunkelte. Nicht die Tat, der Entschluß war das Schwere für ihn.
Aber das Weib will den Entschluß, ein bedingungsloses »zu mir« auf Gedeih und Verderb. Und es hat ein Recht darauf; er hat ihr Unrecht zugefügt, hat Schuld des Herzens auf sich geladen, die schwerer wiegt als die des Willens.
Und jede Schuld fordert Sühne, wenn die Rechnung des Lebens aufgehen soll. Er aber: wie soll er sühnen?
Er sah einen Weg: Großes, Wertvolles schaffen, aus dem Egoismus des Künstlermenschen die Brücke hinüberschlagen zu menschlicher Gemeinsamkeit.
Die hohen Kronen des Buchenwaldes rauschten über ihm. Das Brausen wuchs und schwoll und verklang wieder, um aufs neue anzuschwellen. Milde Septembersonne 126 goß Ströme von Licht herab, die sich auf dem Wiesengrund zu goldenen Flecken sammelten. Und wenn er die Augen schloß, schien es ihm in seltsamer vegetativer Ergriffenheit, als sei er eins mit dieser brausenden und leuchtenden Natur, und sein Leben nichts anderes als ein Bild der heimatlichen Landschaft. Es war ein wunderlich beglückendes Gefühl, ein Traumzustand und doch ein Wachsein ohnegleichen. Ein Lied von Schubert klang in ihm auf: rauschender Strom, brausender Wald, starrender Fels, mein Aufenthalt . . .
Wenn ihm die Gabe geworden war, einem flüchtigen Erlebnis Dauer zu verleihen in seinem Werk, so war es ein halb unbewußter Naturtrieb jenseits von Gut und Böse; und wenn Schuld auf ihm lag, so wollte er sich auf diesem Weg von ihr befreien. Ja, Schreyvogel hatte recht, man mußte den Blick zu jenem Großen im fernen Weimar erheben, der es verstanden hatte, Leben und Dichtung zu höherer Einheit zu verschmelzen.
Zu ihm wollte er wallfahrten, an ihm sich aufrichten, Bestätigung des eigenen Wesens finden. Fort aus der Heimatstadt, die ihm wieder einmal zu heiß geworden war, mit ihrer entnervenden Schönheit, gleich gefährlich für den Schaffenden und den Genießenden.
Wieder dachte er an Schubert. Das war der Frühlingsmensch, der ewig junge, seine Kunst war Jünglingskunst wie jene Mozarts und Rafaels, und vielleicht würde er noch im Frühling seines Lebens diese Welt verlassen wie alle Lieblinge der Götter. Er aber war ein Stiefkind Gottes, und von anderer Art, seine Jahreszeit war der Herbst mit süßen, langsam gereiften Früchten, mit schwermütig ziehenden Nebeln und langen Nächten, erfüllt von den Schauern der Vergänglichkeit.
Und ihm war, als blicke er in dieser Stunde der Einkehr tiefer hinab in die Abgründe des Unbewußten, in die dunkle Welt des eigenen Ich.
Er sah die drei Frauen vor sich, die seinem Herzensleben Inhalt gaben: Charlotte, die er verlassen mußte, um einer anderen willen, Katty, die er nicht an sich zu binden wagte im Egoismus des Künstlers, Marie Piquot, der er schweres Herzleid bereitet hatte, ohne es zu wissen und zu wollen, die ihre Sehnsucht und Entsagung 127 mit ins Grab nahm. Und erkannte als traurige Wahrheit, daß es auf dieser Welt kein Glück gab, das nicht durch Schmerzen erkauft war, daß Leben und Handeln gleichbedeutend war mit Leiden. Und daß er keiner von denen war, die unbekümmert und leichten Sinnes aus dem Becher der Lebensfreude trinken dürfen.
Aber vielleicht gab es auch da einen Ausweg: vielleicht war es möglich, im Lauf der Zeit die Liebe zur Freundschaft abzuklären, zu einem großen und hohen Menschentum, jenseits von Mann und Weib, als Krone des Lebens. Denn höher als die Liebe stand die Freundschaft der Seelen, weil sie fern vom Egoismus war. Liebe brennt, aber Freundschaft wärmt. Und es gab viele bange Stunden in seinem Leben, da seine Seele fror und sich nach Wärme sehnte.
Dann konnte er doch wieder zu ihr kommen mit seinen Plänen und Gedanken; durfte in dem weichen Lehnstuhl sitzen, in der warmen Behaglichkeit, wie sie nur gütige und kluge Frauen um sich verbreiten können, und wieder fortgehen mit dem leisen Schmerz der Entsagung in der Brust.
Die Schatten der Bäume wurden länger, droben im Wipfel der alten Buche sang ein Vogel sein Abendlied. Der Wald rauschte in volleren Akkorden, und heimlich kam die liebe Gewohnheit des klingenden Reimes und Silbenfalles über ihn; es sang in ihm wie in dem kleinen Vogel da oben, unbewußt und jenseits alles klaren Denkens formten sich Verse, die er niederschreiben wollte, wenn es wieder ruhig in ihm war. Er sprach sie vor sich hin, hinein in das Rauschen zu seinen Häupten:
»Freundschaft und Liebe, sie nenn ich die gütigen Götter des Lebens,
aber die Freundschaft erfüllt, was dir die Liebe versprach.«