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Bisher hat noch niemand zu ergründen vermocht, nach welchen Erwägungen, nach welchen Plänen oder gar Gesetzen die Götter Größe und Tragik, Ruhm und Ansehen, Genie und Wahnsinn, Erfolg und Enttäuschungen verteilen. Im weiten, unübersehbaren Bereich des Geistigen gibt es keine Erbfolge, keine Ahnenreihe, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Sokrates war der Sohn einer Hebamme, und der nach Freiheit dürstende, aufrührerische Schiller, der Dichter der »Räuber«, der eines pedantischen und schwunglosen Mannes von der seelischen Struktur eines Unteroffiziers, konservativ bis in die Knochen und dem unbedingten Gehorsam als dem obersten und höchsten Gesetz verhaftet. Da ist der Vater ein stiller, dem Leben abgewandter, romantischer Träumer, doch sein Sohn fragt schon als kleines Kind bei jedem Märchen, das ihm die Mutter erzählt: »Ist das auch wahr?«, und sein ganzes Wesen ist auf die Wirklichkeiten des Lebens ausgerichtet, ist allen Träumen, aller Phantasie und allen Märchen feind. Oder ein anderer trägt das Zeichen des Genius an seiner Stirn, sein Sohn aber ist ein unzugänglicher, kleiner und erbärmlicher Mensch, der frierend im Schatten eines Titanen aufwächst.
Es gibt da, wie gesagt, keine Gesetze. Im Geistigen entzieht sich die bunte Vielfalt des Lebens allen Ordnungen, allen Regeln.
Da verließ, während das Festland Europa von den blutigen Wirren des Dreißigjährigen Krieges geschüttelt wurde und der Tod eine Ernte hielt wie seit langem nicht, ein gewisser Samuel Wright das väterliche Gut Kelvedon Hall im Staate Essex in England und wanderte nach Amerika aus. Das ist nun mehr als dreihundert Jahre her, und niemand wird heute noch feststellen können, was jenen Wright von der väterlichen Scholle forttrieb. Vielleicht war es nur das Fernweh, das ja so oft die Jugend lockt. Vielleicht gab es der Kinder zu viel, als daß sie hoffen durften, sich alle auf dem väterlichen Besitztum ernähren zu können. Oder der große neue Kontinent reizte mit Möglichkeiten, die es in dem engen, dicht besiedelten englischen Mutterland nicht gab und nie mehr geben würde.
Samuel Wright ließ sich als Farmer in Springfield in Massachusetts nieder. Er war Puritaner, wie die meisten englischen Amerikafahrer jener Zeit, und so wurde er bald Diakon und schließlich gewählter Pfarrer jener kleinen, eben erst im Aufblühen begriffenen Gemeinde. Als er, dreißig Jahre später, starb, hinterließ er eine Familie, die sozusagen zum Uradel Amerikas gehörte, beinahe wie die Nachkommen jener Pilger, die mit der Mayflower über den Atlantik gekommen waren. Der Präsident Grower Cleveland gehörte später zur Sippe der Wrights, und anderthalb Jahrhunderte danach wurde Silas Wright Senator der Stadt New York und bald darauf Gouverneur des Staates New York. In ihm war das Bluterbe seiner fernen Vorfahren, die Liebe zur Erde, zum Acker wieder lebendig geworden. Er besaß große, reiche Güter, um deren Bewirtschaftung er sich selbst kümmerte, trotz des hohen öffentlichen Amtes, das er bekleidete.
Auch seine Kinder erzog er in der Liebe zur mütterlichen, segenspendenden Erde. Sie wurden Landleute, sie wurden Farmer oder Viehzüchter. Sie bauten Weizen an und Mais und alles, was sonst der Boden trug und die Sonne reifen ließ, oder sie ließen ihre nach Hunderten, nach Tausenden zählenden Rinderherden über die ausgedehnten, unermeßlichen Weiden wandern.
Alle bis auf einen. Alle bis auf Milton Wright, der 1828 in Rush County im Staate Indiana geboren wurde und den es trieb, sich wieder dem Beruf des ersten Wright in Amerika zuzuwenden. Ausgezeichnet erzogen, von großem Wissen und ungewöhnlicher Begabung, hielt er schon mit wenig mehr als zwanzig Jahren seine erste Predigt. Sehr bald brachte er es in dem erwählten geistlichen Beruf zu Ansehen und Würden. Er wurde »reisender Minister« der lutherischen Brüdergemeinde, eine Aufgabe, für die es außerhalb der Vereinigten Staaten keine Parallelen gab, dann Bischof, ein Amt, das er fast ein Vierteljahrhundert lang bekleidete.
Aber dieser Bischof Milton Wright war zugleich auch ein Weltmann. Sein Beruf zwang ihn zu vielen und ausgedehnten Inspektionsreisen, bei denen er im Laufe der Jahre mehrere hunderttausend Meilen auf der Eisenbahn zurücklegte. Und die Reisen wieder vermittelten ihm eine Fülle von Kenntnissen und Erfahrungen, einen ins Einzelne gehenden praktischen Blick für die Lebensumstände und Lebensnotwendigkeiten der Menschen, für ihre Bedürfnisse, ihre Hoffnungen und ihre Schwierigkeiten.
Der auf solche Art erworbene Wissens- und Erfahrungsschatz kam natürlich und vielleicht sogar in erster Linie auch seinen sieben Kindern zugute. Auch den letzten drei Kindern selbstverständlich, den beiden Brüdern Wilbur – der am 16. April 1867 geboren wurde – und den vier Jahre jüngeren Orville – geb. 19. August 1871 – sowie dem Nesthäkchen Katherine, das sich von Kindesbeinen an den beiden, ihm altersmäßig am nächsten Stehenden, besonders innig verbunden fühlte.
Wilbur und Orville Wright hätten werden können, was ihre älteren Geschwister oder was ihre Vorfahren mütterlicher- oder väterlicherseits wurden oder geworden waren: Farmer oder Geistliche, Advokaten oder Träger irgendeines öffentlichen Amtes. Es gab viele naheliegende Möglichkeiten. Daß weder Wilbur noch Orville etwas davon wurden, lag an einer winzigen Kleinigkeit. An einem Zufall, wenn man so will. Aber man sollte mit dem Begriff Zufall vorsichtiger umgehen, als wir es gemeinhin zu tun gewohnt sind. Und man sollte sich darüber klar sein, daß es oft die winzigsten Ursachen sind, die die größten Wirkungen auslösen. Daß der Hufschlag einer Gemse eine Lawine ins Rollen bringen kann.
Die Kleinigkeit, die Winzigkeit, die das Leben der Brüder schon sehr früh nach einer ganz bestimmten Richtung umbog, führte den etwas seltsam anmutenden Namen, die sehr wissenschaftlich klingende Bezeichnung: Helicoptere.
An irgendeinem Tage des Jahres 1878 war der gesetzte, bei aller ausgeglichenen Heiterkeit seines Wesens doch äußerst würdige, ja, hochehrwürdige Bischof Milton Wright von einer seiner vielen Dienstreisen nach Hause zurückgekehrt. Als nicht nur sorgender, sondern auch liebevoller Familienvater, der er war, hatte er sich schon unterwegs überlegt, wie er seinen Kindern, besonders den jüngsten von ihnen, eine freudige Ueberraschung bereiten könnte. Die Freude, den Vater wieder da zu haben, würde damit nur noch vergrößert werden.
Nun also, kaum daß er die Stube betreten hatte, nahm er jenes Ding aus der Tasche, das man Helicoptere nannte, und vor den erstaunten, weit aufgerissenen Augen des eben erst elfjährigen Wilbur, des noch nicht siebenjährigen Orville ließ er es durch die Luft sausen.
Ein Helicoptere – das war nur ein Spielzeug. Ein beinahe primitives Spielzeug, wenn man es recht bedenkt. Es war aus einem Rahmenwerk von leichtem Kork und Bambus verfertigt und mit buntem Papier überklebt. An seinem hinteren Ende war ein kleiner Propeller befestigt, der durch ein um die Mittelachse des Ganzen gedrehtes starkes Gummiband in rotierende Bewegung versetzt wurde. Mit ungeschickten, tölpischen Bewegungen flatterte das Ding durch die Luft, stieß bald da, bald dort an ein Möbelstück oder an die Wand und fiel schließlich mit leisem Aufklatschen auf die Erde.
Man kennt diese Art Spielzeug heute noch. Später wurde es etwas besser, eleganter und wirksamer ausgeführt und nannte sich stolz Schraubenflieger, oder man brachte es auch in die Form eines großen, exotischen bunten Schmetterlings, mit dem man lustige Ueberraschungen bei Unvorbereiteten erzielen konnte.
Eine Belanglosigkeit, so möchte man sagen. Aber Isaac Newton sah einen reifen Apfel vom Baume fallen – was doch schon Millionen Menschen vor ihm gesehen hatten, ohne sich irgendetwas dabei zu denken – und fand aus dieser Beobachtung heraus die Gravitationsgesetze. Und die Brüder Wright verfolgten mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen den schwankenden Flug des kleinen Schraubenfliegers, der wenig später unter ihren allzu derben, ungeschickten Händen zerbrach. Allein damit wurde der Keim gelegt, der fortan wachsen und wachsen, die Sehnsucht geweckt, die sie nie mehr verlassen sollte.
Noch war das alles nur ein Spiel. Aber wenn man das Leben von Männern überprüft, die auf dem oder jenem Gebiet später eine besondere Bedeutung erlangt haben, dann begegnet man immer wieder der Erfahrung, daß vieles, was als Spiel begann, später zum Ernst wurde. Die methodische Unerbittlichkeit, die das philosophische Werk des großen Sohnes Königsbergs, Immanuel Kants, auszeichnete und sich in seinem Leben auf erstaunliche Art spiegelte, war eine Eigenschaft, zu der sich Kant schon in frühester Jugend mit ungeheurem Willensaufwand erzogen hatte. Winckelmanns Leben vollzog sich von Kindheit an bis zu seinem tragischen Ende durch Mörderhand in einer einzigen, schnurgeraden Linie, und als Schliemann sich daran machte, vor den staunenden Augen der Menschen des neunzehnten Jahrhunderts die Trümmer der homerischen Stadt Troja bloßzulegen, da erfüllte sich damit nur ein Traum, dem er von Kind auf nachgejagt war.
Die beiden Brüder sahen dieses kleine Abenteuer, dies überraschende Erlebnis einstweilen auch keineswegs anders an denn als ein nettes und unterhaltsames Spiel. Es tat ihnen weh, daß ihr Spielzeug ihnen so rasch unter den Händen entzweigegangen war – es schmerzte sie aber gewiß kaum mehr als ein kleines Mädchen, das seine zerbrochene Puppe beklagt und darüber in Tränen ausbricht. Immerhin: sie waren Jungens, und sie waren nicht danach geartet, sich einfach mit dem Verlust dieses netten Spielzeugs abzufinden, dieses bunten Dinges mit dem merkwürdigen Namen Helicoptere. Ob man es nicht selbst neu anfertigen könnte? Sie versuchten es, und sie versuchten, das Werk ihrer eigenen Hände besser zu machen, als jenes Spielzeug es war, das der Vater aus der Tasche gezogen hatte.
Besser machen, das konnte in diesem Zusammenhang aber nur bedeuten, es so zu machen, daß es länger, daß es höher und daß es ruhiger, schöner flog. Schraubenflieger nannte es sich ja, und das Fliegenkönnen war demnach seine besondere Eigenschaft, die es von jedem anderen Spielzeug unterschied.
Und dabei machten Wilbur und Orville nun eine äußerst merkwürdige Erfahrung. Sie bauten jeden neuen Flieger – dessen Konstruktion an sich ja wirklich so einfach und übersichtlich war, daß sie sich bei einiger Mühe und Geschicklichkeit leicht nachahmen ließ – immer größer als den vorangehenden. Aber das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatten, trat ein. Sie hatten gehofft, der größere Flieger würde eben auch weiter, länger, vielleicht sogar höher fliegen als der kleinere. Statt dessen flog er immer schlechter.
Die beiden waren noch zu sehr Kind, noch zu wenig geschult in selbständigem, folgerichtigem Denken, als daß sie aus dieser Beobachtung die naheliegenden Schlüsse zu ziehen vermochten. Den Schluß etwa, daß mit der Größe des Fliegers natürlich auch sein Gewicht, seine Schwere zunahm, daß es also einer stärkeren Antriebskraft, eines schnelleren Rotierens der Propeller bedurfte, um den Flieger in der Luft zu halten und sich ohne vorzeitigen Sturz fortbewegen zu lassen. Oder den anderen, daß die Kantenlängen des papierbespannten Bambusrahmens – der Tragflächen, würde man heute sagen – ein ganz bestimmtes, noch zu erforschendes Verhältnis zueinander haben mußten, um ein Maximum an Tragfähigkeit zu erreichen. Sie waren sieben oder elf Jahre alt, da lagen ihnen solche Gedanken noch fern. Da gab es noch keine abstrakten Vorstellungen, keine theoretischen Berechnungen, sondern nur praktische Versuche mit bescheidener Handfertigkeit und unzulänglichem Wissen.
Als diese Versuche, wie es nicht anders sein konnte, immer häufiger mißglückten, trat das ein, was bei natürlichen und gesunden Kindern das Selbstverständliche ist: enttäuscht und entmutigt, wurden die Brüder des weiteren Herumexperimentierens mit dem Helicoptere müde und wandten sich entschlossen einer anderen Beschäftigung, einem anderen Spiel und Spielzeug zu: dem Drachensteigenlassen.
Auch der Papierdrachen ist zunächst und in erster Linie ein Spielzeug. Wer den Drachen erfand, wer als erster einen Drachen in die Luft steigen ließ, in den Raum, den Wolken entgegen, wird sich mit Gewißheit kaum mehr ermitteln lassen. Vielleicht geschah es in China, manches spricht für eine solche Annahme. Und viele Erfindungen, viele »Errungenschaften«, auf die wir Europäer so stolz sind, weil es unsere Erfindungen sind, haben Jahrhunderte vorher im fernen Reich der Mitte ihre Wiege gehabt.
Wie dem auch immer gewesen sein mag: es gibt einen Weg, der führt von der Technik zum Spielzeug; da werden die für das »wirkliche Leben« gedachten Dinge, Eisenbahn etwa oder Schiff, Wogen oder Haus, in verkleinertem Maßstabe und oft genug mit verblüffender Genauigkeit nachgemacht, nachgestaltet, und so den Händen der Kinder anvertraut Und es gibt einen zweiten Weg, wo sich das »wirkliche Leben« des Spielzeugs und der an ihm gesammelten Beobachtungen und Erfahrungen bemächtigt und sie nun weiter ausbaut und zu neuen, wichtigsten Ergebnissen führt.
Beim Drachen war man diesen zweiten Weg gegangen. Es war Benjamin Franklin gewesen, der amerikanische Freiheitsheld und Staatsmann aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges, der bedeutende Physiker, der ihn, vor bald hundert Jahren, beschritten hatte. Sein Drachenexperiment ist in der ganzen Welt bekannt und berühmt geworden. Er hatte bei einem aufsteigenden Gewitter einen Drachen fliegen lassen, und als der einsetzende Regen die Drachenschnur feuchtete und also leitend machte, war es ihm gelungen, aus einem am unteren Ende der Schnur angebundenen Schlüssel die atmosphärische Elektrizität in sprühenden Funken herauszulocken. Seitdem war das Steigenlassen von Drachen in den Vereinigten Staaten zu einem ganz besonders populären und weit verbreiteten Sport unter der Jugend geworden – obwohl natürlich die Jugend fast aller Länder der Erde dieser Beschäftigung zu bestimmten Jahreszeiten huldigte –, und es gab keinen Staat im Bereich des Sternenbanners, in dem man ihm nicht mit Eifer und Leidenschaft nachging. Wissenschaftliche Experimente wurden dabei freilich selten gemacht.
Bei unzähligen Kindern ist das Steigenlassen eines Drachens ein kindliches Spiel und nichts anderes. Auch die kleinen Brüder Wright glaubten gewiß, daß es für sie nichts anderes sei. Sie konnten nicht wissen, nicht einmal ahnen, daß diese Beschäftigung gerade bei ihnen ganz im Rahmen ihres ihnen schicksalhaft vorgezeichneten Lebensweges liegen sollte. Sie ließen mit unermüdlicher Hingabe ihre selbstgefertigten Drachen steigen, und ganz unbewußt, instinktiv gleichsam, lernten sie dabei allerhand über Luftbewegung und Winddruck, über Beanspruchung und Gleichgewichtserhaltung eines in der Luft schwebenden Körpers. Eines Körpers, der hoch oben in der Luft blieb, obwohl er doch schwerer war als die Luft! Obwohl er doch eigentlich wie ein Stein zu Boden stürzen mußte.
Aber das tat er nicht. Es sei denn, daß er schlecht und ungeschickt gebaut war, daß man die »Bindung« ohne die erforderliche Sorgfalt und ohne genaue Berücksichtigung der Lage des Schwerpunktes befestigt hatte, daß man den Schwanz zu kurz gemacht hatte. Und selbst dann fiel er noch nicht herunter wie ein Stein, sondern er sperrte sich, er fing sich immer wieder, versuchte das verlorene Gleichgewicht zurückzugewinnen – kurzum, er »trudelte«.
Gleichgewicht, Schwerpunkt, Winddruck, Bauart, Trudeln – das waren eigentlich schon lauter technische, lauter wissenschaftliche Begriffe. Aber ehe die beiden kleinen Wrights noch dazu kamen, richtig und ernsthaft über das alles nachzudenken, ging es ihnen wie den Brüdern Lilienthal drüben in Deutschland, von denen sie bislang freilich noch nichts, nicht einmal den Namen, gehört hatten. Wie die Lilienthals aus Besorgnis über den Spott ihrer Kameraden ihre so merkwürdigen Flugversuche nur noch bei Nacht ausführten und schließlich ganz aufgaben, so fürchteten auch Wilbur und Orville Wright, ihre Altersgenossen könnten es lächerlich finden, wenn sie immer noch, obwohl sie allmählich älter wurden, am Drachen »kleben blieben«. Und entschlossen wandten sie deshalb einer Beschäftigung den Rücken, die, wie sie selbst meinten, nicht mehr recht zu Jungens ihres Alters paßte.