Egid Filek
Wie Dieter die Heimat fand
Egid Filek

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II.

Armer Dieter!

Wer hätte ihm das an der Wiege gesungen, daß er dereinst in einer der elendesten Waldhütten des Landes schlummern würde, verfolgt und verraten, ein fahrender, heimatloser Flüchtling!

War das alles wirklich oder nur ein lieblicher Traum gewesen: seine sonnige Kinderzeit, die Burg auf der Höhe des Felsenufers, die sich in den Wellen des braunen Flusses spiegelte, das Zwingergärtlein mit den duftenden Würzkräutern, die ihm seine gute Mutter gezeigt und 16 erklärt, das Barett mit den bunten Federn, das sie auf seinen Lockenkopf gedrückt hatte; die Armbrust, vom Vater selbst geschnitzt, und die schön geschriebenen Bücher mit den bunten Malereien und vergoldeten Anfangsbuchstaben, aus denen ihm später der Kaplan Altmann vom Leiden Christi vorgelesen – in unklaren Bildern stieg das alles vor ihm auf, stieg und sank wieder hinab wie Gewölk am frühen Morgen.

Er sah sich mit den Knappen auf dem Anger vor der Burg, hörte Wiehern von Rossen und Zuruf der Knechte; sie sprengten aufeinander los, krachend splitterten die Lanzen, er bekam einen wuchtigen Stoß gegen die gepanzerte Brust, aber er hielt sich fest im Sattel und droben am Fenster stand der Vater und nickte ihm zu. Er spürte die Fänge des Falken, die sich durch den harten Lederhandschuh in seine Hand krallten; jetzt warf er den Vogel in die Luft, die Goldschellen an seinen Füßen klirrten, mit heiserem Schrei stieg er auf und flog aus auf Beute. Und dann sah er sich in der Turmstube des Paters Altmann über der wunderschönen Geschichte vom Parzifal sitzen und mit glühenden Wangen lesen, immer weiter und weiter; vergessen war das Würzgärtlein und die Armbrust und der Falke über den Abenteuern des herrlichen Ritters, der auf der langen Pilgerfahrt seines Lebens endlich zur höchsten Klarheit über Gott und die Welt gelangt war.

Und dann saß er in der Fliederlaube am Fuße der Burgmauer und hörte den Erzählungen seines Vaters zu. Der hatte sich in Krieg und Fehde, in Spiel und Händeln seiner Landschaft gar oft versucht und sich in weiter, 17 weiter Ferne, in der Türkenschlacht von Nikopolis den Ritterschlag geholt. Nun war er ein strenger Hausvater und dachte daran, den Sohn für ritterliches Handwerk auszustatten, damit sein Name in Ehren bleibe, wenn er selber einst in der Kirche nächst dem Altar den ewigen Schlaf tun würde, unter dem gemeißelten Grabmal, geschmückt mit dem Wappen seines Geschlechtes, einen steinernen Löwen zu seinen Füßen.

»Wir waren eine recht bunte Gesellschaft«, erzählte der Vater und fuhr mit den Fingern durch seinen langen Bart, »Engländer und Franzosen, Burgunder unter den Fahnen des Herzogs von Nevers und Deutsche, die mit Ruprecht von der Pfalz gekommen waren, Ungarn und Österreicher – der König Sigismund hat nicht gespart mit Versprechungen, aber er hatte niemals Geld, und wer was von ihm wollte, mußte ihm borgen; zurückgezahlt hat er sein Leben lang nichts. Es war im September, da kamen wir vor Nikopolis an und beschossen es tüchtig mit Wurfkugeln und Brandpfeilen, legten Sturmleitern an und bauten Belagerungstürme, aber das Nest hatte feste Mauern. Da meldeten uns Späher, der große Sultan Bajesid sei im Anzug mit hunderttausend Mann und habe beim Barte des Propheten geschworen, die Stadt zu entsetzen. Und dann ging's los auf Tod und Leben, die Pferde wieherten und die Schilde krachten gegeneinander; Fluchen und Schreien und Verwirrung und Gebrüll »Allah, Allah!« Die Franzosen haben sich brav gehalten, zweimal jagten sie die Türken in die Flucht, aber als dann der Sultan selbst kam mit seinen Eisenreitern, da war kein Halten mehr. Der König 18 Sigismund führte selbst seine Leute in den Kampf, er sprengte ganz in meiner Nähe vorüber, hinein ins Getümmel, wir alle ihm nach – es war zu spät. Ein Haufe von Türken stürzt gegen den König, hoch schwingen sie ihre krummen Schwerter; wir auf sie, der König weicht zurück – plötzlich sehe ich, wie sein Schimmel sich bäumt, ein Pfeil war ihm in den Hals gedrungen; er stürzt zu Boden, der König mit ihm, die Ungläubigen erheben ein lautes Triumphgeschrei – da springe ich vom Pferd und decke mit meinem Schilde den König, bis ihn seine Leute in Sicherheit gebracht haben. Aber das Christenheer ist geschlagen, alles rennt zur Donau, in wilder Verwirrung springen sie in den Strom, schwimmen zu den Schiffen hinüber, Pfeile zischen ins Wasser, mancher, der sich schon gerettet glaubt, wird verwundet vom Wirbel mitgerissen . . . es war furchtbar! Spät abends läßt mich der König rufen. Er steht vor dem Zelt am Ufer, die Wellen gurgeln, Feuerschein glüht da und dort auf der weiten Ebene, die roten Fackellichter spiegeln sich im Strom – ich beuge das Knie vor dem König und er reicht mir gnädig die Hand. ›Habt Ihr einen Wunsch, Wolfsteiner?‹ Ich schüttle den Kopf. Da greift der König nach seinem Wehrgehenk und reicht mir einen Dolch. Ein schönes Stück, Damaszener Arbeit, der Griff mit Silber eingelegt – einer seiner Ritter hatte es tags vorher einem erschlagenen Pascha abgenommen. ›Wenn Ihr einmal etwas von mir braucht, so zeigt mir dieses Eisen und erinnert mich an den Tag von Nikopolis – und Euer Wunsch wird erfüllt werden. Ich bin Euch gnädig.‹ Und ich nahm den Dolch und küßte die milde Hand und war stolz vor Freude; den 19 Wunsch aber hab ich nicht getan bis zum heutigen Tage.«

Und dann ging der Vater hinauf in sein Gemach zu der geschnitzten Truhe und hob den schweren, mit schön geschmiedetem Eisen beschlagenen Deckel; dort bewahrte er mit düsterem Behagen das Mönchsgewand, in dem er einst begraben werden wollte, und die Lichter, die bei seiner Leiche brennen sollten; da lag auch in vergoldeter Scheide der prächtige Dolch. Arabische Schriftzeichen umgaben den Namenszug des großen Sultans Bajesid. Dieter nahm den kühlen Stahl in seine Hand und ein heimlicher Schauer rieselte über seinen Leib.

Aber dann kamen trübe Zeiten.

Der böhmische Herrenbund empörte sich gegen den König; die guten Zeiten des Rittertums waren längst vorbei, das Land hallte wider vom Krieg und der Vater, der immer treu zur Sache der Königlichen gehalten, ward besiegt und um sein Besitztum gepfändet. Als die Mutter ihre guten treuen Augen geschlossen, besaß er kaum mehr als die verödete Burg. Zinspflichtige Bauern stellten sich unter den Schutz von mächtigeren Herren, um Leben und Habe zu sichern, benachbarte Edle eigneten sich Wald und Weideplätze an; überall fand sich der Wolfsteiner in Händel verwickelt und erkannte, daß er als freier Herr schlimmer daran war denn als ein kleiner Lehensmann. Immer hatte er gegen rohe Gewalttat der Ritter geeifert, gegen Niederbrennen von Dörfern und Überfall von Kaufleuten – jetzt begann er selbst an solche Schandtaten zu denken, als seine Not immer höher stieg. Wie gerne hätte er den Sohn nach alter Sitte an einen Fürstenhof 20 gesendet, damit er die Ritterwürde erhalte und auf einem glorreichen Kriegszug Ehre gewinne – es war unmöglich; die Pforte zu Glanz und Reichtum tat sich nur dem Wohlhabenden auf. Da kam das Letzte: auf wilder Plünderungsfahrt wollte ein Hussitenhaufen die Burg des verhaßten Ritters zerstören. Eine regnerische Sturmnacht begünstigte das Vernichtungswerk. Mit einer Handvoll treuer Knechte, die noch geblieben waren, hielten sich Vater und Sohn auf dem Berchfried; Steinkugeln, aus Wurfmaschinen geschleudert, flogen krachend gegen den Turm; noch hielt die treue Mauer stand, aber drunten legten sie schon Feuer an und schlugen mit den Äxten gegen die mächtige Eichentür. Und als die Flammen an den Fenstern hinaufleckten und von unten das Gebrüll des erbitterten Haufens empordrang, der mit den Knechten schon im Handgemenge war, schloß der Vater die Truhe auf und gab Dieter den Dolch. Sein Gesicht war bleich. aber die Hand, die den Stahl hielt, zitterte nicht. »Das ist dein Erbteil, mein Kind. Bring es dem König und sage ihm, mein letzter Wunsch auf dieser Erde gelte deiner Zukunft. Er wird für dich sorgen. Leb' wohl, mein lieber, lieber Sohn, wir werden uns wiedersehen im Reiche unseres himmlischen Vaters.« Er schloß ihn in die Arme; Tränen rannen in den grauen Bart und über den blinkenden Harnisch. Krachend zerbrach unten die Tür, das Triumphgeheul der Feinde kam näher; der Vater faßte nach dem Schwertgriff: »Du kennst das kleine Fenster auf der Rückseite des Turmes; laß dich auf den Felsen hinab und fliehe, sie sind vorn bei der Tür, es wird dich keiner verfolgen.« Dieter aber rief: »Nein, Vater, ich will 21 bleiben und mit dir und den andern sterben, einen fröhlichen, schönen Rittertod!« Und als es eisenklirrend die Treppe hinaufstürmte, warf er sich den Feinden entgegen. Ein Schwerthieb streckte ihn nieder; er fühlte warmes Blut an sich hinabrieseln, er sah noch, wie der Vater sich verzweifelt gegen drei Männer wehrte, die mit Streitkolben und Dreschflegeln auf ihn eindrangen; dann ward es Nacht um ihn. Als er zu sich kam, sah er Flammen durch die Türe brechen; dichter Qualm füllte die Turmstube und drohte ihn zu ersticken; schon brannte die Treppe lichterloh; da entschloß er sich zur Flucht. Er schlug den schweren Deckel der Truhe auf, riß ein Wams von braunem Samt heraus und fuhr hinein; rasch noch das Wehrgehenk mit dem Dolche, den Gürtel mit eingenähten Goldmünzen – dann eilte er zum Fenster; da hing die Strickleiter zusammengerollt am Balken für den Fall der äußersten Not. Vorsichtig glitt er in die Tiefe; der heftige Schmerz in dem verwundeten Arm raubte ihm oft auf Augenblicke die Besinnung, aber der dumpfe Trieb der Selbsterhaltung war stärker. Wenn er hinabsah nach den Felsen, die senkrecht zum Fluß abfielen, war ihm, als müsse er loslassen, seine Leiden mit einem Male zu enden; dann dachte er wieder an seines Vaters letzten Wunsch und seine Hände klammerten sich fester an das Seil, bis er am Fuße des Turmes stand. Atemlos lauschte er in die Nacht. Sollte er es wagen, zum Pferdestall vorzudringen? Es war unmöglich; vom Burghof her tönte wilder Gesang aus rauhen Kehlen, das alte Sturmlied der Hussiten: »Die ihr Gottes Krieger seid« . . . . da wußte er, wie der Kampf geendet hatte. 22

Zwischen Felszacken und Geröll gings zum Flusse hinab. Von einem Steine sprang er auf den andern, jetzt war er drüben am andern Ufer; niemand verfolgte ihn; sicher hatten sie ihn für tot gehalten, als er bewußtlos auf der Diele der Turmstube lag. Der Sturm riß an seinem Wams, griff in sein Gesicht mit kalten Fingern, peitschte ihm den Regen entgegen; er fühlte es nicht. Noch einmal wandte er sich um; eine dicke Rauchsäule stieg von der Burg empor, rot durchleuchtet von den Flammen des brennenden Palas; fern im Osten graute der Nebel, ein eisiger Schauer kündete den Morgen an nach der furchtbarsten Nacht seines Lebens.

Und weiter gings durch Gehölz und Gestrüpp, durch Sumpf und Brombeerdickicht, immer in der Richtung, wo er die Stadt Iglau wußte, bis er endlich beim Meiler Jaromirs todmüde zusammenbrach.

* * *

Der Köhler, der am nächsten Morgen in die Kammer seines Gastes trat, fand ihn schon angekleidet. Nach dem Frühstück wurde beraten, was weiter mit dem Flüchtling geschehen sollte.

»Nun sagt an, Junker: wie bringen wir Euch in die Mauern der guten Stadt Iglau? Habt Ihr Geleitbrief oder Urkund, daß sie Euch das Tor öffnen?«

Dieter verneinte.

»Der Torwart ist mein Freund, aber er darf Euch doch nit einlassen, maßen er strengen Befehl von der Stadtobrigkeit hat.« 23

Da war guter Rat teuer. Die Stadt Iglau lag hart an der böhmischen Grenze und war ein sehr wichtiger Stützpunkt für den König, der sie scharf überwachen ließ. Endlich kam dem Köhler ein Gedanke:

»Am Johannistag feiern sie in Iglau das Berghäuerfest. Versucht es und schließt Euch dem Festzug an, da könnt Ihr vielleicht mit den andern am Abend hineinschlüpfen. Der Torwart wird nicht nachzählen, ob einer mehr im Zug ist.«

»Berghäuerfest? Was deutet der Name?«

»Die Bergknappen ziehen mit der ganzen Zunft zur Barbarakapelle, bringen dort den Tag mit Schmausen, Tanz und Musik im Grünen zu und kehren bei Sonnenuntergang wieder in die Stadt zurück. Machet Euch bekannt mit ihnen, setzet ein Kränzel auf den Kopf, als gehörtet Ihr mit zum Festzug, da werden sie Euch wohl einlassen.«

»Euer Rat ist gut. Aber wie soll ich mich sehen lassen unter fröhlichen, geputzten Menschen, da mir gar nicht froh zumut und zudem mein armes Wams arg schmutzig ist?«

Und er blickte traurig auf den schönen Samt, der allerdings verschiedene böse Spuren der eiligen Flucht und nächtlichen Wanderung an sich trug.

»Lebte meine arme Frau noch, die Anna, die hätt' es fein hergerichtet. Was tut's? In Iglau gibt's Schneidermeister genug, da könnt Ihr Euch ein neues kaufen, noch schöner als das alte und einen Gürtel, mit Schellen behangen, und Schnabelschuhe und was sonst noch alles just in der Mode ist.«

Dieter lächelte bitter. Die paar Goldstücke, die er ins Wams genäht bei sich trug, mußten wohl zu ernsteren 24 Zwecken dienen als zu dergleichen Geckentand. Wieder kam ein Gefühl der Verlassenheit über ihn. Er, der in der Freiheit ritterlichen Lebens aufgewachsen war, fürchtete sich vor der Stadt mit ihren engen, düsteren Gassen, ihren dumpfigen Stuben und fremden Menschen, die den Junker sicher nicht willkommen heißen würden. Starre Schranken trennten die Stände, der Ritter war dem städtischen Bürger verhaßt. Aber was blieb ihm übrig? Es war der einzige Ort, wo er sein Schicksal schmieden konnte. Und seine Hoffnung rankte sich um den König, den ritterlichen Luxemburger, von dem sie sagten, daß er noch keinen Bittenden ohne Hilfe und Trost von sich gelassen, daß er die Güte und Leutseligkeit selbst sei mit seinen strahlenden Augen und roten Wangen und seiner trotz der Fülle der Jahre noch immer schlanken und beweglichen Gestalt.

So zog denn in der Morgensonne des Johannestages eine kleine Gruppe der Stadt entgegen: der Köhler mit seinem Wagen, von Triglaff gezogen, der in den kühlen Wind hineinbellte, und Dieter im knappen, schmucken Wams, das so gut ausgebessert war, als Männerfinger das eben zustande bringen.

Sinnend hing der Blick des Jünglings an den plumpen Türmen der Jakobskirche, die mehr und mehr aus dem Gewirr der Häuser hervortrat. Auf ihrer weitschauenden Höhe lag die Stadt mit Zinnen, Wehrgängen und Türmchen, geschmückt mit vergoldeten Knäufen und Fähnlein; sie glich von ferne der Burg eines Riesenkönigs. Schwärme von Tauben schwebten wie weiße Wolken über den Dächern hin und her; schwarz und drohend hob sich unweit der Mauer der Stadtgalgen. Nun begann eine 25 Glocke zu singen, tief und feierlich, andere folgten in höheren Ton, das Rathausglöcklein bimmelte hastig dazwischen wie das Gebell eines Hündleins. »Was bergen deine Mauern für mich, du fremde, bunte Stadt?« fragte Dieter leise. Aber es geschah kein Zeichen, das ihm Antwort gab.

Vor der Kapelle machten sie halt.

»Noch eine Stärkung zu Eurer Fahrt, Junker«, sagte Jaromir und holte Brot und Rauchfleisch aus den unergründlichen Tiefen seines ledernen Schnappsackes. »Esset nach Lust, Eure Wangen sind noch immer bleich und mager. Und daß ich Euch allewege Gutes wünsche da drinnen, das könnt Ihr mir glauben.«

Da erinnerte sich Dieter seines kleinen Schatzes und nestelte ein Goldstück heraus, das er dem Köhler für Kost und Herberge aufdrängen wollte. Aber der Wlk wurde beinahe böse:

»Laßt das, Junker, werdet Euer Geld für Euch selber nötig haben. So wir uns aber nochmals sehen sollten in diesem Leben und Ihr mir einen Dienst leisten könnt, werd' ich Euch schon mahnen. Hier meine Hand darauf.«

Und Dieter legte seine Finger in die plumpe Tatze des Wlk und sagte treuherzig:

»Sei es denn in Gottes Namen! Es gibt doch noch gute Menschen auf dieser Welt.«

Aus dem mächtigen Stadttor, dessen Fallgitter unter dem Gerassel der schweren, über Rollen laufenden Ketten langsam emporgestiegen war, kam jetzt ein bunter Zug. Voran ritt ein Herold auf einem schwarzen, reichgeschmückten Pferde, zur Seite bewaffnete Stadtknechte, die scharfen Ausguck 26 nach allen Seiten hielten, ob kein feindlicher Überfall zu befürchten sei; ihnen folgte eine Musikbande mit Pfeifen, Flöten und Trommeln, dann die Zunftmeister und Geschworenen mit der von vier Knappen getragenen Lade; ein Fahnenjunker in großen Schaftstiefeln schwenkte die Innungsfahne mit dem Bilde der heiligen Barbara; dann kamen Bergknappen mit Grubenleder, Haue, Schurzfell und Lampen. Ein Trupp vermummter Gestalten mit roten und schwarzen Stofflarven, in eine phantastische Römertracht gekleidet, schloß den Zug. Springer, Gaukler und fahrendes Volk lief mit, Purzelbäume schlagend und lustige Lieder singend. Die bunte Schlange wand sich die Straße empor und verschwand in der kleinen gotischen Kapelle, deren Torflügel offen standen.

»Nun lebt wohl, Junker! Und wenn Ihr in Iglau Unterschlupf suchet, geht in die Herberge zum ›Blauen Schwan‹ auf dem Hauptplatze, Ihr werdet sie leicht am Schild erkennen. Hört Ihr die Glocke? Der Markt beginnt. Gott befohlen!«

Der Wagen rollte der Stadt zu. Schwächer erklang das Gebell Triglaffs und bald war Dieter allein – allein mit seinen Sorgen und Gedanken, seiner Furcht und Hoffnung.

Das fahrende Volk, dem der Eintritt in die Kirche versagt war, trieb sich während der Messe im Walde herum und zerstreute sich durch allerlei Kurzweil. Einzelne kamen in Dieters Nähe und guckten neugierig nach dem jungen Menschen. Da war ein Dudelsackpfeifer, ein dicker, grauhaariger Kerl mit einer grünen Gugelkappe, der seinen Mund zu einem kleinen schwarzen Loch zusammenzog und beständig pfiff und pustete; hie und da blies er 27 eine kurze Melodie auf seinem Instrument und wippte den Takt mit den Füßen, die in arg geflickten, grellroten Schnabelschuhen steckten. Seine Begleiterin, ein braunes Weib mit blitzenden Augen und blendend weißem Gebiß, strich eine Fiedel und summte ein schwermütiges slawisches Volkslied dazu. Das wunderliche Paar blieb vor Dieter stehen, als wolle es ihm ein Ständchen bringen. Er winkte mit der Hand und deutete an, daß er keine Fortsetzung dieses Kunstgenusses wünsche.

Das Weib aber ging auf ihn zu, mit der stolzen, aufrechten Haltung einer Königin:

»Lasset Euch die Zukunft lesen aus Eurer weißen Hand, edler Junker.«

Dieter wollte sie abweisen; aber in einem geheimen Winkel des Herzens regte sich doch etwas wie Neugier. Stand er nicht an einer bedeutungsvollen Wende seines Lebens? Sie hatte seine Hand ergriffen und verfolgte aufmerksam das Netz der bläulichen Adern.

»Euch drückt ein schwerer Kummer das Herz. Hier steht geschrieben, daß Euch der Tod einen lieben Verwandten geraubt hat. Ist es nicht so?«

»Allerdings«, stammelte Dieter verwirrt.

»Manche Widerwärtigkeit werdet Ihr erleben; Feinde werden Euch verfolgen und Freunde mit Undank lohnen; aber am Ende steht ein stilles Glück, ein schöner Besitz und eine liebe Hausfrau.«

»Ach, laß doch den Unsinn«, sagte Dieter und wurde rot.

Da mischte sich der alte Sackpfeifer in das Gespräch:

»Die Kunst meiner Tochter ist kein Unsinn. Fraget weit herum im Lande, edler Herr, ob die Prophezeiungen 28 der schwarzen Božena nicht alle in Erfüllung gegangen sind.«

»Ich weiß noch mehr«, sagte sie geheimnisvoll. »Sehet dies Dreieck in der Innenfläche der Hand! Das bedeutet: Goldes Glanz wird Euch enttäuschen, aber der schwarze Ritter bringt Euch Glück und Ruhm.«

»Was soll das nun wieder?« fragte Dieter kopfschüttelnd und entzog ihr seine Hand.

»Mehr darf ich nicht verraten. Ich sage Euch: folget dem schwarzen Ritter.«

»Schon gut«, erwiderte Dieter ungeduldig. Das Weib begann ihm lästig zu werden. »Da habt Ihr Euren Sold und nun weissagt andern die Zukunft.«

Er reichte ihr ein Geldstück. Aber sie rührte sich nicht.

»Božena nimmt kein Geld«, sagte sie stolz. »Aber wenn Ihr meinen Vater unterstützen wollt . . . . .«

Der Dudelsackpfeifer griff mit einer tiefen Verbeugung nach der Münze, betrachtete sie auf beiden Seiten, steckte sie in den Leibgurt und wandte sich dem Walde zu, zwischen dessen Stämmen seine Tochter bereits wie ein Schatten verschwunden war.

Eine alberne Prophezeiung, dachte Dieter. Daß mir allerlei Sorgen im Kopf herumgehen, kann wohl jeder auf meinem Gesichte lesen; um mir neue Kämpfe zu künden, braucht man just keine Wahrsagerin zu sein; und einen lieben Verwandten hat gar mancher durch den Tod verloren in dieser Zeit des Krieges und der Pest. Und dennoch hatten die Worte des Weibes Eindruck auf ihn gemacht. »Folget dem schwarzen Ritter« – wie sie ihn dabei durchbohrend angeblitzt hatte mit ihren dunklen Augen! 29

Die Messe war zu Ende. Lachend und plaudernd wanderten die Festgäste am Waldrand hin und her; auch Frauen und Mädchen waren dabei. Sie pflückten Wiesenblumen, wanden sie zu Kränzen und setzten sie auf; wohlgefällig betrachtete sich da und dort ein schmuckes Mädchen in dem Spiegel, der an einer dünnen Kette an ihrem Gürtel hing. Die Sänger stimmten die Lauten; an schattiger Stelle ordnete man sich zum Reigen, die Spielleute fiedelten, ein langsamer, gemessener Tanz begann. Unterdessen breiteten die Knappen große Tücher unter den hohen Bäumen aus und trafen Vorbereitungen für das Mahl im Freien. Kupferkessel brodelten auf offenem Feuer, ein Fäßchen Bier wurde angeschlagen.

Das bunte Treiben zog Dieter von seinem Grübeln ab. Also das waren die Bürgersleute, von denen er in der väterlichen Burg oft genug mit Geringschätzung hatte sprechen hören; Pfeffersäcke und Beutelschneider nannte sie der Vater, der in hartem Kampf mit ihnen gelegen war, als die Partei des Markgrafen Jodokus von Mähren mit den Städtern gegen die Ritterschaft gemeinsame Sache machte und es bei einem Ausfall der Bürger zu einer förmlichen Schlacht vor den Stadttoren kam. Aufmerksam musterte der Jüngling die fremden Gestalten; ihre Kleidung war bunt und auffallend, rot und grün und blau schimmerte das Tuch in der Sonne, die Mäntel und Röcke waren mit Zacken und Falten geziert; jeder trug voll Stolz seinen Staat zur Schau und brachte ihn zur Geltung, wenn er sich zierlich im Reigen drehte.

Aber auch drüben hatte der fremde Junker in seiner Rittertracht die allgemeine Aufmerksamkeit erregt. 30 Neugierige und mißtrauische Blicke flogen zu ihm herüber; und als das Mahl begann und Trommeln und Pfeifen eine lärmende Tafelmusik vollführten, während große zinnerne Humpen Bier und Wein die Runde machten, trat ein älterer Mann zu ihm und bot ihm einen Becher:

»Tut uns Bescheid, junger Herr. Ihr sitzet hier weidlich auf dem Trockenen, und wir von der Berghäuerzunft können niemanden dürsten sehen.«

Dieter, dem daran gelegen sein mußte, sich mit den Städtern auf guten Fuß zu stellen, nahm dankend den Becher:

»Ich trinke auf das Blühen und Gedeihen der guten Stadt Iglau – und auf Euer Wohl, Herr . . . .«

»Zunftmeister«, ergänzte der Alte mit Würde und sah Dieter forschend an. »Gewiß habt Ihr Geschäfte in der Stadt?«

»Geschäfte? Freilich wohl,« erwiderte Dieter, der sich dem fremden Menschen nicht anvertrauen mochte. zögernd, »aber sagt mir, was bedeutet denn dieses Fest?«

»Da kann ich Euch wohl belehren, Herr: es ist eine Erinnerung an die Gerechtsame, so uns der König Wenzel von Böhmen gegeben, als er anno 1249 in harter Fehde mit seinem Sohne, dem Markgrafen Premysl Ottokar, lag. Da haben wir Iglauer Bergleute dem König brav geholfen und das schwere Wurfzeug bedient und so viele Steine und Balken gegen die Prager Burgfeste geschleudert, daß sich der Markgraf letztlich hat ergeben müssen; und zum Dank hat der König der Stadt Iglau ein eigenes Stadt- und Bergrecht gegeben und unsere Zunft mit vielen Freiheiten ausgestattet. Drum wird zu dauerndem Gedächtnis alljährlich unser Waldfest gefeiert.« 31

»Da habt Ihr wohl dem König Sigismund auch geholfen in der Hussitennot?«

»Das will ich meinen!« rief der Alte und schlug sich auf die Brust. »Was wär' aus dem Luxemburger geworden ohne uns? Sieben Jahr sind's nun her, da berannte der Ziska unsere Stadt; ich seh' ihn noch vor mir, als wär's gestern gewesen, den dicken, stämmigen Kerl in seiner polnischen Tracht, mit dem braunen Knebelbart und der scharfen Nase – sie führten ihn auf einem Wagen, er war blind und sah doch schärfer als alle seine Unterfeldherren zusammen; ich sag Euch, Junker, das war ein böser Tag und eine blutrote Nacht, unsere arme Stadt brannte lichterloh auf drei Seiten, aber wir haben dennoch ausgehalten und der Ziska mochte toben wie ein Wilder, er kam doch nicht herein. Haben wir damals nicht selber, ob uns auch schier das Herz im Leibe verbluten wollt', unsere schönen Silbergruben verschüttet, damit sie der Hussit nicht finden soll? Freilich, nun ist's für lange Zeit vorbei mit dem Iglauer Bergsegen und Gott mag wissen, wann wir wieder schürfen können. Aber das soll uns heute nicht die Festfreude stören. Kommt mit mir zum Tanzplatz, Junker, ich sehe dort ein paar Mägdlein, die gucken zu Euch herüber, und es will mich bedünken, daß sie noch einen Tänzer brauchen.«

»Ach, mir ist wahrlich nicht ums Tanzen«, sagte Dieter, den der fröhliche Lärm erst recht traurig stimmte.

»Schämt Euch, so junges Blut und Trübsal blasen! Wartet, bis Ihr zu meinen Jahren gekommen seid. Und bei Gott, auch ich alter Knabe freue mich noch an Gesang und Wein und Tanz, an dem letzteren freilich nur als Zuschauer. Kommt!« 32

Er hatte ihn untergefaßt und führte den leise Widerstrebenden auf die Festwiese; es half ihm nichts, er mußte sich in den Reigen einfügen.

»Wer ist der Fremde?« fragte ein Geschworener, der die Szene beobachtet hatte.

»Ein Kavalier für meine Töchter und ein guter Tänzer, wie Ihr seht. Weiter weiß ich nichts von ihm.«

»Ihr seid gar zu vertrauensvoll, Zunftmeister. Wisset Ihr denn nicht einmal seinen Namen? Tut nicht gut, solch fremdes, anmaßendes Junkergezücht unter unseren Frauen und Mägdlein!«

»Ach, wer wird ein paar junge Tanzbeine nach ihren Stammbaum fragen – reicht mir einmal die Kanne herüber.«

»Ich kann nun einmal dieses Rittervolk nicht leiden«, brummte der Geschworene, indem er argwöhnisch jede Bewegung Dieters verfolgte. »Wie macht's der Igel, unser Wappentier, wenn ihn im Walde ein Feind bedroht? Er rollt sich zusammen und streckt seine Stacheln als Lanzen vor. So haben wir auch getan damals, vor zwanzig Jahren, als der Jodokus im Bund mit uns gegen das Raubgesindel zog . . . .«

»Ach, laßt doch die alten Geschichten!«

»War ein junger Kerl und rannte mit so einem gepanzerten Krebs zusammen – hei, wie mein Streitkolben dem großen Ritterpferd gegen die Stirnplatte fuhr, das gab eine Musik! Sicher hätt' ich ihn erschlagen, hätten seine Knappen ihn nicht herausgehauen. Mit offenem Visier hat er gekämpft, als wollt' er uns verhöhnen . . . .«

»Ja, ja«, sagte der Zunftmeister. Er hörte die Geschichte heute zum fünfzigstenmal. 33

»Kurz und gut, der Henker mag mich holen, wenn der junge Fant dort nicht dieselben Augen hat.«

Der Zunftmeister horchte nicht mehr hin; sein Blick hing an dem Stadttor, aus dem jetzt ein stattlicher Mann in reicher Kleidung herausritt, gefolgt von einigen Gewappneten. Sie schlugen die Richtung nach der Festwiese ein.

»Seht mal dorthin, Gevatter – ist das nicht Herr Kaspar Schlick?«

»Der Kanzler! Der Kanzler des Königs!« rief man da und dort. Eine frohe Erregung ergriff die Versammlung.

»Wahrhaftig, er ist's«, sagte der Geschworene, indem er die Hand über die Augen legte, um besser zu sehen. »Wie stolz er daherreitet, als wär er eines Fürsten Sohn. Hat man je gehört, daß ein Bürger in deutschen Landen so mächtig geworden?«

In der Tat – ein geheimnisvoller Glanz umgab den Mann, der sich vom Sohne eines schlichten Tuchhändlers in Eger zum Ratgeber des Königs aufgeschwungen hatte und als der erste Laie, Jahrhunderte altem Brauch zum Trotz, eine führende Stellung in der Reichskanzlei besaß.

Die Musikanten bliesen Tusch. Der Reiter sprang vom Pferd und warf einem Knecht den Zügel hin:

»Lasset euch in eurer Fröhlichkeit nicht stören,« rief er den sich tief verneigenden Geschworenen zu, »ich komme im Auftrag meines gnädigsten Herrn . . . .«

»Langes Leben dem König Sigismund!« erklang es im Chor und lautes Beifallsgeschrei erhob sich, das ebenso dem Kanzler als dem Luxemburger galt; denn es ging die Rede, daß so manche gute und vernünftige Regierungsmaßregel des Königs auf Rechnung Kaspar Schlicks zu setzen war. 34

»Gerne wäre er selbst unter seinen getreuen Untertanen erschienen; ihm ist gar wohl beim Tanzen und bei schönen Frauen. Aber wichtige Staatsgeschäfte haben ihn zurückgehalten, doch entbietet er euch seinen gnädigen Gruß!«

Wieder erschollen Heilrufe. Der Geschworene zog ein schiefes Maul:

»Ei was, gnädiger Gruß – wenn er uns nur nicht so schwer auf dem Stadtsäckel läge. Der viele Wein und der Hafer für die Rosse, die Spenden an Wild und Küchenspeise, Gewürz und Fischen, nicht zu gedenken des großen Pokals aus Iglauer Silber, mit Goldstücken bis zum Rand gefüllt – man kann ihm nicht genug zinsen und kein König hat noch so unchristlich viel Geld verbraucht wie er. Geht er denn nicht bald nach Welschland?«

Das alles war so leise gesprochen, daß es nur die nächsten Nachbarn hören konnten; und auch die sahen sich vorsichtig um, ehe sie zur Bestätigung mit den Köpfen nickten.

Da hub der Kanzler zum dritten Male an:

»Auf daß aber die Freude noch vollkommener werde, gibt der König heute abends im Rathauskeller ein großes Faß Bier zum besten.«

Diesmal war der Jubel am lautesten. Nicht einmal der verdrießliche Geschworene hatte etwas einzuwenden.

Kaspar Schlick ließ seine klugen, lebhaften Augen über die Versammelten gleiten. Er war ein schöner Mann, nicht viel über dreißig Jahre alt; mancher Frauenblick hing voll Bewunderung an ihm.

Der Zunftmeister reichte ihm einen schaumgekrönten Bierhumpen zum Willkommtrunk. 35

»Das laß ich gelten; der Ritt hat mich gewaltig durstig gemacht. Euer Wohl, ihr Herren!«

Er trank in großen Zügen und wischte sich den Schaum von der bärtigen Lippe.

»Nun will ich mir euer Fest ansehen. Wer wie ich seit frühem Morgen in der Kanzlei mit langweiligen Akten sich herumgeschlagen, bedarf einer kleinen Erheiterung. Sieh da, welch reizende Frauen und Mädchen! Darüber muß ich dem König berichten. Tanzet nur weiter, liebe Kinder, freuet euch eurer Jugend!«

Aber der Reigen stockte; man drängte sich vor, man hob sich auf den Zehenspitzen – alle wollten den Kanzler sehen. Plötzlich rief jemand:

»Ein Lied! Herr Schlick ist ein Freund des Gesanges.«

Aber die Knappen, die vorhin manchen lustigen Stollen in den Wald geschmettert hatten, weigerten sich; ihre Kunst wäre zu armselig für das feine Ohr eines so hohen Herrn. Sie deuteten auf Dieter:

»Dort der Junker soll singen! Der weiß gewiß ein schönes Lied!«

Dieter erschrak; aber sein Sträuben half ihm nichts, man stellte ihn auf einen Rasenhügel und gab ihm eine Laute in die Hand; sie hielten es für selbstverständlich, daß ein Junker spielen und singen könne.

Mechanisch griff er ein paar Akkorde auf der Laute; es war ein schönes, mit Silber und Schildpatt eingelegtes Instrument, ähnlich demjenigen, das er auf der väterlichen Burg sein eigen genannt und auf dem ihm der gute Pater Altmann Unterricht gegeben. »Ist eine brotlose Kunst, das Singen und Quinquilieren,« schalt der Waffenmeister, 36 »Reiten und Fechten wird Euch mehr nützen im Leben!« Blitzartig zuckten die Erinnerungen durch seinen Kopf; er sah wie durch einen Nebel hindurch die vielen fremden Gesichter, die stattliche Gestalt des vornehmen Herrn; der lehnte an einem Baumstamm und musterte den hübschen, blassen jungen Menschen, der da droben stand wie ein Bürger einer anderen Welt.

Und plötzlich fügten sich ihm Wort und Weise; er fuhr in die Saiten und sang das schöne alte Lied Herrn Walters von der Vogelweide:

»Müget ihr schauen, was dem Maien
Wunders ist beschert?
Seht an Pfaffen, seht an Laien
Wie das alles vêrt,
Groß ist sîn Gewalt,
Ine weiß ob er zaubern künne.
Sver er vêrt mit seiner wünne
Denn ist niemand alt.«

Sie lauschten in tiefer Ergriffenheit den lieblichen Versen und der Kanzler nickte und strich seinen schönen, dunkelbraunen Bart. Da kam es Dieter in den Sinn, daß dieser Mann dort der nächste bei dem Kaiser und wohl imstande wäre, ihm den Weg zu bahnen, den er gehen mußte; und indem er seine Augen auf ihn richtete, sang er die zweite und dritte Strophe bis zu dem prächtigen Schluß:

»Du bist kurzer, ich bin langer,
Also stritens uf dem anger
Bluomen unde klê.« 37

»Was für ein seltener Vogel ist euch denn da zugeflogen?« fragte Kaspar Schlick, als Gesang und Beifall verstummt war. »Der sieht wohl nicht aus wie ein fahrender Sänger.«

»Es ist ein fremder Junker, Herr«, antwortete der Zunftmeister. »Ich glaube, er hat Geschäfte in unserer Stadt.«

Kaspar Schlick trat zu Dieter, der noch immer die Laute in der Hand hielt und vor sich hinsann.

»Ein schönes Lied habt Ihr gesungen; wer hat Euch denn unterwiesen in der längst vergessenen Kunst der alten Minnesänger?«

»Meine Mutter selig hat die Lieder Herrn Walters von der Vogelweide sehr geliebt. In alten Büchern fand sie die Weise und sie ließ nicht ab, bis Ton und Wort sich ihr zu eigen gab. Ja, Herr, ich weiß noch die schöne Zeit, da klang unsere Burg wieder von Tandaradei und Lautenschlag; da lernt' ich das Singen und Reimen schier von selber.«

»Und jetzo seid Ihr von der Höhe herabgestiegen in die Niederung des Bürgertums? Wollet am Ende einheiraten in die Zunft der Berghäuer, wie?«

Stolz richtete sich der Junge empor:

»Das wird ein Dieter von Wolfstein, dessen Ahnen mit Kaiser Barbarossa zum heiligen Grabe zogen, wohl nie tun!«

»Ei, ei, nicht so hoffärtig, Junker«, sagte Kaspar Schlick, indem er Dieter mit überlegenem Lächeln auf die Schulter klopfte. »Auch ich bin aus bürgerlichem Stamm und bin stolz darauf. Und ich weiß manchen Ritter, der Hab und Gut und Ehre verloren hat durch allzu große Anmaßung.« 38 Dieter senkte errötend den Kopf; er fühlte, daß er, von seinem Ungestüm fortgerissen, wieder einmal zu weit gegangen war. Wie schwer war es doch, sich in die Welt zu fügen, in der andere Sprache und andere Sitte galt als in dem stillen Waldwinkel, der seine Jugend behütet!

»Wollt' Euch just nicht kränken,« begütigte der stattliche Herr, »Ihr scheint mir von guter Art und jungen Leuten hilft man ja gerne in den Sattel. Wie ich höre, habt Ihr in Iglau Freunde?«

Da faßte sich Dieter ein Herz:

»Leider habe ich dort noch keinen Freund . . . . Ach, ich hätte eine große Bitte an Euch, Herr Kanzler.«

»Und die wäre?«

»Ihr vermöget so viel bei des Königs Majestät – helfet mir, daß er mir sein Ohr leiht. Ich habe eine Botschaft an ihn, von der meine Zukunft abhängt. Wollt Ihr mir Zutritt zu ihm verschaffen?«

Kaspar Schlick sah ihn forschend an:

»Muß erst selber wissen, um was es sich handelt. So mancher drängt sich an den König; wer bürgt mir für Euch?«

Aber Dieter hielt den Blick ruhig aus:

»Bei Gott, ich will nichts von Euch und nichts von des Königs Majestät, das ich bei meiner Ehre nicht verantworten kann.«

»Euer Name?«

»Dieter von Wolfstein.«

»Wolfstein,« wiederholte der Kanzler nachdenklich, »die Wolfsteiner haben wohl immer treu zum Lande gehalten. . . . Nun, ich will's versuchen, aber Ihr müsset mir klaren 39 Wein einschenken, junger Mann, sonst schlägt Euch die Sache zum Verderben aus. Ich kenne den König, er ist argwöhnisch und im Zorn so furchtbar wie weiland sein Bruder Wenzel.«

»Ich vertraue auf seine Gerechtigkeit.«

Der Kanzler reichte ihm die Hand:

»Gut. Aber hier ist nicht der Ort, über dergleichen Dinge zu reden. Kommt heute Abend in den Ratskeller. Bis dahin Gott befohlen!«

Er wandte sich wieder zu den Zunftherren, plauderte noch ein wenig mit ihnen und ritt dann in die Stadt zurück.

Als die Sonne tief im Westen stand, ging's unter Pfeifen- und Trommelmusik heimwärts. Leichteren Herzens, von niemandem angehalten, schritt Dieter durch das Tor, das schon im dunklen Schatten lag und ihn doch viel gastlicher dünkte als zur Zeit des hellen Vormittags.

Der Zug ging bis auf den großen, gepflasterten Marktplatz, wo er sich auflöste. Man wollte abends im Ratskeller wieder zusammentreffen und bei Tanz und Schmaus das Fest zu Ende feiern.

Bald hatte Dieter die Herberge zum »Blauen Schwan« gefunden, ein großes, freundliches Haus an der Schmalseite des Platzes. Er ließ sich sein Zimmer anweisen, fand es aber in dem kleinen Raum mit der niedrigen Balkendecke so schwül, daß er beschloß, noch ein wenig in der Stadt herumzuschlendern, bevor er sich in den Ratskeller begab.

Noch glühten die hohen, schmalen Hausgiebel im letzten Schein der sinkenden Sonne, während das Erdgeschoß schon im Dunkel lag. Alte Leute saßen plaudernd auf den 40 Steinbänken neben den Haustüren und genossen die Abendkühle; an Tür und Fenster zeigten sich Mädchen, Grüße und Scherzreden empfangend und erwidernd; da und dort scholl frohes Gelächter, kleine Neuigkeiten flogen hin und her über die enge Gasse. Vor einem Wirtshaus saßen zechende Burschen und sangen zur Laute; Mädchen mit Wasserkrügen gingen zum Brunnen, der aus langer Bleiröhre sein klares Wasser in das steingefaßte Becken sprudelte, und erzählten sich eifrig die Ereignisse des Tages. Die Krüge füllten sich, längst floß das Wasser über den Rand, aber die kleinen Plaudertaschen wollten nimmer leer werden, bis eine scheltende Matrone das lachende Volk auseinanderjagte. Aus einer Seitengasse kam dumpfes Brüllen von Rindern; Knechte mit langen Peitschen trieben das Stadtvieh heim.

Dieter war noch nie in einer Stadt gewesen. Er begriff nicht, daß so viele Menschen auf einem so engen Raum ihr ganzes Leben zubringen konnten; und sie taten ihm leid, wie sie da beisammen hockten in den steinernen Röhren der gepflasterten Gassen und von der blauen Unendlichkeit des Himmels nichts zu sehen bekamen als den schmalen Streifen zwischen den Dächern. Wie armselig und beschränkt mußte hier das Leben verfließen, ohne Schwung und Schönheit; und doch ahnte er, daß dieses Geschlecht voll Willenskraft war, fleißiger, tatkräftiger als die Menschen von seiner Art. Nun wurden die Gassen so eng, daß man sich aus den Häusern hüben und drüben die Hände reichen konnte. In einem vorspringenden Erker hatte ein Schuster seine Werkstatt aufgeschlagen und hämmerte trotz der zunehmenden Dunkelheit eifrig an 41 einem Schuh herum. Neben dem Häuschen wuchs ein Fliederstrauch. Unwillkürlich blieb Dieter stehen. Es war die Stunde, wo alle Blumen stärker duften und der Schatten vergangener Dinge in der Seele emporsteigt; er dachte an die Fliederlaube im Zwingergarten, wo ihn die Mutter als kleinen Buben oft auf ihren Armen emporgehoben hatte, mitten hinein in die schweren violetten Blütentrauben, die mit kühlen Fingern seine Wangen streichelten. »Mutter«, flüsterte er ganz leise und seine Augen wurden feucht. Drinnen in der Werkstatt hörte das Klopfen auf, der Schuster steckte den Kopf aus dem Fenster und guckte den fremden jungen Menschen an, der seinen Fliederstrauch zu bewundern schien. »Ei ja, ist das ein Meisterstück des lieben Gottes, so ein blühender Baum! Und der Duft ist so stark, daß ich oft kaum schlafen kann des Nachts, wenn ich der Hitze wegen das Fenster offen halten muß. Nehmt Euch ein paar Blüten mit, junger Herr, wenn sie Euch so gut gefallen, sie bringen Glück!« Mit diesen Worten hatte er schon einen schönen Blütenzweig abgebrochen und ihn Dieter gereicht, der sich freundlich bedankte. »Und wenn Ihr neue zierliche Schnabelschuhe braucht, mit langen Spitzen und schön mit Rauchwerk verbrämt, so denkt an den Meister Schimke. Gute Nacht!« Er setzte sich wieder auf den Schemel und klopfte seine Schuhsohle.

Dieter nahm das kleine Erlebnis als gutes Vorzeichen und wanderte weiter. Ein bemaltes Haus fesselte seine Aufmerksamkeit; der Pinsel des geschickten Meisters hatte einen Reigen tanzender Kinder an die Vorderwand gezaubert und über dem Fenster des kleinen Erkers stand 42 ein Sinnspruch. Während er bemüht war, die krausen gotischen Buchstaben zu entziffern, öffnete sich die Scheibe und ein Mädchen blickte ungeduldig die Gasse hinauf und hinab. Das feine Gesicht mit den großen, dunklen Augen war rot vor Aufregung. »Wo nur der abscheuliche Schlingel steckt?« rief sie und schlug zornig mit der kleinen Hand auf das Fensterbrett. Plötzlich bemerkte sie Dieter; ihre Wangen färbten sich noch tiefer und sie machte eine Bewegung, als wollte sie das Fenster schließen; dann aber besann sie sich und fragte: »Habt Ihr nicht einen Gärtnerburschen mit einem Korb voll Blumen gesehen?« »Nein«, war die Antwort. »Zu dumm«, jammerte die Kleine, »ich kann doch ohne Blumenschmuck nicht zum Feste gehen!« »Aber Margaret, Kind, was hast du denn?« tönte die tiefe Stimme einer alten Frau aus dem Hintergrunde des Zimmers. »Schickt sich das, zum Fenster hinauszusprechen? Und noch dazu mit einem Fremden?« Sie schob das Mädchen zur Seite und blickte argwöhnisch auf Dieter hinab. »Suchet Ihr etwan jemanden in unserer Gasse, junger Herr?« fragte sie. »Das nicht,« erwiderte Dieter mit höfischer Verneigung, »aber höre ich recht, so wünscht das Fräulein Blumen; darf ich ihr vielleicht diese bescheidenen Fliederblüten anbieten?« Während die überraschte Alte sich noch besann, ob sie die Gabe eines Unbekannten annehmen sollte, hatte Margaret schon eine kleine schmale Hand nach dem Strauß ausgestreckt und ihn voll Freude ergriffen. »Schönen Dank«, lachte sie und warf das Fenster zu.

Dieter wartete eine Weile, aber nichts rührte sich; endlich fiel sein Blick wieder auf den Sinnspruch oberhalb des Erkers und nun las er langsam die Worte: 43

»Niemand soll sein Trauern tragen langer,
Denn bis der ungefüge Schnee zergeht;
Das mögt ihr schauen an dem grünen Anger,
Der in mancherhande Blüte steht.«

Die heiteren Verse schienen ihm ein gutes Zeichen. Er wandte sich und ging festen Schrittes durch verlorene Gassen und Gäßchen zum Rathaus.

 


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