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Jaromir hatte seine Kohlen an den Mann gebracht; nun stand er im Getriebe des Marktes wie ein Felsen im Meer. Um ihn war Lärmen, Rufen, Feilschen, Schelten, lautes Anpreisen der Waren und betäubendes Gerassel der Marktwagen. Auf Tischen und Gestellen, in Krambuden und Leinenzelten lag und stand herum, was fleißige Hände im Lauf der Woche in den Werkstätten geschaffen hatten. Bürgermädchen mit Einkaufskörben am Arm gingen von einem Gemüsestand zum andern; dicke, rotbackige Mägde, kurz geschürzt, mit breiten, vorn abgerundeten Schuhen stritten mit der Eierfrau und dem Käsehändler um Maß und Gewicht. Vor dem Rathause war lautes Geschrei und Gejohle; zwei Weiber, die gehässiger Nachrede und arger Prügelei überwiesen waren, wurden zur Strafe in die Doppelgeige geschnallt, ein wagrechtes Brett, durch dessen Löcher sie die Köpfe und Hände stecken mußten; sie konnten sich nicht von einander abwenden und der gegenseitige Anblick entflammte sie erst recht zu wütender Beschimpfung, daß die Zuschauer sich vor Lachen die Seiten hielten. Hie 44 und da tauchten die Gestalten von Juden auf, in lange, braune Gewänder gehüllt, Tellerhüte auf den Köpfen, wie die strenge Kleiderordnung gebot. Sie hatten es nicht gut in der Stadt; mancher guckte ängstlich über die Schulter, als fürchte er einen Steinwurf. Waren es doch kaum fünf Jahre, seit die Iglauer Bürger, den Juden arg verschuldet, sie mit Gewalt aus der Stadt getrieben hatten, um ihrer Verpflichtungen auf die einfachste Art ledig zu werden.
Nun wurde die rote Fahne am Rathaus eingezogen, ein Glöcklein bimmelte, Ratsknechte eilten hin und her und mahnten die fremden Verkäufer zum Einpacken: der Markt war zu Ende.
Triglaff stieß seinen Herrn mit der Schnauze. Als der aber keine Miene machte, weiter zu gehen, fing er zu bellen und zu winseln an; das sollte wohl bedeuten: so komm doch endlich in die Herberge, hast du nicht auch Hunger wie ich?
Aber der Wlk achtete nicht darauf. Einsam inmitten des lauten Treibens, starrte er vor sich hin und Triglaff konnte nicht wissen, daß er stumme Zwiesprache hielt mit einem, der ihm gar nahe stand und doch jetzt fern war, ach, so fern . . . .
Beim Torwart war er gewesen, sich zu erkundigen, ob denn noch immer keine Nachricht von seinem Jodok eingetroffen sei. Der aber hatte den Kopf geschüttelt: er könne ihm nichts sagen. Freilich, der alte Matrose war wieder auf Urlaub daheim und wußte allerlei Geschichten: von der Schlacht im Nordsund, wo sechs norddeutsche Seestädte gegen den König von Dänemark gestritten hatten, von wilden Kämpfen der Hanseaten wider die Seeräuber, vom 45 Heringsfang in der Nordsee, wo man die Körbe ins Wasser tauchte und mit Fischen gefüllt wieder herauszog, von Meerjungfern und Seegespenstern und was sonst noch alles von den Ohren der Landratten gierig aufgeschnappt wird; aber vom Jodok wußte er nichts. »Ist jetzt gar gefährlich zur See zu reisen – die Seeräuber sind wieder am Werk mit Plündern und Morden und der Frühlingssturm braust Tag und Nacht von Norwegen her – genade den Schiffern die seligste Jungfrau, der Stern des Meeres!«
Das alles hatte der Wlk angehört und dazu den Kopf geschüttelt; sein Lebtag hatte er niemals das Meer gesehen, nur das bunt gemalte Bild eines Schiffes in der geschriebenen Chronik, die ihm sein Beichtvater in der Bücherei des Minoritenklosters vor Jahren einmal gezeigt. Aber mit Schaudern dachte er: wenn der arme Jodok vom Meere verschlungen oder von den Seeräubern umgebracht worden ist, dann gibt's auf der ganzen Welt nichts mehr für ihn, um das es sich lohnt zu leben.
Seufzend wendete er seinen Kohlenwagen – zur großen Befriedigung Triglaffs – und fuhr die Längsseite des weiten Stadtplatzes hinab am Brunnen vorüber gegen das Krätzl, die kleine Häusergruppe, die wie eine Insel aus den vielen Verkaufsbuden und schwatzenden Menschen emporstieg; die kleinen, bunten Häuschen zeigten ihre Erker mit den Butzenscheiben und Blumenfenstern und im Erdgeschoß die Werkstätten der Gewerbsleute; hier klopfte ein Kannengießer an einem Zinnkrug herum, während sein Gehilfe im Hintergrund den Blasbalg zog, damit das Feuer das Metall in den Tiegeln rascher zum Schmelzen bringe; dort saß ein Ratsherr in der Barbierstube und ließ 46 sich das Haar schneiden, daneben arbeiteten Tuchscherer mit lautem Geklapper der gewaltigen Scheren und ein Goldschmied nahm einem Bürgermädchen mit vielsagendem Lächeln an ihrem kleinen Finger das Maß zu einem goldenen Ringlein. Auch hier war allenthalben der heitere Lärm arbeitsfroher Menschen. Die wußten alle, wofür sie schafften. Der Wlk wußte es nicht.
Er besorgte noch rasch seine Einkäufe und schritt dann der Herberge zu, in welcher die Landleute aus der Umgebung einzukehren pflegten. An einem der langen, ungedeckten Tische verzehrte er sein einfaches Mahl, während Triglaff in der Küche zur großen Erheiterung der Mägde mit dem Hauskater in Fehde geriet, die ihm einen Tatzenhieb über die Schnauze einbrachte; dafür erhielt er zum Trost einen gewaltigen Kalbsknochen.
Der Wirt trat in die Schankstube mit der Mitteilung, daß frisch angeschlagen sei. »Echtes Iglauer Altbier«, sagte er schmunzelnd, »so stark und dick, daß man Holz damit leimen kann . . .«
»Na also, einen tüchtigen Krug, Herbergsvater, aber schnell!«
Es geschah. Das Bier erwies sich jedenfalls stark genug, um die Sorgen von Jaromirs Stirn zu scheuchen; aus dem einen Krug wurden zwei und drei.
Da legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. Er fuhr empor und starrte in ein verwittertes, rotes Gesicht mit stechenden Augen und dicker Stumpfnase; der breite Mund zog sich grinsend schier von einem Ohr zum andern und eine rauhe Baßstimme brummte:
»Jaromir! Kennst deinen alten Freund nimmer, he?« 47
Der Wlk fuhr sich mit der Hand über die Augen:
»Vaclav, du bist's? Ich dachte, du wärest im Heer des großen Prokop?«
Der andere setzte sich nieder; die Holzbank krachte unter der Last seines mächtigen Körpers:
»Bst! Nicht so laut, der Wirt glotzt herüber, und was wir reden, geht ihn gar nichts an. Bin im Geheimen hier, wie ein großer Herr; wenn die Iglauer wüßten, woher ich komme, stäupten sie mich aus an der Prangersäule am Hauptplatz und jagten mich zum Teufel – also verrat mich nicht!«
Jaromir nickte verständnisvoll; er rückte näher an Vaclav heran und ließ sich erzählen, was er im Heer des großen Prokop und sonst im Lande erlebt. Der Vaclav merkte bald, daß er ihm mit größerem Interesse zuhörte als das letztemal. Und das paßte in seine Pläne; er war in ganz bestimmter Absicht nach Iglau gekommen und hatte seine Weisungen von niemand Geringerem als von Prokop selbst.
Sie plauderten von vergangenen Zeiten und der gewaltigen Bewegung, die sie von ihren Anfängen an miterlebt hatten. Der Wlk war im Jahre 1414 mit Hunderten von Gleichgesinnten zum Konzil nach Konstanz gezogen und hatte, Zorn und ohnmächtige Wut im Herzen, gesehen, wie man den unerschrockenen Magister Johannes Hus auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Aber keine Gewalt vermochte die Lehre des großen Reformators auszurotten; bald entstanden zwei Parteien, die Utraquisten, deren Mittelpunkt die Universität war, und die die Kommunion unter beiden Gestalten verlangten, und die Taboriten, zu 48 denen die Masse des Volkes, die Bauern und städtischen Handwerker gehörten; sie verwarfen die meisten Sakramente, die Verehrung der Heiligen, das Fegefeuer, die wirkliche Gegenwart Christi im Altarsakramente und ließen auch Laien zu priesterlichen Verrichtungen zu.
Der Jaromir war dabei gewesen, als sie auf der Höhe eines Berges bei Bechin aus linnenen Tüchern ein Zelt aufgeschlagen und die Stelle nach der Bibel Tabor getauft hatten. Zu Tausenden waren die Bewohner der umliegenden Städte und Dörfer zusammengeströmt. Sie lagerten auf der Wiese; die grellroten, blauen und gelben Röcke und Kopftücher der Weiber sahen wie riesige Blumen aus; alles lauschte den heißen Worten der Laienprediger, die unter beiden Gestalten die Kommunion spendeten; Brüder und Schwestern nannten sie sich, Reiche teilten mit den Armen die mitgebrachten Lebensmittel, Tanz und Musik und jede Art von Lustbarkeit war strenge verboten; kein Zank und Zwiespalt ward geduldet, man ersetzte sogar den Landleuten den Schaden, der durch das Zertreten der Felder verursacht worden war.
Aber bald folgten blutige Kämpfe; der wilde Ziska trat an die Spitze der Taboriten und schlug in einer Reihe von Schlachten die schwer beweglichen Ritterheere Sigismunds. Die treuesten Anhänger Ziskas nannten sich nach seinem Tode »Waisen« und bildeten eine eigene, von den Taboriten getrennte Partei; die Taboriten hingegen wählten zu ihrem Führer Prokop, einen ehemaligen Mönch. Beide Parteien hatten die Utraquisten zu Gegnern, die sich recht gerne mit den Katholiken versöhnt hätten, um die eingezogenen königlichen und geistlichen Güter in aller 49 Ruhe genießen zu können. So gab es beständig Zank und Hader unter den hussitischen Parteien, die nur dann einig waren, wenn es den Kampf gegen die deutschen Ritterheere galt.
Das alles berichtete Vaclav seinem Freunde, der seit dem Tode des blinden Ziska das Heer der Hussiten verlassen hatte und zu seinem friedlichen Kohlenmeiler zurückgekehrt war; und der Wlk hörte zu, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und den vom Bier schon stark geröteten Kopf zwischen den harten, kohlengeschwärzten Fäusten.
Vaclav besaß als ehemaliger Bergmann unter der armen Bevölkerung großen Anhang, besonders seit man ihn, da seine Gesinnung bekannt war, aus der Zunft ausgestoßen hatte; nun gefiel er sich in der Rolle eines Märtyrers seiner Überzeugung. Darum hatte ihn Prokop, der die Zahl seiner Anhänger beständig zu vermehren suchte, mit einer Menge von anderen geheimen Sendboten ausgeschickt und bald erkannt, welch eifrigen und schlauen Parteigänger er an ihm besaß.
Stunde um Stunde verrann. Im Leuchterweibchen, das von der Decke herabhing, brannte schon ein mattes Talglicht. Der Wirt ging ab und zu und schneuzte es geschickt mit den Fingern. Jedesmal, wenn er kam, dämpfte Vaclav seine Stimme und sprach von gleichgültigen Dingen; dann aber erzählte er wieder mit glühender Begeisterung von den prachtvollen Klöstern und Palästen, die er plündern geholfen und wurde nicht müde, die Herrlichkeiten aufzuzählen, die seine Kameraden als gute Beute heimgeschleppt hatten. 50
Die meisten Gäste hatten sich verlaufen, um im Ratskeller weiter zu zechen, wo das Berghäuerfest mit Fackeltanz und Reigen seinen Anschluß fand. Dem Wirt wurde es schließlich langweilig, das Licht zu schneuzen; er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, streckte die Beine von sich und schlief ein. Sein Schnarchen klang wie das Geräusch eines Sägewerks.
Und der Vaclav erzählte, daß dem Wlk das Wasser im Munde zusammenlief.
»In Wünschelburg war's, da erlebten wir das tollste Abenteuer, Mord und Brand! Wir hatten die Stadtmauer arg zugerichtet mit unseren Wurfmaschinen, daß es die drinnen schier nimmer aushalten konnten vor dem Gestank der Unratfässer, so wir ihnen hineinschickten als gut hussitischen Gruß – die Zähne sind ihnen locker geworden und ausgefallen und es war ein gewaltig Jammern und Wehklagen, endlich fliehen sie alle in das Haus des Vogtes, das hatte feste Steinmauern. Wir aber nit faul, greifen das Haus an und graben Gänge unter die Mauern. schießen auch fleißig hinein mit unseren Haubitzen, werfen Fässer mit brennendem Pech aufs Dach und setzen ihnen hart zu, bis der Vogt um Gnade bittet. Das hättest du sehen sollen, wie sich der dicke Kerl an einem zusammengedrehten Bettuch beim Fenster herabgelassen hat! Unser Herr Prokop war just gnädig gelaunt und sagt dem Vogt, es sollten um Gotteswillen alle Weiber und Kinder frei gehen, die Männer aber gefangen bleiben bis zur Auslösung. Darauf fragt der Vogt an, ob das auch für den Stadtpfarrer, Herrn Megerlein, gelten sollt', der mit zweien seiner Kapläne in seinem Hause war; aber der Magister Ambros von 51 Königgrätz, des Herrn Prokop geistlicher Berater, erhub Einspruch und sagte, wir nähmen keinen Geistlichen zu Gnaden an, es sei denn, daß er widerrufe. Bringt ihnen also der Vogt Bescheid, aber die Weiber drinnen sind gar schlau und stecken die zwei Kapläne in Frauenkleider, binden ihnen Schleier vors Gesicht und legen jedem ein kleines Kind in den Arm. Wollten auch den Pfarrer verkleiden, der hat's aber nit gelitten. Nun, und wie denn der ganze Zug zum Tore hinausgeht, nehmen wir die Männer gefangen und lassen die Weiber frei; den Megerlein aber führen wir zum Ambros von Königgrätz, der mit Herrn Prokop disputiert, was mit ihm geschehen soll. »Widerruf, was du gepredigt,« sagt Ambros zu ihm, »tritt über zu unserer neuen Lehre, sonst mußt du ins Feuer.« Wie aber der Pfarrer sich dessen hartnäckig weigert, binden wir ihm Stroh um den Leib, zünden es an und lassen ihn herumtaumeln, bis er niederfällt und den Geist aufgibt. Ich seh mir indessen die Weiber an und finde eine darunter, die kommt mir so merkwürdig groß und plump gewachsen vor; und wie ich nahe herzugehe, da schreit das Kind auf ihrem Arm ganz laut »Mutter, Mutter!« Was soll das sein, denk ich mir, die Mutter ist doch bei ihm . . . und die Frau redet dem Kinde zu, mit einer gar rauhen und tiefen Stimme, aber es schreit immer lauter, da greif ich das Weib an und reiß ihr den Schleier vom Gesicht und sehe, daß es der Kaplan ist!«
Er tat einen tiefen Zug aus seinem Bierhumpen und lachte.
»Was geschah denn mit ihm?« fragte Jaromir.
»Totgeschlagen haben wir ihn,« bemerkte Vaclav gleichmütig, »nur schade, daß uns der andere entkommen ist. 52 Und dann haben wir das Haus geplündert und gute Beute gemacht – da schau her!«
Er zog einen ledernen Beutel aus dem Gurte und klingelte mit den Goldmünzen.
»Das ist liebliche Musik in deinen Ohren, gelt, Jaromir? Sag, wie viel Kohlen mußt du wohl verkaufen, bis du das zusammenbringst, he?«
Der Wlk stieß einen Seufzer aus.
»Schau, Kamerad, ich hab dir's schon vor Jahren gesagt und sag dir's heut wieder: komm zu uns. Mußt nit denken, wir brauchen dich nur zum Leuttotschlagen – oh nein, im Hause des großen Prokop sind gar viele Wohnungen, kannst als Proviantmeister gehen oder zu den Feldschmieden oder wohin du willst . . .«
Er hatte in den Beutel gegriffen und ein paar Goldstücke herausgenommen, die er in der hohlen Hand schüttelte.
»Willst meine Hand haben samt dem, was drin ist, Jaromir?« fragte er lauernd. »Das da soll bloß ein Handgeld sein – für jeden wehrhaften Mann, den du uns zuführst, bekommst du das gleiche. Und wenn's was zu erbeuten gibt, soll der Herr Proviantmeister nit vergessen werden, da steh ich gut.«
In den Augen des Wlk begann es zu glimmen. Ein heißer Strahl schoß daraus hervor wie die Stichflamme aus einem schlecht betreuten Kohlenmeiler. Aber er zögerte noch.
»Wär' ich nicht gar so einsam auf der Welt! Aber es ist keine Freude in mir, seit meine Anna tot und mein Bub verschollen.« 53
Er stützte den Kopf auf die Hand und brütete.
»Einsam? Bin just so einsam auf der Welt wie du. Aber im Feld draußen spürt man das nicht. Komm, wir wollen uns trösten in unserer Einsamkeit. Heda, Wirt, ein gutes Abendbrot und vom besten Wein!«
»Eigentlich wollt' ich heut noch nach Hause«, meinte der Wlk unschlüssig. »Und viel Geld kann ich auch nicht vertun, du weißt es.«
»Narr,« lachte Vaclav, »bist doch mein Gast. In deiner Hütte wirst du nichts versäumen und die Nacht ist keines Menschen Freund.«
Es gab einen rosigen Schinken, der einst einem Eber aus dem Urwalde des Iglauer Berglandes angehört, köstlichen Spießbraten, Eier, in Butter gebacken, goldgelben Käse und zarte weiße Brötchen, die auch mit Wasser genossen einen Feinschmecker befriedigt hätten; aber man begnügte sich keineswegs mit Wasser, sondern trank schweren Raifal und Burgunderwein aus Zinnkannen, bis Jaromir seinen Trübsinn vergaß und mit glühenden Wangen den Reden seines gesprächigen Freundes zuhörte.
»Im Lager geht's uns noch besser«, prahlte Vaclav und goß eine halbe Kanne Wein mit einem Zuge in seinen Schlund. »Was ist's Jaromir – kommst mit uns?«
Und Jaromir, berauscht von Wein und Tatendurst, schlug endlich ein.
Vaclav schien sofort wieder nüchtern. Er schob sich nahe an ihn heran und flüsterte:
»Weil du jetzt schon einer der Unsrigen bist, will ich dir heute noch etwas zeigen, worüber du staunen wirst. 54 Sollst sehen, wie groß die Macht des Kelches ist im Volk. Handschlag darauf, daß du schweigst, hörst du?«
Den Handschlag gab Jaromir gern; er brannte vor Neugier, was ihm der Vaclav zeigen wollte. Heimliche Sehnsucht nach Abenteuern flackerte in ihm auf.
Eine Stunde später verließen sie das Haus. Vaclav schlug die Richtung gegen die Stadtmauer ein. Am Fuße des mächtigen Baues kauerte eine Reihe kleiner Häuschen, die einstigen Wohnungen der Bergleute; viele von ihnen waren verlassen und baufällig, seit man die Gruben verschüttet hatte.
Vaclav zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte eine Tür auf.
»So, hier ist mein Haus.«
Sie befanden sich in einer kleinen Küche. Alles war öde und kahl und machte den Eindruck jahrelanger Verwahrlosung. Auf dem Herde lagen Feuerstahl, Stein und Zunder. Vaclav schlug Feuer und setzte den bereitliegenden Kienspan in Brand. Dann ging's in den Keller hinab, der lang und schmal im rötlichen Licht der Fackel vor ihnen lag; an seinem Ende zeigte sich ein Loch, knapp so groß, daß ein Mensch durchkriechen konnte.
»Hier mündet ein Stollen,« sagte Vaclav und faßte die Hand seines Freundes. »Laß mich voraus und taste dich vorsichtig die Wand entlang; wir werden bald aufrecht gehen können.«
Sie arbeiteten sich langsam weiter. Jaromir erkannte beim trüben Fackelschein geborstene Stützbalken und Reste der Zimmerung. Wohl eine Viertelstunde dauerte die unterirdische Wanderung, dann schlug ihnen ein kalter Lufthauch 55 entgegen; sie waren am Mundloch des Stollens. Vaclav stieß seine Fackel gegen den Boden und trat die glimmenden Funken aus.
»Wo sind wir?« fragte Jaromir.
»Bei der Einfahrt ins Bergwerk. Nun weißt du auch, wie ich in die Stadt gekommen bin. Sprich nicht, damit uns der Wächter auf der Mauer nicht bemerkt.«
Sie kletterten über Trümmerwerk und Geröllhaufen und erreichten die Öffnung eines zweiten, halbverschütteten Stollens, der schräg in die Tiefe führte.
»Da hinunter müssen wir. Halte dich dicht hinter mir! Vorwärts!«
Vaclav, der trotz seines fülligen Körpers ein gewandter Kletterer war, verschwand in der Finsternis; langsam tappte ihm Jaromir nach, bis sie eine Stelle erreichten, wo sich der Gang teilte. Hier stand eine brennende Hornlaterne auf dem Boden. Aus dem Seitengange, von dem ein matter Lichtschein herüberschimmerte, tönte dumpfes Gemurmel vieler Menschen, das sich im Widerhall an den Wänden brach. Sie gingen den Stimmen nach und befanden sich plötzlich in einer hallenartigen Erweiterung des Ganges, wo eine bunte Menge abenteuerlicher Gestalten versammelt war. Fackeln, in Felsenspalten steckend, warfen ihr flackerndes Licht auf erregte Gesichter; in kleinen Wirbeln wallte der dunkle Rauch an den Wänden empor und bildete unter der Decke langsam ziehende Wolken.
Was sich an diesem unheimlichen Orte zusammenfand, war die große trübe Masse fahrenden Volkes, Gaukler und heimatlose Leute, Unzufriedene und Friedlose, wie sie im Mittelalter von einem Orte zum andern zogen, verfolgt und 56 verachtet von den seßhaften Bürgern, denen sie heimliches Grauen einflößten. Alle Völker waren da vertreten; man sah Polen in kurzen, pelzverbrämten Röcken, Russen und Zigeuner mit braunen Gesichtern und bläulichschwarzem Haupthaar; auch Frauen waren unter der bunten, schwatzenden Menge. Die große religiöse Bewegung hatte die Leidenschaften aufgewühlt und alle Bande gesellschaftlicher Ordnung zerrissen. Es sollte keine Reichen und keine Armen mehr geben; jeglicher Besitz müsse aufgeteilt werden, damit alle genug zum Leben hätten. Andere verwarfen die bestehende Staatsform; das Königtum sei überflüssig und schädlich, im freien Staat mit selbstgewählten Obrigkeiten würden Handel und Wandel besser gedeihen als unter der Herrschaft eines Monarchen, mochte er nun aus dem Geschlechte der Luxemburger oder Habsburger stammen. Die Bauern wollten das Land der großen Grundbesitzer untereinander aufteilen und freie Jagd und Fischerei treiben, auch Holz schlagen, wo es ihnen beliebte. Schwarmgeister predigten vom Jüngsten Tage, da Gott selbst zur Erde niedersteigen und die Bösen vernichten werde. Wieder andere verlangten die Herrschaft des tschechischen Volkes über ganz Böhmen, denn Ziska hatte, wie er selbst sagte, die Waffen ergriffen nicht nur für die Befreiung der Wahrheit des göttlichen Wortes, sondern besonders auch zur Befreiung der tschechischen Nation.
Alle diese unklaren Hoffnungen und Wünsche verwirrten die Gemüter der einfachen Menschen und ließen sie in wirren Träumen Dinge sehen, für welche die Zeit nicht reif war.
Jetzt entstand eine Bewegung; einer aus der Schar, ein hagerer Mensch mit scharfen Zügen und zerrauftem Barte, 57 der nichts am Leibe trug als ein gegerbtes Wolfsfell, sprang auf einen Felsblock und begann zu sprechen. Tiefe Stille entstand; alle Augen richteten sich auf den Redner.
»Brüder und Schwestern im Geiste Gottes,« rief die schrille Stimme, »der Tag der Vergeltung ist gekommen! Die Stunde naht, da Sterne vom Himmel fallen werden gleich unreifen Feigen, da sich die Fürsten und Mächtigen dieser Erde, die Heerführer und Reichen in die Höhlen und Klüfte des Gebirges verkriechen und zu den Felsen sprechen werden: fallet über uns, denn es ist angebrochen der große Tag des Zornes. Aber die Seelen derjenigen, die getötet wurden um des reinen Glaubens willen, die werden nicht zugrunde gehen; einem jeden von ihnen ist ein weißes Kleid gegeben und der Trost des Herrn: ruhet noch eine kurze Zeit, dann wird gerächt werden euer Blut an den Reichen und Mächtigen dieser Erde. Und darum lasset uns hoffen und wachen und beten. Unser Gebet aber sei: ›Vater unser, der du in uns allen bist, erleuchte uns und dein Wille geschehe‹.«
»Amen, Amen!« rief die Menge. Der Prediger faltete die Hände einen Augenblick wie in Verzückung. Dann fuhr er fort:
»Am Jüngsten Tage aber werden die, so mit weißen Gewändern angetan sind, vor dem Throne des Herrn erscheinen und die Ältesten werden sie fragen: wer seid ihr? Sie aber werden also sprechen: wir sind von jenen, die aus großer Trübsal kommen und Hunger und Durst und Armut gelitten haben um der Gerechtigkeit willen. Und die Ältesten werden sagen: ihr sollet nicht mehr 58 hungern und dürsten; Gott wird alle Tränen von euren Augen abwischen. Denn euch gebührt der Reichtum und die Macht und die Schätze der Fürsten und Großen. Gott hat uns die Güter dieser Welt gegeben, darum sollen sie gleich und gerecht verteilt werden; keiner soll Geld und Gut besitzen für sich allein, denn alle sind Brüder und Schwestern vor dem Angesicht des Höchsten . . . .«
Der Redner hielt inne; eine tiefe Bewegung ging durch die Versammelten. Ja, das war's, was sie so heiß ersehnten: Verteilung der Güter, gleicher Besitz für alle. Wie man das ins Werk setzen sollte, darüber dachte niemand nach. Alles war Gefühl und Sehnsucht; man umarmte einander unter Tränen und beglückwünschte sich, daß nun jede Not ein Ende finden werde. Der Jüngste Tag war nahe, die Guten müßten belohnt, die Bösen bestraft werden. Das stand vor den geblendeten Augen als Gewißheit. In diesem Augenblick sprang Vaclav auf den Felsblock, den der Prediger verlassen hatte. Er fühlte: jetzt mußte er sprechen, bevor noch der Rausch und das Fieber der Masse einer kühlen Überlegung gewichen war.
»Ja, meine Brüder,« rief er und seine laute Stimme schallte bis in die fernsten Winkel der unterirdischen Gänge hinein, »so soll es sein, es darf keine Armen und keine Reichen mehr geben, wo das tausendjährige Reich Gottes so nahe ist. Aber hört mich an: wir werden kämpfen müssen, hart und blutig kämpfen; denn gutwillig wird keiner von den Ungerechten und Gottlosen seine Schätze mit uns teilen. Erfüllen müsset ihr das Gebot der Schrift: rottet sie aus, die Ungläubigen, mit der Schärfe des Schwertes! Viel ist geschehen: bei Taus sind die Ritter geflohen wie eine 59 Herde Schafe vor dem Sturm, feige haben sie sich in die Wälder zurückgezogen vor unserer Übermacht und auch die Lauen und Gleichgültigen haben erkennen müssen, auf wessen Seite die Wahrheit ist. Aber noch sind wir nicht am Ende. Der König Sigismund zieht jetzt nach Welschland, aber unser gefährlichster Feind, den er zum Herrscher in Böhmen bestellt hat, bleibt zurück: Herzog Albrecht der Habsburger . . . .«
»Nieder mit dem Herzog«, riefen einige Stimmen, »nieder mit den deutschen Rittern!«
»Wir wollen den freien Glauben!«
»Keine deutschen Obrigkeiten in des Königs Städten!«
»Kein Amt an die Ausländer!«
Alles schrie durcheinander. Als es wieder ruhiger geworden war, fuhr Vaclav fort:
»Die Zeit ist günstig für uns, Freunde! Bedenkt: der Luxemburger nimmt seine besten Krieger nach Welschland mit; und kaum hat er das Land verlassen, so fallen die Reiter des Polenkönigs gleich Heuschrecken in Böhmen ein und verjagen den Habsburger! Sollen wir da müßig zusehen? Auf, ihr Streiter Gottes; auf in den Kampf für unsere Lehre, für den heiligen Kelch!«
»Den Tod für den Kelch!« schallte es von allen Seiten.
»Vernehmt es, Brüder: auf des Herzogs Kopf ist ein Preis gesetzt! Er mag sich hüten vor der Schar derer, die sich gegen ihn verschworen haben! Und wenn er sich in den Mauern der Stadt verborgen hält, auch dort kann ihn sein Schicksal erreichen. Freunde! wollet ihr unserer gerechten Sache zum Sieg verhelfen, so vereinigt euch mit dem Heere des Prokop; er steht bei Pilsen und sammelt 60 seine Truppen; eine Wagenburg läßt er bauen, so stark wie sie nicht einmal der Ziska gehabt hat! Wer in seinem Heere dient, hat Geld im Überfluß – da seht her!«
Mit rascher Bewegung griff er in seinen Koller und warf eine Hand voll Goldmünzen unter die Menge. Jubelgeschrei brach los; mit erhitzten Gesichtern balgte man sich um das Geld, stieß und drängte sich und rief begeistert: »Hoch der große Prokop!« Vaclav wollte noch weiter sprechen, aber es war unmöglich; junge Leute hoben ihn unter tobendem Lärm empor und trugen ihn auf den Schultern umher. Der Prediger war vergessen; Vaclavs goldene Verheißung leuchtete der Menge besser ein als alle Schilderungen vom tausendjährigen Reiche Gottes. Schnaufend und pustend, jeden Augenblick in Gefahr, herabzufallen, saß er auf seinem schwankenden Thron und lächelte stolz auf die lärmende Menge herunter. Der große Prokop mußte ihn loben; brachte doch dieser Abend seinem Heere wieder eine Schar tüchtiger Streiter.
Aber nicht alle Teilnehmer der Versammlung stimmten in den Jubel ein. Abseits standen einige ältere Leute, aus deren Mitte die Gestalt eines grauhaarigen Sackpfeifers hervorragte. Dort war heimliches Murren und Kopfschütteln.
Jaromir, der sich unter den jungen Hitzköpfen nicht behaglich fühlte, hatte sich dieser Gruppe angeschlossen.
»Kann just nicht finden, daß der Herzog solch ein arger Zwingherr ist,« brummte der Sackpfeifer. »Ist wohl ein gemeiner und leutseliger Ritter, der uns manchen schönen Batzen zu verdienen gegeben, wenn wir vor ihm auf der Festwiese spielen und fiedeln durften; ist's nicht so, Bozena?« 61
Das dunkelhaarige Mädchen pflichtete dem Alten bei.
»Als ich im vergangenen Sommer in Fußdorf den Bauern unter der Linde zum Tanz aufspielte, da ritt er mit seinem Gefolge vorbei,« erzählte sie. »Und ich spielte eine Weise, die man in Wien oft singt; da nickte er und rief: ›Dank dir, Zigeunerin, für die Weise aus der Heimat‹ und warf mir ein Ringlein zu.«
»Wird kaum so hart regieren wie der Luxemburger, der immer das Maul voll schöner Worte und doch dem Hus damals in Kostnitz sein Königswort gebrochen hat,« bemerkte ein anderer.
»Seid vorsichtig mit dem Reden, dort der Prophet hört uns zu und die Bursche neben ihm sehen mir gar nit so aus, als hätten sie ihre Dolche nur zur Zier im Gürtel stecken.«
Neuer Lärm entstand. Irgend jemand hatte einen bunten Holzschnitt mitgebracht, der den Herzog Albrecht vorstellte; gepanzert saß er auf dem Roß und stemmte die Faust auf den Sattel. »Albertus dux Austriae« stand in plumpen Buchstaben darunter.
»Verbrennen! Verbrennen! Wir wollen den Herzog verbrennen!« schrie alles durcheinander. Im Nu waren die Fackeln aus den Felsspalten gerissen und zu einem Scheiterhaufen vereinigt. Vaclav trat feierlich vor und warf das Bild in die Flammen. Und als es zischend verloderte, erhob sich abermals ein Brüllen und Jauchzen der Begeisterung, als hätte man alles Übel der Welt vernichtet.
Aber Vaclav nutzte Gelegenheit und Stunde; von einem zum andern ging er und verabredete Zeit und Ort der 62 Zusammenkunft. An der böhmischen Grenze sollten sie sich treffen, in der Nacht vor Peter und Paul. Wer sich dort einfand, bekam ein halbes Schock Prager Groschen als Handgeld.
Der Türmer von Sankt Jakob ging in jener Nacht unruhig auf seinem Wehrgang hin und her und spähte in die Finsternis. Ihm war, als käme aus der Gegend des Johanneskirchleins gar seltsames Summen und Brummen, als rühre sich's unter der Erde und wolle heraus an die Luft. Aber so sehr er auch seine Augen anstrengte, nichts war zu sehen als die Trümmerhaufen des zerstörten Bergwerks; gleich den Grabhügeln eines Riesenfriedhofes ragten sie in die Nacht. Er dachte daran, daß dort, wo die Kapelle stand, einst die Heiden ihrem Gott Baldur geopfert hatten, und daß vielleicht heute in der Johannisnacht die alten Götter in den Tiefen der Erde seufzten und klagten um verlorene Macht; er dachte an die Geschichten von schlafenden Heeren in verzauberten Bergen, Geschichten, die ihm seine Mutter erzählt; und schließlich dachte er gar nichts mehr, schlug ein großes Kreuz, betete sein Vaterunser und schlief eine Weile danach den tiefen Schlaf eines pflichtgetreuen Turmwächters.