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Die Ernte

Der Deutsche Richard von Kehler hat einmal, bald nach den Flugvorführungen Wilbur Wrights in Rom, seine Beobachtungen und auch die während eines kurzen Probefluges mit Wright gewonnenen Eindrücke schön und sachlich, allem Überschwang fern und dennoch mit fast klassisch anmutender Eindringlichkeit geschildert. Für ihn, der schon viele Luftfahrten teils mit dem Freiballon, teils mit dem Zeppelin, mitgemacht hatte, war die Fahrt mit Wilbur Wright in dessen Flugzeug trotz ihrer Kürze die interessanteste, die er je erlebt hatte.

»Ich sah dort«, schrieb er, »während dreier Tage mehr als zwanzig Aufstiege, von denen einer wie der andere mit derselben Präzision und Sicherheit vor sich ging, ohne daß auch nur einmal die geringste Kleinigkeit versagt hätte. Besonders interessant war es, daß der Fallapparat, mit dessen Hilfe die Maschine bekanntlich die zum Aufsteigen nötige Anfangsgeschwindigkeit erreicht, nur noch ausnahmsweise benutzt wurde. Für die weiteren Fahrten wurde die Ablaufschiene etwas abschüssig mit etwa einem Meter Gefälle hingelegt. Dieses geringe Gefälle genügte, um den Apparat leicht mit zwei Personen Besatzung zum Aufstieg zu bringen ... Die Schiene besteht aus acht je fünf Meter langen, hochkant gestellten Brettern, die der Länge nach aneinandergestellt und in der Erde mit ein paar Pflöcken in einfachster Weise befestigt sind. Auf der Oberkante dieser Bretter liegt ein dünnes Eisenband, auf dem die in der Mittellinie der Flugmaschine ruhenden drei kleinen Rollen – in der Größe von Garnrollen – entlanglaufen.

Für den Beschauer bietet das Fliegen der Wright'schen Flugmaschine einen wirklich großartigen und schönen Anblick. Wie ein Riesenvogel schwebt sie ruhig bei einer Geschwindigkeit von 16 bis 17 Meter pro Sekunde durch die Luft, erhebt sich zu größerer Höhe, geht wieder herunter bis dicht über den Erdboden, fliegt in ganz geringer Höhe, etwa einen Meter, über den Boden dahin, den leichten Bodenwellen folgend, erhebt sich plötzlich wieder über 20 bis 30 m, neigt sich bei einer kurzen Wendung scharf nach innen, stellt dann die Riesenflügel wieder horizontal und landet sanft und ohne Erschütterung auf ein paar Meter genau an der beabsichtigten Stelle.«

Über seine Fahrt selbst berichtete von Kehler, Wilbur Wright habe auf seine Bitte, einen Flug mitmachen zu dürfen, zunächst noch keine bestimmte Zusage machen können. Wenig später aber habe er, bekanntlich kein Freund von vielen Worten, plötzlich gefragt: »Are you ready?«, und sogleich habe er, Kehler, seinen Hut aufgesetzt und sei ohne viel Federlesens über die Verspannungsdrähte des Höhensteuers hinweg auf den Sitz neben Wright geklettert.

»Aus der Beobachtung der Flüge von unten und aus dem Mitfahren selbst habe ich«, so schloß von Kehler seinen Bericht, »die Überzeugung gewonnen, daß die Wright'sche Flugmaschine unter sachverständiger Führung ein sicheres und zuverlässiges Beförderungsmittel ist, dem man sich ohne Bedenken anvertrauen kann, und aus eigener Erfahrung kann ich nur bestätigen, daß das Fliegen mit einer solchen Maschine ein unbeschreiblicher Genuß ist. Hiernach ist es für mich nicht zweifelhaft, daß sich der Flugsport kräftig entwickeln und zahlreiche Anhänger finden wird.«

Ein sicheres und zuverlässiges Beförderungsmittel – das war also schon damals das Urteil nicht nur jenes Deutschen, sondern wohl aller, die einen der Brüder Wright bei ihren Flügen zu beobachten Gelegenheit hatten oder gar selbst einmal mitfliegen durften. Das Sportliche der ganzen Fliegerei, aus dem sich ja auch die Maschine der Wrights zunächst entwickelt hatte, lag gleichsam am Rande, wenn auch sportlicher Geist bei der ganzen weiteren Entwicklung des Flugwesens sozusagen der bewegende innere Motor war, der zu immer neuen Verbesserungen und Erfindungen Anlaß gab.

Unmittelbar nach dem Abschluß der Flüge bei Fort Myer reisten Orville und Katherina Wright erneut nach Europa, und zwar diesmal nach Deutschland. Die Aufforderung, nunmehr auch in Berlin ihr Flugzeug vorzuführen, verdankten sie vor allem der Initiative des Hauptmanns A. Hildebrandt, der sich seit Jahr und Tag für sie und ihr Werk eingesetzt und sich bemüht hatte, die Wahrheit über die von ihnen erreichten Leistungen zu verbreiten und das auch in Deutschland lange Zeit gegen die Wrights bestehende Mißtrauen zu zerstreuen. Er hatte also in dieser Beziehung für die Wrights etwa ebenso gewirkt, wie in Frankreich eine Zeitlang der Hauptmann Ferber. Ja, Hildebrandt hatte sich schließlich, als auch die französische Presse sich der Haltung jener der Vereinigten Staaten angeschlossen hatte, aus Idealismus, aus seinem tiefen und unbedingten Glauben an die Wahrheit dessen, was die Wrights behaupteten, sowie der Bedeutung der Sache wegen entschlossen, keine Aufwendungen scheuen und an Ort und Stelle, das heißt in Dayton/Ohio, selbst Nachforschungen anzustellen. Er war im Oktober 1907 abgereist, und schon am 18. November des gleichen Jahres, also längst vor dem Eintritt des Stimmungsumschwungs in Frankreich und den USA, war aus seiner Feder ein sehr eingehender und wahrheitsgetreuer Tatsachenbericht im Berliner Lokalanzeiger »Die Flugmaschine der Gebrüder Wright« erschienen, der geeignet war, alle bisherigen Irrtümer, allen Unglauben, Zweifel und jedes noch etwa bestehende Mißtrauen aus dem Wege zu räumen.

Hildebrandt also hatte den jetzigen Besuch von Orville Wright in Deutschland und in Berlin erfolgreich angeregt. Die Einladung war von dem bekannten Verleger Scherl, dem auch der Berliner Lokalanzeiger gehörte, ausgegangen, und sie war um so mehr zu begrüßen, als das deutsche Volk, vielleicht blind gemacht durch die großen Erfolge der lenkbaren Luftschiffe »Zeppelin«, »Parseval« und »Groß«, zunächst wenig Interesse für die motorisierten Flugzeuge »schwerer als die Luft« gezeigt hatte und selbst die Erfolge Wrights und Farmans, Lathams und Santos-Dumonts in Frankreich keinen besonders tiefen Eindruck gemacht hatten.

Das änderte sich jetzt mit einem Schlage. Schon nach den ersten Flügen über dem Tempelhofer Feld wandelte sich die skeptische Zurückhaltung der Berliner in wahrhaft stürmische Begeisterung, und der Jubel, mit dem man Orville Wright feierte, stand jenem, der ihm vor wenigen Monaten in Pau und vor knapp einem Jahr in Le Mans entgegengebrandet war, in nichts nach. Der deutsche Kaiser, die Kaiserin, der Kronprinz sahen sich die Flüge an, als einzige Zivilisten wurden Orville Wright und seine Schwester vom Kaiser zur Landung des »Zeppelin« bei Tegel eingeladen. Am 17. September gelang es Orville Wright, mit der von ihm erreichten Höhe von 200 Metern einen neuen Weltrekord aufzustellen. Später wurden die Flüge über Bornstedt bei Potsdam ausgeführt. Am 15. Oktober schloß Orville Wright seine Vorführungen ab.

Die Frucht dieser Vorführungen war die Begründung der Gesellschaft »Flugmaschine Wright«, die alle Rechte und Patente der Gebrüder Wright für Deutschland erwarb und alsbald mit der Herstellung Wrightscher Flugzeuge begann. Wenig später wurde bereits auf dem mittlerweile eingerichteten Flugfeld Johannistal bei Berlin die planmäßige Schulung von Piloten mit insgesamt fünf Flugzeugen in Angriff genommen.

Es gab daneben jetzt bereits Wright-Gesellschaften in Frankreich und in England, eine gleiche für Italien war in Vorbereitung, es gab eine Generalvertretung der Interessen der Gebrüder Wright für alle nicht englisch sprechenden Länder, die von Hart O'Berg wahrgenommen wurde.

Immer, von den ersten Zeiten ihrer Motorflüge an, war es das Lebensziel der Brüder gewesen, einmal sich ganz nur wissenschaftlicher Forschung auf flugtheoretischem Gebiet, verbunden natürlich mit der Sammlung praktischer Erfahrungen, widmen zu können. Aber Schritt für Schritt und immer mehr, immer unwiderruflicher, so schien es, sahen sie sich nun in geschäftliche Dinge verstrickt. Sie konnten sich ihnen einfach nicht entziehen, wenn ihr Flugzeug mit der allgemeinen Entwicklung Schritt halten sollte und wenn es ihnen, nach so langen und oft genug entbehrungsreichen Jahren, endlich auch sichtbaren Lohn eintragen sollte. Wilbur Wright hat für diese »Zwangsläufigkeit«, der man nicht entrinnen konnte, einmal ein sehr nettes Bild gefunden. Ziemlich bald nach der Rückkehr Orville Wrights von seinen Flügen in Berlin war, im November 1908, The Wright Co. in Amerika mit einem Stammkapital von 200 000 Dollar gegründet worden. Die Gesellschaft hatte ihre Geschäftsräume in einem Hause der berühmten Fifth Avenue in New-York, aber die Fabrik befand sich nach wie vor in Dayton. Dort erhielt Wilbur Wright eines Tages den Besuch seines guten Freundes Frank Russell. Der saß wartend im Büro, als Wilbur mit einem ganzen Korb voller Briefe hereinkam, sie in komischer Verzweiflung vor seiner Sekretärin ausschüttete und sagte: »Ich weiß nicht, was Sie damit machen wollen. Vielleicht müßten sie geöffnet werden. Aber wenn man einen Brief öffnet, besteht natürlich die Gefahr, daß man sich entschließt, ihn auch zu lesen. Und dann wird man sich sehr schnell in eine lange Korrespondenz verstrickt finden!«

Ja, die Gefahr bestand natürlich, und sie konnten ihr nicht entgehen. Auch der jüngere der beiden Brüder, auch Orville, konnte es nicht. Ihm, der sich von dem glattrasierten Wilbur schon rein äußerlich durch seinen dunklen Schnauzbart unterschied – aber beide hatten die gleiche, hohe und kluge Stirn –, hatte vor ein paar Jahren Weaver, der die Brüder in Dayton aufgesucht hatte, in der Zeit des allgemeinen Mißtrauens und Zweifels, so beschrieben: »Seine ganze Erscheinung entkräftet jeden Verdacht – mit diesem Gesicht eher eines Dichters als eines Erfinders. In den Umrissen, in der Kopfform, im Gesichtsausdruck erinnert er an Edgar Allan Poe.« Das war ein schmeichelhafter Vergleich. Galt doch Poe damals schon als der erste große Dichter der Vereinigten Staaten. Aber gar so abwegig war dieser Vergleich vielleicht gar nicht. Schließlich steckt in jedem Erfinder in gewissem Sinne auch ein Dichter, wenn Dichten darin besteht, daß man etwas noch nicht Seiendes durch die schöpferische, gestaltende Kraft Wirklichkeit werden läßt.

Sie wollten Erfinder werden, sie wollten Pioniere werden im Kampf um die Eroberung der Luft, in dem Bemühen, den alten Ikarustraum der Menschheit Wahrheit werden zu lassen. Nun, da die Zeit der Ernte gekommen, forderte der nüchterne Alltag sein Recht. Sensationen? Die gab es kaum mehr. Was anfangs kühnes Wagnis, prickelnde Lust, Taumel-Glück des Erreichten gewesen war, jede Minute mehr, jeder Meter Höhe mehr, die man in der Luft dem Gesetz der Schwere abrang – längst war es zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Längst ging es nur noch darum, Mängel zu beseitigen, bald die, bald jene Verbesserung einzuführen, endlich auch – um ein Beispiel zu nennen – sich durch Einbau eines Fahrgestells von der früher benutzten Ablauf- und Startvorrichtung frei zu machen.

Der Ruhm, das Ansehen der Brüder waren nun fest und unzerstörbar begründet. Durch die von ihm in allen Teilen der USA veranstalteten großen Schauflüge stelle der seit jungen Jahren als Ballonflieger bekannte Roy Knabenshoe die Zweckmäßigkeit, die Leistungsfähigkeit und unbedingte Zuverlässigkeit der Wright-Aeroplane immer wieder vor Zehntausenden, vor Hunderttausenden von begeisterten Zuschauern unter Beweis. Längst wurde auf der Huffman-Prärie in einer dort eigens begründeten Pilotenschule der Nachwuchs an Flugzeugführern planmäßig herangebildet. Und nicht lange mehr würde es dauern, bis sich auf einem Hügel nahe Dayton, auf dem Wright-Hügel, wie er fortan genannt werden sollte, von dem aus man einen weiten Blick über die umgebende Landschaft, diese Wiege der Wright-Werke, hatte, ein Denkmal erhob. Ein Denkmal für die beiden großen Söhne der Stadt, das ihre Verdienste, ihr Werk und ihren Charakter in einer langen und bei aller Schlichtheit würdigen Inschrift pries.

War dies ihres Lebens Mittag? Für Wilbur Wright sollte es schon der Abend sein. Am 21. Mai 1910 unternahm er noch einen Pilotenflug – daß es sein letzter sein würde, er ahnte es nicht. Vier Tage später waren die beiden Brüder zum ersten Male gemeinsam in der gleichen Maschine in der Luft – daß sie es auch zum letzten Male sein würden, wie konnten sie das vermuten? Dann nahm Wilbur seinen Vater, den Bischof Milton Wright, als Fahrgast mit – und das einzige Wort, das der alte Herr und geistliche Würdenträger während des Fluges sagte und immer wieder sagte, war ein halb jauchzendes, halb vor freudiger, seelischer Erregung gestammeltes: »Höher! .. Höher!« Gewiß wäre er am liebsten ebenfalls, wie einst der sagenhafte Ikarus, gleich bis zur Sonne geflogen. Im gleichen Jahre flog ein Wright-Aeroplan zum ersten Mal über eine der großen Städte Amerikas, über Chicago, hinweg. Die praktische Verwendbarkeit des Flugapparates auch für lange Flüge, auch für Transporte von Post und Waren, und vor allem für die Beförderung von Menschen, stand nun endgültig fest

Zwei Jahre später, im Mai 1912, erkrankte Wilbur Wright ganz unerwartet an einem typhösen Fieber. Er war damals gerade, durch einen langwierigen, heftigen und an seiner Nervenkraft zehrenden Patentkrieg, besonders mitgenommen, und seine Widerstandsfähigkeit war gering. Das war wohl der eigentliche Grund, daß er, trotz aller Bemühungen angesehener und von weit her geholter Spezialisten, dieser Krankheit schon drei Wochen später erlag. Er, der immer geglaubt – und vielleicht gehofft – hatte, er würde dereinst den Fliegertod erleiden, starb in seinem Bett. Erlosch wie eine Kerze. Die Pläne, in stillen, abendlichen Stunden mit dem Bruder erörtert, wie man sich dereinst nur noch mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigen würde, sie konnten nun nie mehr in die Tat umgesetzt werden.

Auf ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen wurde nun Orville Wright Präsident der Wright-Gesellschaft und trat so das Amt an, das bisher sein Bruder bekleidet hatte. Ein Jahr danach, 1913, kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges also, unternahm er seine letzte Europa-Reise. Wenig später kaufte er alle Geschäftsanteile der Wright-Gesellschaft mit Ausnahme jener seines Freundes Collier auf und verkaufte die Gesellschaft an ein Syndikat aus dem Osten der USA.

Seitdem lebte er und lebt er, immer älter werdend, immer stiller und weiser werdend, fernab von allen Geschäften. Aber nicht fernab der Welt. Einer Welt, die alles an ihn heranträgt, was diese Jahre und Jahrzehnte der Menschheit geschenkt haben an neuem Wissen, an neuen Erfindungen, an neuen, vordem unvorstellbar gewesenen Entdeckungen, an Glück und Seligkeit – und leider auch an Trauer, an Schmerz und Herzeleid. Das so Ungewöhnliche, hier wurde es Ereignis. Orville Wright wurde dieses außerordentliche Schicksal zuteil: daß ein Erfinder den Weg seiner Erfindung verfolgen durfte von den ersten, noch tastenden Schritten bis zu einer: letzten, offenbar nicht mehr oder doch nicht mehr wesentlich zu überbietenden Vollendung. Vom ersten größeren, halbstündigen Flug über der Huffman-Farm mit dem 25-pferdigen ersten Motorflugzeug bis zu jenen modernster Bauart, deren als Druckschrauben wirkende Propeller von Motoren angetrieben werden, die tausende von Pferdekräften entwickeln. Bis zu jenen, die Stundengeschwindigkeiten von mehr als fünfhundert Kilometern erreichen und vielleicht in naher Zeit schon die Schallgeschwindigkeit übertreffen werden.

Was mag, im Angesicht einer derartigen Entwicklung, in Orville Wrights, des Erfinders und Bahnbrechers, Seele vor sich gehen? Niemand kann sich das ausmalen.

Und Orville Wright sagt es uns nicht. Die Wrights waren immer sehr schweigsam.


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