Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

64 Der Hunger

Als die beiden Jäger und der Gambusino an das Ufer des Stromes gekommen waren, bemerkten sie bald, daß es nicht weit von der Stelle, wo sie herabgestiegen waren, einen viel weniger beschwerlichen Weg gab, der sich vom Gipfel der Felsen bis zur Oberfläche des Flusses hinschlängelte.

»Das ist ohne Zweifel der Weg, den diese Schelme mit ihrem Gefangenen eingeschlagen haben, und unten an diesem Pfad muß man ihre Spuren suchen.« »Ich wundere mich nur darüber«, antwortete Bois-Rosé und untersuchte aufmerksam den Ort, »daß Fabian, den ich doch als so ungestüm kenne, gutwillig und ruhig diesen steilen Abhang herabgestiegen ist. Dieses Gesträuch, dieser Wermut trägt keine Spur eines Widerstands von seiner Seite.«

»Hättest du es lieber gesehen, wenn er sich von der Höhe dieser Felsen mit denen, die ihn umringten, herabgestürzt hätte?«

»Nein, gewiß nicht, Pepe«, antwortete Bois-Rosé; »aber du hast es ebensogut wie ich gesehen, daß er damals, wo er sich beinahe im Salto de Agua zerschmettert hatte, weder auf die Zahl derjenigen, die er verfolgte, noch auf den Abgrund, über den er zu Pferd setzen mußte, Rücksicht nahm, und darum hat diese passive Unterwürfigkeit von seiner Seite etwas Beunruhigendes für mich. Der Junge war ohne Zweifel verwundet, vielleicht sogar ohnmächtig, und das erklärt mir ...«

»Ich sage nicht nein«, unterbrach ihn Pepe; »deine Meinung ist ziemlich wahrscheinlich.«

»Mein Gott! Mein Gott!« rief Bois-Rosé kummervoll. »Warum muß dieses Ungewitter jede Blutspur weggewaschen, alle Eindrücke zerstört und verwischt haben? Es wäre ohne das so leicht gewesen, sie wiederzufinden und sich von so vielen Dingen, die wir notwendig wissen müssen, Rechenschaft zu geben. Habt Ihr nicht bemerkt, Gayferos, ob Blut an dem schwimmenden Hut gewesen ist?«

»Nein«, sagte der Gambusino, »ich war zu weit entfernt. Jene Felsen, auf denen ich mich befand, sind zu hoch, und der Tag wurde düster.«

»Wenn ich es für gewiß annehme, daß er keinen Widerstand geleistet hat, weil er verwundet war, würde das nicht beweisen, daß Don Fabian in den Händen dieser Schurken so gut ist wie die Hoffnung auf ein reiches Lösegeld, so daß sie sich wohl die Mühe gegeben haben, ihn in ihren Armen bis in ihr Kanu zu tragen?«

Bois-Rosé nahm mit dankbarem Blick diese wahrscheinliche und tröstliche Voraussetzung des spanischen Jägers auf.

In der Tat war Fabian durch den Stoß seines Kopfes gegen den flachen Stein, der mit ihm herabrollte, ohnmächtig geworden und während der langen Ohnmacht in das Kanu getragen worden. Ein Indianer hatte sich zwar seines Hutes bemächtigt, diesen aber wegen seines Alters verächtlich ins Wasser geworfen.

Bis zu diesem Augenblick hatten sich die Jäger also in keinem ihrer Schlüsse betrogen und fuhren, obgleich sie nicht wußten, daß sie beinahe die ganze Wahrheit erraten hatten, nichtsdestoweniger in ihren Nachforschungen mit neuem Eifer fort. Sie gingen also an dem Teil des Flusses nicht stromauf, denn das Wasser in ihm schien stehend zu sein, sondern drangen bis zur Öffnung auf ihrer rechten Seite vor. An dieser Stelle war das Wasser nicht tiefer als zwei Fuß und Schilf bedeckte fast überall den Grund.

Ein plötzlicher Gedanke fuhr Bois-Rosé durch den Kopf; er lief zu dem engen Kanal und verschwand unter dem düsteren Gewölbe.

Während dieser Zeit untersuchten Pepe und Gayferos ihrerseits die Ufer, die Gesträuche bis zur Oberfläche des Wasser; nichts jedoch bewies, daß hier menschliche Wesen seit der Erschaffung der Welt vorübergekommen seien. Ein Hurra Bois-Rosés, dessen Stimme in dem unterirdischen Kanal wie der Donner rollte, rief sie zu ihrem Gefährten.

Der Kanadier hatte nicht ohne Grund ein Triumphgeschrei ausgestoßen. Tiefe Spuren waren noch auf dem schlammigen Boden unverletzt geblieben; die einen halb von Wasser bedeckt, das aus der Erde hervorquoll, die anderen deutlich bestimmt und wie in die feuchte Erde hineingeformt, boten sie sich von allen Seiten den Augen der beiden Jäger und des Gambusinos dar. Das war die Stelle, wo Main-Rouge und Sang-Mêlé ihr Kanu angebunden hatten!

»Ah«, rief Bois-Rosé aus, »wir werden jetzt nicht mehr auf gut Glück umherirren! Gott verzeihe mir – was sehe ich denn dort zwischen dem Schilf? Ist es ein trockener Schilfstengel oder ein Stück Leder? Sieh doch her, Pepe, denn die Freude trübt meine Augen.«

Pepe nahm, einige Schritte durch das Wasser machend, einen Gegenstand auf, den er dem alten Jäger zeigte. »Es ist ein Stück von einem ledernen Riemen, mit dem das Kanu an diesen Stein angebunden war und den die Schelme zerschnitten haben, anstatt ihn aufzuknüpfen«, sagte der Spanier; »und da ich einmal hier bin, so will ich doch noch ein wenig weiter unter diesem Gewölbe vordringen, denn es ist mir, als ob ich in einiger Entfernung etwas wie einen Streifen halbdunklen Lichtes auf der Oberfläche des Flusses zittern sehe.«

Pepe ging vorsichtig bis ans Knie im Wasser weiter zu dem Ort hin, wo in der Tat der Tag mit zweifelhaftem Glanz am äußersten Ende des unterirdischen Kanals zu leuchten schien. Wie groß war seine Überraschung, als er die Büschel von Binsen und Schilf zurückschlug und sein Blick über einen See flog, dessen Gestalt ihm bekannt war. In der Tat bildete der Kanal unter dem Felsen eine Verbindung mit dem See des Val d'Or.

Pepe kam zurück, um dem Kanadier seine Entdeckung mitzuteilen, obgleich sie jetzt ohne irgendwelche Wichtigkeit war. Bois-Rosé konnte jedoch sich nicht enthalten, seinem Schmerz bei dem Gedanken Luft zu machen, daß der Körper des Indianers, der vom Gipfel der Felsen unter seiner Kugel herabgestürzt war, ihm dieses dicht bei ihnen in den See mündende Gewölbe entdeckt und ihm wie durch die Macht der Vorsehung einen Weg, um mit Fabian und Pepe zu entkommen, angedeutet hatte, ohne daß er den Gedanken gehabt hatte, es zu benützen.

»Und hier«, schloß er, sich vor die Stirn schlagend, »würden wir dieses Kanu gefunden haben, um aus diesen Bergen herauszukommen, indem wir nur ganz einfach dem Lauf des Wassers folgten!«

»Folgen wir ihm also zu Fuß«, rief Pepe aus, »und wir werden zu gleicher Zeit in die Spuren dieses verfluchten Mestizen treten!«

»Vorwärts! Benützen wir den Augenblick, wo der Hunger noch nicht unsere Füße erstarrt und unser Gesicht geschwächt hat. Vor Sonnenuntergang werden wir schon eine ziemliche Strecke Weges zurückgelegt haben.«

Bei diesen Worten setzte sich Bois-Rosé mutig in Bewegung, obgleich er nur von solchen unbestimmten Anzeichen unterstützt wurde; seine beiden Gefährten folgten ihm. Ihr Marsch war anstrengend, denn sie mußten den Fluß entlang die abschüssigen Ufer ersteigen, die ihn einengten, und Felsen erklimmen, die ihn überragten. Ein einziges Ereignis war in den ersten Stunden bemerkenswert: Es war dies die Auffindung des Strohhutes des armen Fabian, den der ungestüme Wind des Ungewitters vor sich hergetrieben hatte und der, an den dornigen Zweigen eines Gebüsches hängend, unter dem Lufthauch hin und her schwankte.

Bois-Rosé untersuchte mit tränenschweren Augen diesen ihn so schwermütig stimmenden Überrest des Kindes, das er zum zweitenmal verloren hatte. Übrigens ließ sich keine Spur von Blut daran erblicken. Der Kanadier band ihn an sein Wehrgehänge, wie es ein Pilger mit einer heiligen Reliquie gemacht hätte, und setzte schweigend seinen Marsch fort.

»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Pepe, der sich seinerseits Mühe gab, die Traurigkeit, die ihn überfiel, von sich abzuschütteln; »wir haben seinen Dolch und seinen Hut gefunden – Gott wird uns auch ihn selbst finden lassen!«

»Ja«, sagte der Kanadier mit düsterer Miene; »und außerdem, wenn wir ihn nicht wiederfinden ...«

Bois-Rosé beendete seine angefangene Rede in Gedanken. Der alte Waldläufer dachte ganz im stillen an jene unsichtbare Welt, wo sich diejenigen wiederfinden, deren gegenseitige Liebe noch jenseits des Grabes fortdauern muß, ohne daß sie sich jemals wieder trennen müßten.

Obgleich die Sonne noch ziemlich weit vom Horizont war, hinter dem sie verschwinden sollte, so erlosch doch allmählich der Tag unter dem über den Bergen dicht angehäuften Nebel, als die drei Wanderer an einen Ort kamen, wo das Wasser eine Art von Strudel bildete, der nach des Kanadiers Versicherung ohne Zweifel dadurch gebildet wurde, daß in der Nähe ein anderer Arm sich mit dem Fluß vereinigte.

Bois-Rosé hatte nicht ganz unrecht; aber anstatt eines Zusammenflusses waren zwei vorhanden, und der Strom, dem sie bis jetzt gefolgt waren, war nur durch einen zu hohen Wasserstand beim Zusammenfluß der Ströme entstanden und verlängerte sich rückwärts mehrere Meilen weit bis zu dem See, von dem sie aufgebrochen waren.

Die kleine Truppe machte an dieser Stelle halt. Eine neue Ungewißheit stellte sich ihnen dar. Welche Richtung hatte das Kanu eingeschlagen? War es der Arm des Flusses, der nach Osten, oder war es derjenige, der nach Westen floß? Die drei Männer beratschlagten, ohne einen bestimmten Entschluß fassen zu können. Sie suchten überall eifrig nach einer Spur, die sie auf den rechten Weg bringen könnte. Die graue, düstere Oberfläche der Gewässer und das an den Ufern murmelnde Schilf konnten ihnen auch nicht die unbestimmteste Andeutung geben.

Dann brach die Nacht unter einer Decke undurchsichtigen Nebels traurig und schwarz herein; selbst der Polarstern glänzte nicht mehr am Himmel, dessen Gewölbe aus Blei zu bestehen schien. Man mußte sich entschließen, die ferneren Nachforschungen bis zum Anbruch des Tages aufzuschieben und hier bis zur Morgenröte zu bleiben, um nicht möglicherweise einen falschen Weg einzuschlagen. Die Müdigkeit war auch ein Hindernis für den Marsch, und der Hunger begann, ohne daß es einer dem anderen gestanden hätte, nicht bloß, sich fühlbar zu machen, sondern auch wahrhaft unerträglich zu werden.

Alle drei legten sich schweigend ins Gras, aber ihre geschlossenen Augenlider forderten vergeblich den Schlaf heraus.

In dem ständigen Kampf zwischen der Zerstörung und dem Leben, dessen Schlachtfeld der menschliche Körper ist, gibt es einen schrecklichen Punkt, wo der Schlaf vor dem nagenden Hunger entflieht, wie sich der Hirsch bei der Stimme des Jaguars entsetzt und das Weite sucht. Dann macht das Leben eine letzte, äußerste Anstrengung; der Schlaf gießt endlich über den erschöpften Körper einige stärkende Tropfen aus, und von dieser Zeit an geht die Zerstörung mit raschen Schritten vorwärts, und die hinfällige menschliche Maschine unterliegt bald den Angriffen des inneren Feindes, der an ihr nagt.

Die drei Wanderer waren nun erst bis zu jener Periode des inneren Kampfes gekommen, wo der Hunger lange den Schlaf verjagt, der der letzte sein soll; denn die Schläfrigkeit, die noch rascher eintritt, ist nichts weiter als der Todeskampf. Erst nachdem sie sich oft auf ihrem Rasenbett hin und her gewälzt hatten, konnten die drei Wanderer die Augen einige Stunden lang schließen; und trotzdem wurde das Schweigen der Nebelberge zu verschiedenen Malen durch ein Angstgeschrei gestört, das die Schläfer im Traum ausstießen.

Ringsum war noch tiefe Nacht, als sich Bois-Rosé schweigend erhob. Trotz der Angriffe des Hungers fühlte der kanadische Riese, daß seine Kräfte sich noch nicht vermindert hatten, daß aber die Stunden kostbar wären. Er warf einen traurigen Blick auf die düstere, ihn umgebende Landschaft; auf diese öden Berge, deren Zacken keinem belebten Wesen Schutz zu bieten schienen; auf den Fluß mit schwarzen Gewässern, in deren Schoß die Bewohner tief in ihren Zufluchtsorten schliefen. Er überzeugte sich sehr bald, daß der Hunger der einzige Gast dieser Einöden wäre, und weckte den spanischen Jäger.

»Ach, du bist es Bois-Rosé?« fragte Pepe, die Augen öffnend. »Kannst du mir irgendeine Nahrung zum Ersatz für den Traum geben, dem du mich entreißt? Ich träumte ...«

»Wenn man ein Werk vor sich hat, wie das ist, das uns zu tun noch übrigbleibt, so sind die Stunden zu kostbar, um zu schlafen!« unterbrach ihn Bois-Rosé mit feierlichem Ton. »Wir haben kein Recht, den Schlaf dieses Mannes zu stören«, fügte er, auf Gayferos deutend, hinzu; »er hat keinen Sohn zu retten. Aber wir, wir müssen Tag und Nacht marschieren.«

»Das ist wahr; aber wohin marschieren?«

»Jeder nach seiner Richtung. Du an den Ufern des einen Stromes, ich an denen des anderen; untersuchen, überall nach Spuren umherblicken, dann uns hier beim Anbruch des Tages wieder vereinigen – das ist es, was uns zu tun obliegt.«

»Welche Trostlosigkeit herrscht um uns her!« sagte Pepe mit leiser Stimme und schauderte unter dem ersten Anfall von Entmutigung, die sich unmerklich in sein Herz schlich.

Der Kanadier besaß noch seine ganze stolze, durch die Not noch nicht gezähmte Kraft und bemerkte nicht, daß die Energie seines Gefährten einen Augenblick geschwankt hatte.

Pepe seinerseits hatte bald seinen sorglosen Mut zurückgerufen. »Hast du irgendeinen Gedanken in dieser Beziehung?« fügte er schnell hinzu.

»Ja. Als ich zum erstenmal das Boot dieser beiden Männer, die uns so verderblich sind, für einen schwimmenden Baumstamm hielt, segelte es gerade nordwestlich um die Spitze dieser Berge. Es muß also gerade denselben Windstrich benutzt haben, um zurückzukehren. Hätte ich mitten in diesem Nebel die Stelle unterscheiden können, wo die Sonne untergegangen ist, so würde ich dich sogleich auf den rechten Weg bringen; aber nicht einmal der Polarstern glänzt am Himmel! Wenn du also nach einem einstündigen Marsch nicht die Ebene vor dir erblickst, so komm zu mir hierher zurück – ich werde sie dann ohne Zweifel gefunden haben.«

Die beiden Jäger entfernten sich jeder nach seiner Seite und verloren einander bald aus den Augen.

Der skalpierte Gambusino schlief noch, und als er endlich erwachte, bemerkte er, daß er allein war. Staunen und Unruhe jedoch waren bei ihm nur von kurzer Dauer; Pepe kehrte bald zu ihm zurück. Die ersten Strahlen des Tages mußten schon die Ebene erleuchten, obgleich unter dem Nebel der Berge die Morgendämmerung kaum begonnen hatte.

Pepe war zurückgekehrt, nachdem er dem Lauf des Flusses mitten durch eine ununterbrochene Reihenfolge von steilen Felsen, drohenden Abhängen und hohen Hügeln gefolgt war; das Boot hatte also diese Richtung nicht eingeschlagen, soviel man es wenigstens aus dem Mangel jeglichen Anzeichens schließen konnte, das sicherer gewesen wäre als die Voraussetzungen des Kanadiers. Es kam jetzt nur darauf an, zu wissen, ob dieser glücklicher gewesen war.

Eine weitere halbe Stunde war noch nicht verflossen, als Bois-Rosé ebenfalls zurückkehrte. »Vorwärts!« rief er aus der Ferne, sobald er nur seine beiden Gefährten erblickte. »Ich bin auf dem einzig richtigen Weg!«

»Gott sei gelobt!« sagte Pepe. Und ohne den Kanadier weiter zu befragen, setzte er sich in Bereitschaft, diesem mit soviel Schnelligkeit zu folgen, als ihm die Schwäche erlaubte, die er zu fühlen anfing.

Der Tag war in dem Augenblick angebrochen, als die kleine Schar endlich sah, wie der Fluß breiter wurde, mitten durch eine unermeßliche Ebene floß und die Strahlen der Sonne auf der Oberfläche der Gewässer funkelten. Der Kanadier ging voraus, dem Anschein nach unempfindlich gegen die Schmerzen des Hungers, die ihn nicht weniger als seine beiden Gefährten peinigten. Diese folgten ihm etwas entfernt voneinander; Pepe zuerst, indem er vergeblich versuchte, einen kriegerischen Marsch zu pfeifen, um seinen Magen auf andere Gedanken zu bringen; der Gambusino folgte zwanzig Schritt hinter dem Spanier und schleppte sich unter erstickten schmerzlichen Seufzern fort.

Nachdem sie eine Stunde gegangen waren, rief der Kanadier, der immer vorausging, Pepe zu, an den Ort zu kommen, wo er haltgemacht hatte. Es war dies unter einer Gruppe von großen Bäumen, mitten im hohen, trockenen Gras, das der Jäger nur mit der Hälfte seines Körpers überragte. »Lauf doch!« rief Bois-Rosé mit einem Ton lustigen Vorwurfs aus. »Man sollte meinen, du hättest deine Beine in den Bergen vergessen!«

»Sie sind in offener Empörung gegen mich, meine Beine«, antwortete Pepe. Und er sah, wie der Kanadier sich niederbückte und im Gras verschwand.

Als er Bois-Rosé erreicht hatte, fand er ihn auf dem Boden kniend, wo er mit der größten Sorgfalt neben den Resten eines Feuers, von dem noch einige Brände rauchten, zahlreich verstreute Spuren untersuchte.

»Der Gewitterregen«, sagte der Kanadier, »durch den die Spuren in den Bergen verwischt waren, hat diese hier bewahrt, weil sie, anstatt vor dem Regen gemacht zu sein, in den Boden gedrückt sind, den er schon erweicht hatte. Sieh diese Schritte, deren Spuren schon unter der Sonnenhitze hart wurden – sind das nicht die von Main-Rouge und Sang-Mêlé und von seinen Indianern?«

»Wahrhaftig, dieser Räuber aus Illinois hat Büffelfüße, die man leicht unter Hunderten erkennen kann; aber ich sehe nicht die Spur des armen Fabian!«

»Ich preise darum den Himmel nicht weniger, daß er uns hierher gebracht hat. Wir haben nirgends den Marterpfahl oder die Spuren eines Mordes bemerkt. Glaubst du, daß die Räuber, während sie hier die Nacht zubrachten, sich Vorwürfe daraus gemacht haben werden, Fabian geknebelt in ihrem Kanu liegen zu lassen? Das ist der Grund, warum keine Spur von dem armen Jungen da ist!«

»Das ist wahr, Bois-Rosé; ich glaube fast, ja ich fühle sogar, daß der Hunger mir den Kopf verwirrt macht. Ah, die Schelme! Die Räuber!« rief Pepe plötzlich mit einem Ausbruch tobender Wut aus, die den Kanadier erbeben ließ. »Siehst du? Die Teufel«, fuhr Pepe fort; »sie haben gegessen, sie haben ihren Magen mit Hirsch- oder Rehbraten gefüllt, während ehrliche Christen wie wir nicht einmal die Knochen abnagen können, sofern wir uns nicht mit dem, was diese Hunde übriggelassen haben, begnügen wollen!«

Während Pepe diese Verwünschungen ausstieß, trat er mit einer Mischung von Verachtung und Eßlust auf die noch mit Muskeln und Fetzen von Fleisch bedeckten Knochen. Der Gambusino holte sie in diesem Augenblick ein und fiel, weniger stolz als der Spanier und der Kanadier, gierig über diese Überreste her.

»Wenn man alles bedenkt, so hat er recht; unser Stolz ist vielleicht nur eine Dummheit!«

»Es ist möglich; aber ich will lieber vor Hunger sterben, als das Leben den übriggebliebenen Brocken dieses Gewürms verdanken!«

Da die beiden Jäger nun über die Richtung, die sie einschlagen mußten, mit sich einig waren, so ließen sie Gayferos seine Rehknochen mit gewissenhaftem Enthusiasmus abnagen, um unter dem Gras nach einigen eßbaren Wurzeln zu suchen, von denen sie auch eine kleine Anzahl fanden und mit deren Hilfe sie ihren Hunger auf einige Augenblicke wenigstens täuschen konnten.

Die kleine Schar setzte sich wieder am Fluß hinunter in Marsch. Büffelspuren zeigten sich auf allen Seiten, Scharen von Drosseln und wilden Gänsen begannen nach den kälteren Seen zu wandern und flogen durch die Luft; Fische sprangen aus dem Wasser und zeigten einen Augenblick ihre in der Sonne glänzenden Schuppen, zuweilen durchliefen auch Elentiere oder Damhirsche springend ihr wüstes Gebiet – mit einem Wort: Himmel, Erde und Wasser schienen ihre Reichtümer nur darum vor den Augen der verhungernden Wanderer auszubreiten, um sie lebhafter den Verlust ihrer Feuerwaffen fühlen zu lassen! Es war die bei jedem Schritt erneuerte Strafe des Tantalus.

»Geh nicht so rasch, bei allen Teufeln!« rief Pepe aus, der schon seit einigen Augenblicken hinter dem Kanadier wie ein Heide fluchend herging. »Laß mich überlegen, wie wir Jagd auf diese prächtigen Büffel machen können, die wir dort unten sehen.«

»Laß uns zuerst den Räubern Fabians ihre Waffen entreißen«, sagte Bois-Rosé. »Wir sind in einer wundervoll geeigneten Stimmung, um mit Erfolg zu kämpfen! Der Hunger wird binnen jetzt und einigen Stunden wütende Tiger aus uns machen; laß uns nicht bis zu dem Augenblick warten, wo er uns in einen Zustand versetzen kann, der so schwach ist, wie der der Lämmer, die fern von ihrer Mutter blöken.«

In dieser Art legte der frühere Grenzjäger, der vor dem Gedanken nicht erschrak, nur mit dem Dolch in der Hand so furchtbare Feinde anzugreifen, wie diejenigen waren, die sie alle drei verfolgten, noch einen langen und beschwerlichen Tagesmarsch zurück. Er unterlag jedoch auf diesem bald einer unüberwindlichen Erstarrung, die mit jeder Stunde des Marsches wuchs. Immer wurde er vom Kanadier unterstützt und wieder vorwärts getrieben.

Was Bois-Rosé anlangt, so schien es, als ob seine athletische Gestalt, seine Riesenkraft und vor allem das unauslöschliche Feuer seiner väterlichen Liebe einen Mann aus ihm machten, der für die physischen Schwächen der Menschheit ganz unzugänglich war. Sein Herz war indes darum nicht weniger um Fabians Schicksal besorgt, aber es schien wie die Leber des Prometheus jeden Augenblick glühender unter den Bissen des Geiers zu wachsen, der es zerfleischte.

Die Sonne neigte sich noch nicht merklich gegen den Horizont, als Bois-Rosé mehr aus Mitleid mit Pepe als wegen seiner eigenen Ermüdung am Ufer des Red River, dem sie schon so lange folgten, haltmachte.

Ihnen gegenüber lag eine von den Inseln mitten im Fluß, mit denen dieser bedeckt ist. Die drei Wanderer bemerkten den Schatten darauf, sahen die bis auf das Wasser herabhängenden Lianen, die sich üppig in das Laub der sich domartig über die Insel wölbenden Bäume mischten, und empfanden dabei nur noch den erhöhten Schmerz von unglücklichen Verhungerten. Es war einer von jenen Zufluchtsorten, von denen der Wanderer in der Steppe träumt, um dort das Feuer zum Mahl anzuzünden und nach befriedigtem Hunger den Schlaf zu genießen, der zuletzt seine Kräfte wiederherstellt. Nach der Handvoll Maismehl, von der die beiden Jäger vor vierundzwanzig Stunden ihren Anteil verzehrt hatten, war dies der zweite Tag auf dem Marsch, den sie fast nüchtern beschlossen. Gayferos war ein wenig durch das karge Mahl gestärkt, das er beim Feuer der Indianer gefunden hatte, und hatte darum noch nicht allen Mut verloren; der Spanier auch noch nicht, aber seine Kräfte empörten sich gegen seinen Willen.

Bois-Rosé konnte sich nicht verhehlen, daß Pepe in jenen kritischen Zeitpunkt eintrat, wo die Zerstörung einen schrecklichen Vorsprung über das Leben gewinnt, und daß seine kräftige Leibesbeschaffenheit ihn kaum vor einem ähnlichen Schicksal bewahrte. Er machte also, nachdem sie sich ungefähr eine Stunde ausgeruht hatten, den Versuch, mit seinen beiden Gefährten den unterbrochenen Marsch fortzusetzen. Es war vergeblich; aus den leeren Eingeweiden des armen Pepe stiegen blendende Lichtbilder in seinen Kopf und machten seine Augen fast blind, die noch gestern an Schärfe mit denen des Falken wetteiferten.

»Meine Füße haben keine Kraft mehr«, antwortete der Spanier auf die ermunternde Anrede des Kanadiers; »es scheint sich alles vor meinen Augen im Kreis herum zu drehen. Überall um mich her sehe ich Fische spottend aus dem Fluß springen, Damhirsche stehen vor mir und schauen mich an! Was soll auch«, fügte der Grenzjäger mit einem letzten Blitz seiner spöttischen Lustigkeit hinzu, »ein Jäger ohne Gewehr anderes sein als der Spott der Büffel und der Damhirsche?« Und Pepe streckte sich auf den Sand nieder wie der vom Windhund eingeholte Hase, der seinen Tod erwartet.

Der Kanadier sah ihn an und unterdrückte einen Seufzer. »Ach«, sagte er mit Bitterkeit, »was ist doch der tatkräftigste Mann dem Hunger gegenüber?«

»Und der Beweis davon ist«, fuhr der Spanier fort, »daß ich in der Steppe Dinge bemerke, die für dich unsichtbar sind; ich glaube nämlich in der Ferne einen Büffel zu sehen, der auf uns zukommt.«

Der Kanadier heftete immer noch seinen schwermütigen Blick auf denjenigen, dessen Verstand unter den Angriffen des Hungers schwach zu werden begann. Er sah jedoch, wie Pepes Augen sich starr auf einen Punkt richteten.

»Nicht wahr, du siehst ihn nicht?«

Bois-Rosé hielt es nicht der Mühe wert, sich umzuwenden.

»Nun, ich sehe ihn, diesen verwundeten Büffel, der auf mich zukommt und Wellen von Blut verliert, Wellen hochroten Blutes, viel schöner noch als der schönste Purpur der Abendröte. Es ist, als ob Gott ihn schickte. um mich vom Hungertod zu retten«, fuhr der ehemalige Grenzjäger fort, dessen Augensterne zu funkeln begannen. Plötzlich stieß er eine Art von Gebrüll aus. stand mit einem Sprung auf den Füßen und stürzte schnell wie der Blitz fort.

Bois-Rosé hatte diese Bewegung Pepes – so plötzlich war sie gewesen! – nicht verhindern können. Entsetzt bei dem Gedanken, daß der frühere Grenzjäger vom Wahnsinn befallen sei, wandte er sich um, ihn mit den Augen zu verfolgen, konnte aber ein Gebrüll wie das des Spaniers nicht zurückhalten.

Ein ungeheures, seltsames Tier, viel größer noch als der stolzeste gezähmte Stier, sprang in weiten Sätzen mitten durch die Ebene, die es mit seinem Blut rötete. Eine ungeheure schwarze Mähne wallte um seinen Kopf, und darin rollten zwei flammende Augen wie zwei Feuerkugeln, während der kräftige Schweif seine Weichen peitschte.

Es war ein verwundeter Büffel. Und Pepe stürzte auf ihn zu wie ein ausgehungertes wildes Tier.


 << zurück weiter >>