Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

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2 Der Alkalde und sein Schreiber

Niemand erfuhr, wie lange Pepe in Erwartung der Rückkehr des Fremden auf seinem Posten geblieben war. Jedenfalls, als der Hahnenschrei sich hören ließ und die Morgendämmerung den Horizont zu lichten begann, war die kleine Bucht der Ensenada vollständig vereinsamt.

Jetzt schien das Leben im Dorf wieder zu erwachen. Undeutliche Schatten zeichneten sich auf den steilen Fußpfaden ab, die zur Mole hinunterführten. Die von den Wellen geschaukelten Schiffe wurden von ihren Seilen losgemacht, und das erste Tageslicht beleuchtete die Abfahrt der Fischer. Kaum waren einige Minuten vergangen, so war die kleine Flotte im Morgennebel verschwunden, und Frauen und Kinder erschienen auf den Türschwellen und verschwanden dann wieder. Das einzige von den armseligen Wohnhäusern des Dorfes, das seine Läden noch nicht dem Licht des Morgens geöffnet hatte, war das des Alkalden von Elanchove, von dem wir schon gesprochen haben.

Es war heller Tag, als ein junger Mann mit einem abgenutzten, schmutzigen Hut, der an verschiedenen Stellen wie lackiertes Leder glänzte, auf dieses Haus zuschritt. Eine Hose, die so kurz war, daß man sie eine Kniehose hätte nennen können; so eng, daß sie wie ein Regenschirmfutteral aussah; und so abgenutzt, daß sie auch in den Hundstagen nicht zu warm gewesen wäre, schützte seine Beine nur mangelhaft vor der scharfen Kälte eines Novembermorgens.

Dieser junge Mann klopfte an die Tür des Alkalden. Sein Gesicht war kaum zu sehen; er trug einen jener kleinen Mäntel von langwollenem, grobem Tuch, die man »Esclavina« nennt, und dieser reichte ihm bis an die Augen. Nach der parteiischen Art und Weise, mit der er bei der ungleichen Teilung, zu der ihn die Winzigkeit dieses Mantels nötigte, seine Beine auf Kosten seines Oberkörpers unbedeckt ließ und den höheren Teil seiner Person bedachte, schien er vollständig mit seiner Hose zufrieden zu sein.

Aber der Schein ist sehr trügerisch. In Wirklichkeit ging der Traum dieses Burschen, dessen falsche Augen, elendes Ansehen und ein gewisser Geruch nach altem Papier den Escribano verrieten, auf den Besitz eines Pantalons, der ganz verschieden war von dem seinigen: nämlich auf eine lange, weite und kernhafte Kleidung. Ein Pantalon, der diese drei Eigenschaften in sich vereinigte, schien ihm gegen die Leiden des Lebens eine undurchdringliche Hülle, gegen das Unglück ein unverletzliches Asyl zu sein. Dieser junge Mensch war die rechte Hand des Alkalden; sein Name war Gregorio Cayatinta.

Bei dem bescheidenen Schlag mit dem hörnernen Schreibzeug, das er kreuzweise übereinandergelegt trug, an die Tür des Alkalden von Elanchove kam eine alte Frau und öffnete.

»Ach, Ihr seid es, Don Gregorio«, sagte die Alte mit jener spanischen Höflichkeit, mit der zwei sich begegnende Schuhputzer sich das »Don« der Granden erster Klasse erteilen.

»Ja, ich bin es, Doña Nicolasa«, erwiderte Gregorio.

»Jesus Maria! Euer Kommen erinnert mich, daß ich sehr saumselig gewesen bin ... Und mein Herr wartet auf seine Beinkleider. Nehmt Platz, Don Gregorio, es wird nicht lange dauern.«

Das Zimmer, in das der Escribano geführt wurde, würde unermeßlich erschienen sein, wenn nicht in jeder Ecke Netze von verschiedener Größe, Mastbäume, Segelstangen, Segel in allen Formen – von viereckigen bis zum lateinischen –, Steuer von Booten, Ruder und wollene Hemden in bunter Unordnung aufgehäuft gelegen hätten. Aber dank diesem Chaos blieb kaum Platz genug übrig, um einen oder zwei Stühle um einen großen eichenen Tisch zu stellen, auf dem ein Schreibzeug aus Kork seine drei fest in ihre Löcher geklebten Federn emporstarren ließ, mitten unter einigen schmutzigen Papieren, die nur zur Prahlerei ausgelegt schienen vielleicht auch, um die Beschauer in Schrecken zu setzen. Es war beim Anblick dieses Kapernaums schwer, sich nicht so ziemlich eine Vorstellung zu machen von dem Geschäft, dem sich der Alkalde – abgesehen von seiner öffentlichen Stellung – widmete. Wirklich lieh er auf kurze Zeit gegen hohe Zinsen – bis zu einem Real für den Piaster, was ganz einfach monatlich zwanzig fürs Hundert oder jährlich zweihundertvierzig fürs Hundert beträgt –, und da seine Klienten nur aus Fischern bestanden, so war dies die Quelle jener Sammlung von nautischen Werkzeugen, die den Audienzsaal des Alkalden versperrten.

Cayatinta warf nur einen zerstreuten Blick auf all diesen Trödelkram, unter dem sich kein einziger Pantalon befand; er war darum auch keiner bösen Versuchung ausgesetzt; denn wir müssen es nun gestehen: seine zweifelhafte Rechtschaffenheit würde vielleicht einer so furchtbaren Prüfung nicht widerstanden haben. Der Escribano war nicht von dem Teig, aus dem der rechtschaffene Mann gemacht ist. Die Natur, die immer vom Einfachen zum Zusammengesetzten übergeht, hatte nicht Zeit gehabt, aus ihm noch einen ordentlichen Spitzbuben zu machen; es ist wahr: Er stand in der Blüte seiner Jugend.

Don Ramon ließ nicht auf sich warten; seine lustige und offenherzige Persönlichkeit erschien bald auf der Schwelle seines Schlafzimmers. Er war ein starkgebauter und kräftiger Mann, und man begriff leicht, daß aus einem Paar seiner Beinkleider zwei Pantalons für den mageren und schwächlichen Escribano gemacht werden konnten.

»Hilf Himmel, Herr Alkalde«, sagte dieser, nachdem er eine Menge von Morgenbegrüßungen gegeben und empfangen hatte, »welche prachtvollen Beinkleider habt Ihr da an!«

»Mein Freund Gregorio«, antwortete der Alkalde mit einem Gesicht voll guter Laune, »Ihr werdet langweilig mit Euren Wiederholungen. Zum Henker! Gibt es denn weiter nichts an meiner Person als meine Beinkleider, um die Ihr mich beneidet?«

Cayatinta stieß einen Seufzer aus und antwortete mit der Miene eines gierigen Hundes, der nach einem Knochen lüstern ist: »Es würde ein Wunder nötig sein, um mir Eure persönlichen Vorzüge zu geben; aber Eure Beinkleider – das ist etwas anderes. Zwei Ellen Tuch von Segovia würden alles beseitigen.«

»Geduld, Geduld, Herr Escribano! Ihr wißt, daß ich Euch zur Vergeltung der Dienste, die Ihr mir leisten wollt – ich sage nicht, der Dienste, die Ihr mir geleistet habt –, meine rotfarbigen Beinkleider versprochen habe, wenn sie nur erst ein wenig abgetragen sind. Ich denke daran; denkt Ihr daran, sie zu verdienen!«

»Was muß ich dazu tun?« sagte der Escribano mit einer verzweifelten Miene. »Der Einsatz ist nicht gleich. Ihr wagt so wenig im Vergleich zu mir!«

»Ei, mein Gott, man weiß nicht«, entgegnete der Alkalde; »es können solche Umstände eintreten, die Euch plötzlich das Übergewicht über mich geben.«

»Ja, aber es können auf der anderen Seite auch Umstände eintreten, die mit einem Schlag Euren Beinkleidern den Wert nehmen!«

»Doch wir werden ja sehen. Auf zum Geschäft«, sagte der Alkalde, um die Beschwerden Gregorios kurz abzuschneiden, »wir wollen den Expropriationsakt hinsichtlich des Bootes eines schlechten Zahlers, dieses Vicomte Perez, vornehmen, der nur unter dem Vorwand, sechs Kinder ernähren zu müssen, zur bestimmten Frist die zwanzig Piaster, die ich ihm geliehen habe, nicht wieder bezahlt hat.« Mit diesen Worten nahm Don Ramon einen halbzerrissenen Strohstuhl, um sich an den Tisch zu setzen.

»Nehmt diesen hier«, fiel der Escribano lebhaft ein, indem er ihm einen lederbedeckten Stuhl reichte, den der Gebrauch wie Mahagoni geglättet hatte; »Ihr werdet darauf viel weicher sitzen.«

»Und meine Beinkleider auch«, antwortete der Alkalde mit schlauer Miene.

Cayatinta holte aus seinem Schreibzeug ein aufgerolltes, gestempeltes Blatt Papier. Schon machte er sich ans Werk, als eilige Schläge an der Tür widerhallten, die die beiden Gerichtspersonen, um nicht unterbrochen zu werden, geschlossen hatten.

»Wer, zum Henker, kann denn so anklopfen?« fragte der Alkalde.

»Ave Maria purissima!!« sagte eine Stimme draußen. »Sin pecado concebida«, antworteten zugleich die beiden. Und bei dieser heiligen Formel öffnete Gregorio die Tür.

»Was kann zu dieser Stunde wohl Don Juan de Dios herführen?« rief der Alkalde mit erstaunter Miene beim Anblick des tiefen Kummers, der der glühenden Stirn des Hausmeisters der Gräfin von Mediana aufgeprägt war.

»Ach, Herr Alkalde«, erwiderte der Greis, »welch großes Unglück ist diese Nacht geschehen; ein großes Verbrechen ist begangen worden ... Die Gräfin ist verschwunden und der junge Graf mit ihr.«

»Aber seid Ihr dessen gewiß?« schrie der Alkalde.

»Ach, wir brauchen nur auf den Balkon zu steigen, der nach dem Meer hinausgeht – wie wir das schon getan haben, als wir keine Antwort von der gnädigen Frau erhielten –, und zu sehen, in welchem Zustand die Mörder ihr Zimmer gelassen haben.«

»Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Herr Alkalde, schickt alle Eure Alguazils aus!« rief, noch in einiger Entfernung, eine Frauenstimme. Es war die Kammerfrau der Gräfin, die es für das beste hielt, um so stärker zu schreien, je weniger sie ergriffen war von einem so unbegreiflichen Ereignis, als sie sich in den Audienzsaal des Alkalden stürzte.

»Ta! Ta! Wie Ihr doch sogleich darauf losgeht!« sagte dieser. »Glaubt Ihr denn, daß ich so sehr viele Alguazils habe? Ihr wißt recht gut, daß ich nur zwei habe; und noch dazu sind diese, da sie in diesem tugendhaften Dorf, wenn sie nur ihrem Amt obliegen sollten, vor Hunger sterben würden, heute morgen zum Fischen gefahren.«

»Ach, mein Gott«, schrie schluchzend die Kammerfrau, »meine arme Herrin! Wer soll ihr helfen?«

»Geduld, Frau, Geduld!« sagte Don Ramon. »Zweifelt niemals an der Justiz; vielleicht kommt eine plötzliche Kundgebung von oben herab.«

Die Kammerfrau hielt es nicht für gut, sich durch diese Hoffnung trösten zu lassen, und verdoppelte ihr Geschrei. Bei dem Lärm, den ihr geheuchelter Schmerz machte, während der alte Juan de Dios nur traurig den Kopf senkte und ganz leise einen furchtbaren Richter um Hilfe anrief, hatte sich eine zahlreiche Gruppe von Frauen, Greisen und Kindern auf der Schwelle des Hauses des Alkalden gesammelt und drang nach und nach in das Heiligtum der Justiz ein.

Don Ramon Cochecho näherte sich Cayatinta, der sich unter seiner Esclavina die Hände rieb bei dem Gedanken an alles gestempelte Papier, das man beschreiben würde, und sagte zu ihm: »Aufgepaßt, Freund Gregorio, der Augenblick ist da; und wenn Ihr geschickt seid, so kann das rotfarbige Beinkleid ...«

Er sagte nichts weiter; aber Cayatinta begriff, denn er erbleichte vor Freude, und ohne das geringste Zeichen seines Patrons zu übersehen, hielt er sich bereit, die erste Gelegenheit, die sich zeigen würde, augenblicklich zu ergreifen.

Der Alkalde ließ sich abermals auf seinen ledernen Sessel nieder und forderte mit einer Gebärde Schweigen; dann hielt er mit jenem Wortreichtum, der der spanischen Sprache, der hochtrabendsten und reichsten aller lebenden Sprachen, eigen ist, seinem Zuhörerkreis eine ziemlich lange Rede, deren Inhalt etwa folgender war: »Meine Kinder«, sagte er, »wie der ehrenwerte Don Juan de Dios Canelo hier eben versichert hat, ist ein großes Verbrechen diese Nacht begangen worden. Es konnte nicht fehlen, daß die Kenntnis von diesem Verbrechen zu den Ohren der Justiz gelangte – denn nichts entgeht dieser; aber ich danke nichtsdestoweniger dem Don Juan de Dios seine amtliche Mitteilung; ja, meine Kinder, seine amtliche Mitteilung. Dieser ehrenwerte Hausmeister hätte sie nur vollständiger machen müssen, indem er die Namen der Schuldigen aufdeckte ...«

»Aber Herr Alkalde«, unterbrach ihn Juan de Dios, »ich weiß sie ja nicht, obgleich meine Mitteilung, wie Ihr sagtet, eine amtliche sein mag; aber ich werde helfen, diese Schuldigen zu finden.«

»Ihr versteht es, meine Kinder: Der würdige Canelo fleht in einer amtlichen Mitteilung die Hilfe der Justiz zur Bestrafung der Schuldigen an. Die Justiz wird nicht taub sein bei seinem Ruf. Es sei mir nun erlaubt, zu euch von meinen kleinen Geschäften zu reden und dann mich dem Schmerz zu überlassen, den mir das Verschwinden der Gräfin und des jungen Grafen von Mediana einflößt.«

Hier machte der Alkalde Cayatinta ein Zeichen, dem alle seine angespannten Geisteskräfte noch nicht enthüllt hatten, durch welchen Dienst er den Gegenstand seines Ehrgeizes wohl gewinnen könnte; dann fuhr er fort: »Ihr kennt nicht, meine Kinder, die doppelten Bande, die mich an die Familie Mediana fesseln. Urteilt also über meinen Schmerz bei der Nachricht von dieser Gewalttat, die um so unbegreiflicher ist, als man weder weiß, warum, noch durch wen sie begangen ist. Ach, meine Kinder, ich verliere eine mächtige Beschützerin, und das Herz des treuen Dieners ist durchbohrt, während das des Geschäftsmanns nicht weniger grausam verwundet ist. Ja, meine Kinder, in der trügerischen Sicherheit, in der ich gestern noch versunken lag, war ich auf dem Schloß Mediana bezüglich meiner Pachtgelder.«

»Um eine Frist zu erbitten!« wollte Cayatinta eben rufen, der in den Geschäften des Alkalden vollständig auf dem laufenden war. Aber dieser ließ ihm keine Zeit, die ungeheuerliche Tat zu begehen, die ihn auf immer der Hoffnung auf den versprochenen Lohn beraubt hätte. »Geduld, mein würdiger Cayatinta«, sagte der Alkalde, indem er sich gegen den Escribano wandte; »zähmt diesen Durst nach Gerechtigkeit, der Euch verzehrt ... Ja, meine Kinder, und infolge jener Sicherheit, die ich jetzt beklage, übergab ich den Händen der unglücklichen Gräfin ...«, hier schwankte die Stimme Don Ramons, »eine Summe, die dem auf zehn Jahre vorausbezahlten Pachtgeld gleichkommt.«

Bei dieser unerwarteten Erklärung schnellte Cayatinta von seinem Stuhl empor, als ob er von einer Natter gestochen wäre, und sein Blut gerann in seinen Adern, als ein Lichtstrahl ihm die Ausdehnung des Fehlers zeigte, dessen er sich schuldig machen wollte.

»Urteilt also über meinen Schmerz, meine Kinder; diesen Morgen sollte die Gräfin mir die Quittung darüber geben.«

Diese Worte brachten eine tiefe Erregung unter seinen Zuhörern hervor, von denen keiner unter allen, die zugegen waren, an diesen traurigen Querstrich glaubte; niemand jedoch wagte es, seinen Unglauben zu zeigen. »Glücklicherweise«, fuhr der Alkalde fort, »kann der Eid glaubwürdiger Personen dieses Unglück wiedergutmachen.«

Hier sprang Cayatinta wie lange Zeit zusammengepreßtes Wasser, wenn es endlich einen Ausweg findet, empor, streckte den Arm aus und rief, mit einem Mal herausplatzend: »Ich beschwöre es!«

»Er beschwört es«, wiederholte der Alkalde.

»Er beschwört es«, wiederholten die Umstehenden.

»Ja, meine Freunde, ich beschwöre es noch einmal! Ich würde es immer beschwören! Obgleich ein Umstand mein Zartgefühl beunruhigt: Ich erinnere mich nämlich nicht mehr, ob der Alkalde der unglücklichen Gräfin Donna Luisa für zehn oder fünfzehn Jahre vorausbezahlt hat!«

»Nein, mein teurer Freund«, unterbrach ihn Don Ramon mit einer Mäßigung, für die man ihm dankbar sein mußte, da er im besten Zug war, »es waren nur zehnjährige Pachtzinsen, die ich nun durch Euer kostbares Zeugnis nicht mehr verliere; Ihr könnt auch auf meine Dankbarkeit zählen.«

Ich glaube es wohl, dachte der Escribano; zwei Jahre im Rückstand und zehn Jahre voraus macht rund genommen zwölf Jahre. Ganz entschieden habe ich auf die rotfarbigen Beinkleider unverjährbare Rechte! –

Wir wollen den Leser nicht weiter mit der Erzählung dessen ermüden, was sich in dieser Sitzung zutrug, in der die Justiz geübt wurde, wie es noch sehr lange Zeit vor Gil Blas gebräuchlich war und wie es noch sehr lange in Spanien gebräuchlich sein wird; wir wollen ihn nur zu der Untersuchung mitnehmen, die der Alkalde und sein Gehilfe an Ort und Stelle selbst anstellten, in Begleitung der durch das Gesetz geforderten Zeugen. Man fing damit an, die Tür des Schlafzimmers, das von innen verriegelt geblieben war, aufzubrechen. Leere und halbleere Schubfächer lagen auf dem Boden. Nichts von allem aber zeugte bestimmte Spuren von Gewalt; eine freiwillige, aber übereilte Abreise konnte zu einer gleichen Unordnung in einem Zimmer Veranlassung geben.

Das Bett der Gräfin, noch unberührt, bewies, daß sie sich nicht niedergelegt hatte, und enthüllte so den im voraus gefaßten Entschluß, den Augenblick der Abreise außerhalb des Bettes zu erwarten.

Die Möbel waren an ihrem gewöhnlichen Platz, die Vorhänge der Fenster und des Alkovens waren nicht zerknittert; keine Spur eines Kampfes ließ sich auf dem Fußboden des Zimmers erblicken, der doch von zierlichen Steinchen verfertigt war, so daß die geringste ungewöhnliche Berührung ihn hätte verletzen oder Risse machen müssen.

Der widerliche Geruch einer Lampe, die aus Mangel an Öl langsam erlischt, herrschte trotz der Luft, die hineindrang, noch in dem Zimmer; es war klar, daß man sie bis zum Morgen hatte brennen lassen – Verbrecher hätten sie ausgelöscht, um sich furchtlos ihrem traurigen Geschäft hingeben zu können –; tausend Kleinigkeiten endlich, die die Habgier hätten reizen können, waren in den Schubfächern geblieben. Zu all diesen trügerischen Anzeichen schüttelte der alte Juan de Dios mit einer Miene des Zweifels den Kopf. Er fand etwas in all diesen Dingen, was seinen Verstand verwirrte und seine Auffassungskraft – die übrigens niemals die beste gewesen war – überschritt; aber sein gesunder Verstand wehrte sich gegen den Gedanken, daß seine Herrin hätte fliehen können, und zwar auf eine außergewöhnliche Weise. In seinen Augen war offenbar ein Verbrechen begangen worden – aber wie sollte man es erklären? Der Mörder hatte keine Spuren zurückgelassen. Der alte, ehrenwerte Diener betrachtete mit trostlosem Auge dieses öde Zimmer, die auf dem Fußboden zerstreut liegenden Kleider seiner Gebieterin und die eingedrückte Wiege, die noch die Spur des jungen Grafen an sich trug und in der er den Tag vorher unter der Obhut seiner Mutter rosig und lächelnd schlief.

Wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, ging Juan de Dios auf einen eisernen Balkon, der sich nur wenig über den Boden erhob. Seine Augen befragten das sandige Ufer, das sich unter dem Balkon ausdehnte; aber kein Abdruck war auf einer harten und kalkigen Fläche zurückgeblieben. Die Strandsteine rollten tosend auf das Ufer, ohne mehr von menschlichen Spuren zu verraten, als die Oberfläche eines Sees den Schatten der Vögel bewahrt, die darüber hinfliegen. Der Wind pfiff, der Ozean murrte wie immer, und unter diesen Stimmen der Natur erhob sich keine, um den Schuldigen zu entdecken. Nur am Horizont zeichneten sich noch die weißen Segel eines Schiffes, das das Weite suchte, auf dem fernen Azur des Meeres ab.

Während der alte Diener schweigend betete und mit einem träumerischen Blick das Schiff, das enteilte, verfolgte, hörten alle Umstehenden – mit Ausnahme des Alkalden und des Escribano – traurig den düsteren Tönen des Windes zu, der sich in den Felsen verfing und auf diesen Höhen bei Tag und Nacht abwechselnd zu weinen, zu seufzen oder zu brüllen scheint.

Der Alkalde und sein Schreiber teilten wohl stillschweigend die Ansicht Juans de Dios. Alle beide glaubten an ein Verbrechen; aber bei der Unmöglichkeit, das geringste sichtbare Zeichen zu finden, die Hand auf das geringste Individuum zu legen, das fähig war, die Kosten des Prozesses zu bestreiten, fanden sich der Escribano und der Alkalde, wie es die ruhmvolle Gewohnheit Spaniens ist, ganz befriedigt; der eine mit der so sehr ersehnten Belohnung, die er schon zu halten glaubte, der andere mit den zwölf Pachtjahren, die er sicher zu erhalten dachte.

»Wahrhaftig, meine Herren«, sagte der Alkade, indem er sich gegen die Zeugen umwandte, »ich kann mir nicht erklären, welchen Einfall die Frau Gräfin von Mediana gehabt haben mag, um ihr Zimmer durch das Fenster zu verlassen, denn der Riegel der Ausgangstür, der von innen vorgeschoben ist, läßt keinen Zweifel an der Sache zu. Das ist Fraueneigensinn, und die Justiz hat nicht nötig, ihn zu erklären.«

»Es ist vielleicht darum geschehen, um dem Herrn Alkalden keine Quittung zu geben«, sagte ganz leise einer der Zeugen zu seinem Nachbarn.

»Doch noch eins!« sagte Cochecho, sich an Juan de Dios wendend. »Wie habt Ihr das Verschwinden der Gräfin bemerken können, da man doch nicht bei ihr eintreten konnte?«

»Das ist sehr einfach«, antwortete der Greis. »Die Kammerfrau hat zu der Stunde, wo sie sich gewöhnlich bei der gnädigen Frau einfindet, geklopft, und niemand hat geantwortet; sie hat stärker geklopft, und da sie noch keine Antwort erhalten hat, ist sie unruhig geworden und hat mich benachrichtigt. Ich habe geklopft, ich habe auch gerufen; und da ich nichts hörte, bin ich nach der Leiter im Garten gelaufen und habe durch dieses offene Fenster das Zimmer, so wie Ihr es selbst erblickt, gesehen.«

Als der Hausmeister seine Erklärung abgegeben hatte, sagte Cayatinta einige Worte zum Alkalden – leise genug, daß es niemand hörte. Aber dieser begnügte sich, die Schultern mit einer verächtlichen Miene zu zucken.

»Wer weiß«, erwiderte der Escribano bei dieser stummen Gebärde.

»Vielleicht«, antwortete der Alkalde; »wir wollen sehen!« Dann, nach einem Augenblick des Schweigens, sagte er: »Ich bestehe auf dem Glauben, meine Herren, daß, so sonderbar es auch scheinen mag, die Frau Gräfin die Freiheit hat, fortzugehen, wie es ihr gefällt; selbst durchs Fenster.«

Die Zeugen lächelten beifällig zu diesem Witz der Justiz.

»Aber Herr Alkalde«, rief der alte Juan de Dios, den der Witz des Alkalden Cochecho empörte, »diese zerbrochene Fensterscheibe, von der die Stücke hier auf der Erde liegen, beweist doch, daß ein gewaltsamer Einbruch der Schuldigen ins Zimmer stattgefunden hat.«

»Dieser alte Canelo will mich nicht frühstücken lassen«, brummte der Alkalde, der gern ein Ende gemacht hätte, seitdem er keinen Vorteil mehr aus dieser geheimnisvollen Sache zu ziehen erhoffte; »gewiß wird meine Mahlzeit kalt und Nikolasa ungeduldig. – Was beweisen denn diese Glasstücke?« antwortete er ganz laut. »Denkt Ihr denn, daß bei der Seebrise, die diese Nacht so heftig geweht hat, nicht in einem offenen Fenster, das heftig wieder zugeworfen wird, zwei oder drei Scheiben zerbrochen werden könnten?«

»Warum aber«, entgegnete Juan de Dios, »ist es gerade die Scheibe, die sich an der Seite des Drehriegels befindet? Man wird sie zerbrochen haben, um das Fenster zu öffnen!«

»Ach was da! Herr Don Juan de Dios«, schrie der ungeduldige Alkalde, der vor Wut in sein Rohr mit goldenem Knopf – das Zeichen seiner Würde – hineinbiß, »seid Ihr es, oder bin ich es, der hier das Recht hat, Fragen zu stellen? Wahrhaftig – es scheint fast, als ob Ihr mich eine lächerliche Rolle spielen laßt.«

Hier trat Cayatinta mit bescheidener Miene dazwischen. »Ich würde«, sagte er, »unserem Freund Canelo erwidern, daß, wenn diese Glasscheibe zu dem Zweck, den er andeutet, zerbrochen wäre, dies nur von außen hätte geschehen können; die Stücke würden also nach innen gefallen sein; und doch liegen sie hier auf dem Balkon! Es ist also der Wind, der es getan hat, wie der Herr Alkalde Grund gehabt hat, zu glauben. Es sei denn«, fügte er mit seinem falschen Lächeln hinzu, »daß es ein Bündel gewesen ist, das man unvorsichtig durch das Fenster geworfen hat, denn die Gräfin muß ihre Luftfahrt – nach der Zahl der Effekten zu urteilen, die sie mitgenommen hat – verlängern wollen, wie solches auch diese leeren Schubfächer beweisen.«

Der alte Hausmeister hatte seinen Kopf vor dem Beweis, der seine Behauptung umstieß, gesenkt und hörte die letzte Bemerkung Cayatintas nicht. Was diesen letzteren anlangte, so fragte er sich heimlich, ob er nicht vom Alkalden ein wenig mehr als die versprochene Belohnung als Preis dieses neuen Dienstes verlangen sollte.

Während der alte Diener der Mediana in schmerzliche Gedanken, die seine heiße Stirn verfinsterten, versunken war, näherte sich ihm leise der Alkalde. »Ich bin ein wenig aufgeregt gegen Euch gewesen«, sagte er zu ihm; »ich habe nicht genug auf den Schmerz, den ein redlicher Diener wie Ihr bei einem so unvorhergesehenen Schlag empfinden muß, Rücksicht genommen. Aber sagt mir: Ganz abgesehen von dem Kummer, den Ihr fühlen müßt – beunruhigt Euch nicht die Furcht vor der Zukunft? Ihr seid alt, folglich schwach und ohne Hilfsquellen.«

»Eben deshalb, weil ich alt bin, Herr Alkalde, und weil meine Zukunft, was mich betrifft, eng begrenzt ist, beunruhigt sie mich wenig. Aber mein Schmerz«, fügte der Diener mit einer Art Stolz hinzu, »ist rein von jeder Beimischung; die edle Freigebigkeit der gnädigen Herren von Mediana hat mich sogar in den Stand gesetzt, die wenigen Tage, die mir noch zu leben übrigbleiben, ruhig zuzubringen. Aber ich würde glücklich sein, die Gemahlin meines alten Herrn rächen zu können.«

»Ich billige Eure Gefühle«, erwiderte der Alkalde mit tiefgerührter Miene. »Ihr seid ein Mann, doppelt achtbar durch Euren Kummer ... und durch Eure Sparsamkeit, Herr de Canelo.« Dann änderte er plötzlich den Ton und sagte: »Schreiber, bringt zu Protokoll, daß der hier gegenwärtige Don Juan de Dios de Canelo sich zum peinlichen Kläger aufwirft gegen die Räuber seiner Herrin; denn es läßt sich nicht mehr zweifeln, meine Herren, ein Verbrechen ist begangen worden, und wir schulden uns selbst – wir schulden diesem ehrenwerten Greis die Genugtuung, dessen Urheber zu finden und zu bestrafen.«

»Aber Herr Alkalde«, rief der bestürzte Hausmeister, »es ist mir niemals eingefallen, mich als peinlichen Kläger zu stellen!«

»Nehmt Euch in acht, alter Mann!« sprach Don Ramon mit feierlicher Stimme. »Wenn Ihr verleugnet, was Ihr mir soeben anvertraut habt, so würden erschwerende Beweise auf Euch lasten. Wie mir nämlich vor kurzem unser Freund Cayatinta bemerklich gemacht hat, würde diese Leiter, die Euch zur Ersteigung des Zimmers Eurer Herrin gedient hat, böswillige Absichten beweisen! Aber ich glaube, Ihr seid deren unfähig; bleibt also Ankläger, anstatt Angeklagter zu werden! Vorwärts, meine Herren, unsere Pflicht ruft uns hinaus; vielleicht finden wir unter diesen Fenstern Spuren, die zur Entdeckung leiten.«

Der arme Juan de Dios, der sich so unversehens zwischen den beiden Spitzen dieses Dilemmas befand, dessen doppeltes Resultat dasselbe sein mußte – nämlich die Plünderung des kleinen Vermögens, das sein Greisenalter erleichtern sollte –, senkte sein Haupt und nahm mit erhabener Ergebung die Stimme des Unrechts für die Gottes, indem er sich mit dem Gedanken tröstete, daß dieses letzte Opfer vielleicht noch seinen Herrschaften nützlich sein würde.

Keine Spur war am Fuß des Balkons – wie wir schon oben erwähnt haben – im Boden zurückgeblieben.

Man glaubte einen Augenblick, einen wichtigen Fang zu tun in der Person eines Mannes, der unter einer Felsenkrümmung eingeschlafen war. Es war Pepe der Schläfer. Plötzlich aufgeweckt und befragt, ob er nichts gesehen habe, bediente sich Pepe, der zum erstenmal seit langer Zeit seine Tasche nicht leer wußte, um alle Gefahr abzuwenden, eines Mittels, das von Anfang an einem so gierigen Menschen wie dem Alkalden gegenüber ganz außerordentlich erscheinen wird; er bat ihn nämlich, ihm einen Real zu leihen, um Brot zu kaufen.

Was war mit einem solchen Tollkopf zu tun? Der Alkalde richtete auch keine weiteren Fragen an ihn und ließ ihn sich nach Gefallen ermuntern. Man mußte also bis auf weiteren Befehl auf jede Nachforschung Verzicht leisten; man hatte ja auch genug getan, um die Kosten des Prozesses bis zur Summe der Ersparnisse des klagenden Teils zu erhöhen.

Als jedoch nach diesem in den Annalen Elanchoves unerhörten Morgen die Dämmerung dem Tag gefolgt war, irrten zwei Männer noch traurig an der Küste umher, waren aber eifrig bemüht, einander nicht zu begegnen. Der eine war der arme Juan de Dios, der einen Seufzer seinen ersparten Geldern nachschickte, die nahe daran waren, sich in den verzehrenden Abgrund der Justiz zu stürzen, und hartnäckig die Spuren seiner Herrin suchte, für sie und seinen jungen Herrn betete und Gott anflehte, ihr Leben zu schützen.

Der andere war der traurige Cayatinta. Der Alkalde nämlich hatte das Vertrauen des Escribano, der ihm seinen Eid, ehe noch die versprochene Belohnung erteilt war, geleistet hatte, so benutzt, daß er geradezu seine Hosen verweigerte und an ihrer Stelle einen ziemlich alten Hut anbot, den Gregorio mit Unwillen zurückgewiesen hatte. Cayatinta beweinte also seine verschwundenen Träume, sein blindes Vertrauen und die Unsittlichkeit der falschen Eide ... wenn sie nicht bezahlt werden, und dachte über einen günstigen Augenblick nach, um den alten Hut statt seiner ach so wohl verdienten Beinkleider zu erhalten.


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