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Dramatische Augenblicke

Wer aufmerksam die Geschichte der Technik studiert – deren höchstes und letztes Ziel ja nichts anderes sein kann als die möglichst vollkommene Beherrschung der Naturkräfte und ihre Dienstbarmachung für die Zwecke der Menschen –, wird immer wieder feststellen können, daß eine Erfindung auf irgendeinem speziellen Gebiet früher oder später fördernd und befruchtend auf ganz anderen Gebieten sich auswirkt.

Da war nun das Auto. Schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten fast gleichzeitig, wenn auch vollkommen unabhängig voneinander, Nikolaus Otto in Köln und ein biederer Uhrmacher in München, Christian Reithmann, den Viertaktmotor erfunden, den wir, von geringen Aenderungen abgesehen, noch heute benutzen. Zehn Jahre später erhielt Carl Benz in Mannheim das erste Patent auf ein »Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb«, und damit war der Kraftwagen, das Auto, geboren, genau zehn Jahre vor dem tödlichen Sturz Otto Lilienthals, fast zwanzig Jahre vor den Versuchen der Brüder Wright über dem Kill-Devil-Hügel in Nord-Carolina. Ueber Daimler, Maybach, de Dion und viele, viele andere setzte eine anfangs langsame, dann immer stürmischer werdende Entwicklung ein.

Auch hier war die Problemstellung in einzelnen Punkten ähnlich jener, der sich die Brüder Wright vor Augen sahen. Auch hier hieß eine der wichtigsten Fragen: Wie kann man möglichst lange Strecken zuverlässig und mit einem Maximum an Geschwindigkeit überwinden? Wie kann man schnell und trotzdem sicher fahren? Und eine der – theoretischen – Antworten hieß und mußte heißen: indem man das Gefährt möglichst leicht macht. Und das wieder ließ sich, unter anderem, sicher auch dadurch erreichen, daß man den Motor bei gleichbleibender Nutzleistung leichter machte. Das war eine der Voraussetzungen – und nach der Erfindung des Viertaktmotors beinahe die wichtigste für die Schaffung eines im heutigen Sinne wirklich brauchbaren Automobils.

Um 1900, als die Brüder Wright noch am Anfang ihrer Flugversuche standen, wog der beim Kraftwagen benutzte Motor im Durchschnitt etwa 10 kg je Pferdestärke. Ein paar Jahre später war das Gewicht schon auf fünf, ja, auf vier kg für die Pferdestärke gesunken. Und damit hatte das Problem des Fliegens mit einem Schlage und sozusagen über Nacht ein neues Gesicht bekommen. Wenn es möglich war, in den Flugapparat, den einfachen Gleitflieger, einen treibkräftigen und einigermaßen leichten Motor einzubauen, der den Flugapparat mit unwiderstehlicher Kraft durch die Luft zu reißen vermochte, dann war der Augenblick gekommen, in dem diese Flugmaschine zu einem Verkehrsmittel allgemeiner Art werden konnte – ganz so, wie es das Automobil bereits geworden war.

Es gibt leider keine Quellen, keine Veröffentlichungen irgendwelcher Art, aus denen zu ersehen ist, wie die Brüder Wright erstmalig auf den Gedanken kamen, dem Gleitflieger den Rücken zu kehren und aus ihm, durch Einbau eines Motors, ein Flugzeug im heutigen, modernen Sinne zu machen. Und wir wissen auch nicht, wer von den beiden als der eigentliche Anreger zu gelten hat. Viel spricht dafür, daß auch hier, wie schon bei der ersten fliegerischen Betätigung überhaupt, dem Älteren, Wilbur Wright, die Palme gebührt. Die beiden haben sich darum nie eifersüchtig und auf öffentliche Anerkennung bedacht zerstritten. Sie hätten, gefragt, wohl, mindestens sinngemäß, mit den Worten Goethes geantwortet: »Seid froh, daß ihr überhaupt zwei solche Kerle habt!« Und in der bescheidenen ersten Veröffentlichung Wilbur Wrights in der Zeitschrift des Vereins der westamerikanischen Ingenieure vom Dezember 1901 »Einige aeronautische Versuche« war ja vom Motorflug noch keine Rede, konnte davon keine Rede sein.

Im übrigen lag natürlich der Gedanke, sich durch einen dem Flugzeug eingebauten Motor von dem Wind und dem Abflug von einer Bodenerhebung unabhängig zu machen, gewissermaßen in der Luft. Uns Heutigen erscheint er als ein sehr einfacher, ja, selbstverständlicher Gedanke. Aber alle wahrhaft großen Gedanken waren auch immer einfache Gedanken, und sie wurden erst selbstverständlich, nachdem einer sie gefaßt, in die Tat umgesetzt und die Möglichkeit, sie zu verwirklichen, bewiesen hatte.

Die Wrights hatten schon auf dem Gebiet des Gleitfluges ein Stadium der Entwicklung erreicht, über das hinaus eine Steigerung nach ihrer Meinung und auch nach der späterer Fachleute kaum mehr denkbar war. Wobei immer wieder bedacht werden muß, daß der später zu so schönen Erfolgen gebrachte Segelflug etwas vom Gleitflug grundsätzlich Verschiedenes darstellt. Sie hatten ferner, im Verlauf ihrer unzähligen Versuche, als wesentlichste Leistung den endgültigen Verzicht auf jede Stabilisierung durch Veränderung der Gleichgewichtslage, also durch die Körperbewegung des Fliegers, ausgesprochen.

Zu der ersten Entwicklungslinie, dem Gleitflug, mußte sich als zweite, wie schon kurz angedeutet, die der Motorentechnik gesellen. Erst als es gelang, den Benzinmotor, der zu Anfang der Automobilindustrie für jede Pferdestärke noch einen Gewichtsaufwand an Material in Höhe von rund 15 oder bestenfalls 10 kg brauchte, leichter und leichter zu machen, seine Leistung, d. h. die Umdrehungszahl je Minute von anfänglich achthundert Umdrehungen auf das Dreifache und immer mehr zu steigern, konnte sich aus dem Schnittpunkt dieser beiden Entwicklungslinien der Ansatzpunkt für etwas ganz Neues ergeben, für den: Freien Flug!

Ein solches Fortschreiten bedurfte der Zeit. Wenn die Natur keine Sprünge macht, so macht sie die Technik auch nicht. Nur ihr Tempo kann sich unter bestimmten Voraussetzungen immer mehr beschleunigen. Konstruktionsverbesserungen mußten Hand in Hand mit Verbesserungen, Verfeinerungen, Vervollkommnungen der Baustoffe gehen, des Stahls etwa und des Aluminiums und der Bronzen, auch mit der Verbesserung der Bearbeitungsmethoden. Das aber war ein langer, schwieriger und an Enttäuschungen und fehlgeschlagenen Hoffnungen reicher Weg.

Den Brüdern Wright war das Automobil natürlich nichts Fremdes. Als Besitzer einer Fahrradfabrik waren sie selbstverständlich an der Entwicklung dieses neuen Verkehrsmittels viel zu sehr interessiert, als daß sie seinen Weg nicht vom ersten Augenblick an mit lebhaftestem Interesse verfolgt hätten. Es war kein bloß theoretisches Interesse. Sobald das Automobil aus seinem ersten Stadium, aus seinen Kinderschuhen gleichsam, heraus war, sobald es sich aus einem schwerfälligen und ungefügen Vehikel zu einem schon relativ schnellen und brauchbaren Fahrzeug entwickelt hatte, wurden die Wrights selbst Eigentümer eines solchen, von einem Benzinmotor angetriebenen Kraftwagens. Und nun geschah das, was offenbar immer geschehen muß, wenn auf irgendeinem Gebiet des Geistes etwas Großes geboren werden soll, und wofür die Beobachtung Newtons an dem fallenden Apfel das für alle Zeiten geltende und überzeugende Beispiel darstellt.

Die Geburt des Flugzeuges im modernen Sinn, des motorisierten Gleiters also, vollzog sich nicht ohne Dramatik, eine nüchterne, nicht gerade ins Auge fallende Dramatik freilich.

Der Gleiter der Wrights hatte noch keine Räder. Auf die Zweckmäßigkeit, ja, vielleicht Notwendigkeit, diesen Flugapparat mit einem Fahrgestell zu versehen, war noch niemand gekommen. Auch die Wrights nicht, die doch sonst voller Ideen und Einfälle steckten. Wozu auch? Beim Abflug packten zwei Männer den Apparat an beiden Seiten und liefen damit hügelab so lange, bis die Tragflächen genug Wind, genug Luftwiderstand eingefangen hatten, um sich und damit den ganzen Apparat nebst seinem Insassen vom Boden zu lösen. Und was die Landung anbelangte: hatten die Wrights nicht durch das vorn angebrachte Höhensteuer es ermöglicht, daß sie, mit sanftem Heben dieser vorgebauten kleinen Tragfläche, selbst bei starkem Wind und verhältnismäßig großer Geschwindigkeit des Gleiters den Apparat ganz sanft, beinahe ohne spürbaren Stoß oder Ruck, auf den Boden aufzusetzen vermochten?

Nun also hatten sie ihr Automobil. An ihre Fliegerei hatten sie bei seinem Erwerb zunächst nicht gedacht. Dieser Gedanke kam ihnen erst jetzt und ganz plötzlich. Sie hatten mit dem neuen Fahrzeug eine Menge guter und eine noch größere Menge schlechter Erfahrungen gemacht. Die schlechten Erfahrungen hauptsächlich auf den amerikanischen Landstraßen oder dem, was man drüben, im Lande der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten, Landstraßen nannte. Das waren Wege, die man größtenteils noch im »Urzustand« belassen hatte, denn Amerika hatte ja das Land von Anfang an überwiegend durch Eisenbahnen erschlossen und die Verbindungen zwischen den einzelnen Städten und Städtchen völlig vernachlässigt. Nun aber brachten die Wrights ihr Automobil nach Kitty Hawk, und der glatte Strand, ohne Unebenheiten, ohne Vegetation, durch die Einwirkungen von Wind und Wasser sozusagen auf natürlichem Wege befestigt und glattgewalzt, entsprach fast einer modernen Asphaltbahn. Hier mußte jedes Auto zeigen, was es hergab, was in ihm steckte. Aber noch etwas anderes mußte mit seiner Hilfe durchführbar sein. Es mußte sich ermöglichen lassen, mit Hilfe des Kraftwagens auf den Beistand der Monteure zu verzichten, die bislang den Gleitflieger laufend in Bewegung setzten.

Das war nur eine Frage der Praxis, das war keine geniale Idee. An irgendeinem schönen Frühherbsttage dieses Jahres 1902, in dem sie schon so viele Versuchsflüge ausgeführt hatten, kamen die beiden Brüder darauf, den Abflug des Gleiters dadurch zu verbessern, daß sie ihr Auto als Vorspann nahmen. Wilbur setzte sich in den Wagen, und während er den Motor anließ, daß er laut zu rattern und zu lärmen begann, wurde die Hinterachse des Kraftwagens durch die beiden Hilfsmonteure vermittels eines kräftigen Hanfseils mit dem Flugapparat verbunden. Orville Wright legte sich in nun schon gewohnter Stellung auf die untere Tragfläche des Gleiters, die Mechaniker hoben den Apparat nebst dem darin liegenden Flieger bis in Kopfhöhe empor, ein Pfiff als Signal, der Wagen sprang an und setzte sich auf der glatten Bahn fast mühelos in Bewegung, das Seil straffte sich, ein kleiner Ruck, die Mechaniker ließen den Apparat los und ...

Und wie ein Drachen, von einem dahinstürmenden Jungen gezogen, an dem Widerstand der Luft wie an einer Leiter in die Höhe steigt, so hob sich der Gleitflieger, dessen Höhensteuer, also die vorgebaute kleine Tragfläche, von Orvilles sachkundiger Hand ruhig bedient wurde, empor. Sehr schnell hatte er eine Höhe von erst zwanzig, wenig später dreißig Metern gewonnen, und in dieser Höhe folgte er dem über die glatte Sandfläche dahinstiebenden Auto. Manchmal warf Wilbur Wright einen Blick rückwärts und nach oben. Dann nickte ihm sein Bruder Orville zuversichtlich und beruhigend zu. Er strahlte. Diesmal was es eine ungeschmälerte Lust, durch die Luft zu gleiten, nicht mehr nur Sekunden, bestenfalls Bruchteile von Minuten lang – hatte doch der bislang längste Flug nur ganze sechsundzwanzig Sekunden gedauert! – sondern eine Viertelstunde und noch eine und eine dritte dann.

Noch war der Flugapparat durch ein Seil mit dem Kraftwagen und damit mit der festen Erde verbunden. Aber schon merkte Orville Wright, daß dies hier etwas anderes war als die bisherigen Gleitflüge, bei denen man auch im besten Fall von Sekunde zu Sekunde an Höhe verlor und verlieren mußte. Jetzt galt es, sich für lange Zeit in der Luft zu halten, jetzt mußte sich alles einmal wirklich und bis ins Letzte bewähren, woran man so lange Zeit geklügelt und gebastelt und gesonnen hatte. Bald mußten die seitlichen Verwindungen der Tragflächen betätigt werden, dann wieder war das Höhensteuer in Bewegung zu setzen, um eine Einbuße an Höhe wieder wettzumachen, oder das Seitensteuer, das aufs Haar den Aufgaben eines Steuerruders bei einem Schiff angeglichen war; denn man mußte ja die Bewegungen, die Richtung besser gesagt, des Gleiters der des Kraftwagens anpassen. Und in demselben Maße, wie Orville Wright sich immer sicherer und sicherer fühlte, wurde er auch zuversichtlicher und kühner. Jetzt lockte ihn schon das Wagnis, das Abenteuer. Er machte eigene Manöver, wie sie der Augenblick ihm eingab, und etwas besorgt sah Wilbur in seinem Wagen unten, wie sein sonst gleich ihm so besonnener Bruder bald in einer Höhe von nun schon fünfzig Metern über der Erde schwebte, bei durchhängendem und im Winkel von etwa 45 Grad nach oben führenden Seil, bald mit seinem Apparat nur wenige Meter über der Erde dahinfegte.

Nach mehr als einer Stunde gebot die Natur selbst Halt. Unebenheiten und Hindernisse am Strand machten eine Weiterfahrt des Wagens unmöglich. Mindestens eine Fahrt mit der bisherigen Geschwindigkeit. Immer mehr verlangsamte Wilbur Wright das Tempo seines Wagens, endlich blieb er ganz stehen. Wenige Sekunden später setzte auch der Flugapparat, den nun keine treibende oder vielmehr ziehende Kraft durch den Raum riß, sanft und ohne Erschütterung auf.

Steifbeinig kletterte Wilbur Wright aus seinem Auto. Durchglüht von Sonne, Luft und Wind, durchglüht vor allem von diesem wunderbaren, einzigartigen Erlebnis – man denke doch: eine Stunde in der Luft! – erhob sich Orville und entstieg dem Gleiter.

Die Brüder, wortkarg und beherrscht in jeder Situation, blickten sich an, während sie sich die Hand reichten.

»Nun?«, fragte Wilbur Wright.

»Der Motor ...« begann der Jüngere stockend. »Ich weiß«, unterbrach ihn Wilbur. »Der Motor muß aus dem Wagen ins Flugzeug. Dann geht alles in Ordnung.«

In dieser Sekunde vollzog sich die geistige Geburt des Motorflugzeuges.

Freilich: von dem Augenblick der geistigen bis zu jenem der wirklichen Geburt war ein weiter Weg. Er war genau so lang wie der Weg vom Hirn zur Hand und genau so kurz. Bei den Brüdern Wright kostete er runde drei Jahre.

Siehe Bildunterschrift

Figur I. zum Patentantrag von O. & W. Wright Flying Machine vom 23. März 1903 (Ausschnitt).
Quelle: de.wikipedia.org

Dies ist nun allerdings nicht so zu verstehen, daß all die Zeit über so gut wie nichts geschah und dann plötzlich der fertige Flugapparat dem Hirn der Brüder Wright entsprang wie einst Pallas Athene dem Haupt des Zeus. Diese drei Jahre, diese mehr als tausend Tage, waren ein ewiges Auf und Nieder, waren erfüllt von theoretischen Planungen und Berechnungen und praktischen Versuchen, und schon lange vor ihrem Ablauf, schon am 17. Dezember 1903, wurde am Kill-Devil ein erster Probeflug mit eingebautem Motor ausgeführt, der von vielen als der eigentliche Geburtstag der ersten, freifliegenden und mit eigener Kraft vorwärts getriebenen Flugmaschine angesehen wird. Aber dieser Flug dauerte nur neunundfünfzig Sekunden, die zurückgelegte Strecke betrug nur 260 Meter, der Flugapparat selbst wurde nach der Landung und nachdem Orville Wright ihn bereits verlassen hatte, durch einen plötzlichen Windstoß erst in die Höhe gerissen, dann zu Boden geschleudert und dabei so gut wie völlig vernichtet. Es ist deshalb Ansichtssache, ob man diesen Flug schon mit einem so ehrenden Namen »erster Motorflug« belegen will oder nicht eher als das gelten lassen sollte, was er in Wahrheit war: einer der ungezählten Versuche der Wrights während dieser drei Jahre bis 1905, ein wirklich brauchbares – darauf ging ja das ganze Streben letzten Endes hinaus! – freifliegendes und motorisiertes Flugzeug zu schaffen.

Von dem ursprünglich geplanten Motor mit 8 PS gingen die Brüder im Lauf ihrer Vorbereitungen auf einen solchen von 16 PS über, der einschließlich Vergaser und Schwungrad 62,5 kg wog. Die Schrauben waren zunächst ganz einfach konstruiert und ähnelten völlig den in der Schiffahrt noch heute üblichen. Sehr bald aber entschlossen die Wrights sich zu einer Form, die den heutigen Flugzeug-Propellern im wesentlichen entsprach. Die beiden Propeller waren unmittelbar hinter den Haupttragflächen angebracht und machten 1200 Umdrehungen in der Minute, das Flugzeug wurde also durch die Luft geschoben und nicht, wie bei den heutigen Konstruktionen, durch die Luft gezogen. Auch hier war noch deutlich die Anlehnung an den Schiffbau zu erkennen.

Vielleicht bedurfte es dieses ersten, durch die Zerstörung des Flugapparates so unglücklich ausgegangenen Versuches, um die Entwicklung nun erst richtig voranzutreiben. Es erweist sich ja gerade auf technischem Gebiet immer wieder, daß es die Widerstände sind, an denen ein Plan wächst und reift. Im Laufe von fast drei Jahren, vom Dezember 1902 bis zum Ausgang des September 1905, wurde nach zahlreichen Versuchen, Messungen, theoretischen Berechnungen der verschiedensten Art jener neue Apparat geschaffen, der als »Wrightflugzeug« ein technischer Begriff werden sollte und in die Geschichte der Aviatik, wie man die Fliegerei mit Flugzeugen »schwerer als Luft« nun allgemein nannte, eingegangen ist. Der Motor, den sie selbst gebaut hatten – »damit haben wir uns unabhängig von den überspannten Forderungen und auch von der Unzuverlässigkeit spekulierender Fabrikanten gemacht«, so ungefähr äußerte sich Wilbur Wright einmal, als er mit stolzer Bescheidenheit darauf hinwies, daß alles, aber auch alles an ihrem Flugzeug in eigener Werkstatt und beinahe restlos auch durch ihrer eigenen Hände Arbeit entstanden war –, dieser Motor also hatte statt der ursprünglich geplanten acht, dann auf sechzehn gesteigerten PS jetzt runde fünfundzwanzig Pferdestärken, seine Kraftleistung hatte sich also in verhältnismäßig kurzer Zeit verdreifacht. Die Übertragung der Umdrehungen des Motors auf die beiden hölzernen Propeller erfolgte mittels Fahrradketten, und es lag natürlich nichts näher als das, da die Brüder doch die Besitzer einer nach wie vor gutgehenden Fahrradfabrik waren. Sogar für die Bequemlichkeit war Sorge getragen worden. Hatte der Flieger bisher sowohl beim Gleiten als auch bei den ersten Versuchen mit dem motorisierten Flugzeug bäuchlings auf der unteren Tragfläche liegen müssen – eine Stellung, die nicht nur bei den etwaigen und doch als Ziel vorschwebenden längeren Flügen lästig werden mußte, sondern auch das Blickfeld beengte, da das Gesicht unmittelbar der Erde zugewandt war –, so war jetzt für ihn ein leichtes Bambusstühlchen eingebaut, der Vorläufer des modernen, mit allen Errungenschaften der Technik ausgestatteten Führersitzes.

Seit vielen Monaten schon waren die Brüder Wright dem alten Übungsgelände am Kill-Devil bei Kitty Hawk in Nord-Carolina untreu geworden. Sie waren mit ihrem Apparat über die Appalachen hinüber nach Osten, in den Staat Ohio, ihre Heimat, gezogen, wo ihnen der Bankdirektor Huffmann in der nach ihm genannten Prärie, siebzehn Kilometer östlich von Dayton, ein noch besser geeignetes Gelände zur Verfügung gestellt hatte. Auf die Mitwirkung ihres Autos mußten sie und wollten sie ja von vornherein verzichten. Ging doch das Ziel dahin, sich frei fliegend ganz von der Erde zu lösen, und nicht nur für wenige Minuten Dauer, wie beim Gleitflieger, nicht nur bei mäßiger Geschwindigkeit und in bescheidener Höhe über dem Erdboden, sondern unter voller Ausnutzung der im Motor gebundenen Kräfte und bei ständiger Steigerung der Geschwindigkeit in Höhen des Luftraumes, die bis dahin jedem Menschen verschlossen gewesen waren, die nur der sehnsüchtig den Wolken folgende Blick durchwandern konnte. Da konnte ein Auto nur hinderlich sein. Vielleicht würde das Flugzeug die Geschwindigkeit des Kraftwagens sehr bald übertreffen, vielleicht würde es in vorher nicht entfernt erreichte Höhen hinaufklimmen! Nun, wie dem auch immer sein mochte: die letzte Verbindung zwischen Flugzeug und Erde, zwischen Flieger und Erde, diese »Nabelschnur« in Gestalt eines zuletzt bei den Gleitflügen schon zweihundert Meter lang gewordenen Hanfseiles, sie mußte fallen, und sie fiel.

Aber das Flugzeug hatte keine Räder, es hatte kein Lauf- oder Fahrgestell. Die Wrights hatten auch daran des öfteren gedacht, aber sie hielten die von ihnen ersonnene Konstruktion aus vielerlei Erwägungen für zweckvoller. Ja, noch Jahre danach haben sie an ihr festgehalten, ehe sie sich endlich entschlossen, den Weg zu gehen, zu dem andere Erfinder, andere Fliegerpioniere längst gekommen waren.

Diese Konstruktion war vielleicht praktisch – die Brüder behaupteten jedenfalls Jahre hindurch, mit ihr die denkbar besten Erfahrungen gemacht zu haben. Aber einfach war sie nicht. Die Ablaufvorrichtung oder Startvorrichtung, wie man wohl besser sagen müßte, bestand aus einer etwa zwanzig Meter langen Holzbahn und einem etwa zehn Meter hohen Fallturm. Der Flugapparat wurde auf einen kleinen Wagen gesetzt, der mit Hilfe eines Seilzuges und eines fast sieben Zentner schweren Fallgewichtes, das vorher im Turm hochgewunden werden mußte, schnell vorwärts gerissen wurde. Infolge der dadurch erreichten Geschwindigkeit und des auf die Tragflächen einwirkenden Luftdruckes hob sich das Flugzeug schon nach wenigen Metern von dem Wagen ab und konnte nun sein Eigenleben beginnen. Nicht gerade ein Non plus ultra an technischer Vollkommenheit, wie man sagen muß. Aber die Brüder Wright fanden, daß diese Start Vorrichtung ihren Zwecken durchaus entsprach und genügte. Sie standen zu ihr wie zu einem unter besonders großen Schmerzen geborenen und deshalb besonders innig geliebten Kinde und hielten ihr, wie schon gesagt, durch Jahre hindurch die Treue. Hielten zäh an ihr fest noch in einem Augenblick und zu einer Zeit, als diese Beharrlichkeit leicht ihren Ruf als vorwärts gerichteter Erfinder hätte gefährden können.

Die praktischen Versuche mit dem neuen 25-PS-Motor auf der Huffmann-Prärie hatten im August 1904 begonnen. Schlechtes Wetter, heftige Regengüsse, ja, Wolkenbrüche wirkten oft störend; witterungsmäßig hatten die Brüder ausgesprochen Pech, und dennoch führten sie in den letzten vier Monaten des Jahres 1904 mehr als hundert Flüge durch, mit wechselnden Ergebnissen. Aber sie waren gewohnt, auch Mißerfolge in Kauf zu nehmen, sich nicht nur mit ihnen abzufinden, sondern sie zu Erfolgen umzuschmelzen, indem sie aus den bei solchen Gelegenheiten gemachten Erfahrungen und Beobachtungen ihre Lehren zogen. Lehren, die ihren Niederschlag in zahlreichen kleinen und kleinsten Änderungen und Verbesserungen fanden.

Die durch den Winter und das Winterwetter unterbrochenen Versuche wurden im Frühjahr 1905 fortgesetzt, nun mit noch größerem Eifer. Aber erst gegen Ende des Sommers wurden die Erfolge immer sichtbarer, immer überzeugender. Und endlich, am 26. September, kam der große Tag!

Es war ein schöner, fast windstiller Frühherbsttag, ein Tag, wie wir ihn alle kennen und lieben. Das weite Land, die Prärie, breitete sich in durchsichtiger Klarheit vor den Blicken aus, der Himmel spannte sich seidenglänzend, wie eine gläserne Kuppel über der Erde, als Orville Wright den Flugapparat bestieg und sich bequem und ruhigen Herzens, voller Zuversicht, in das Bambusstühlchen setzte. Der Motor wurde angeworfen, und erst langsam, dann immer schneller, knatternd, lärmend, peitschten die Propeller die Luft.

Äußerlich ruhig, jede etwaige innere Nervosität und Sorge verbergend, breitbeinig und sicher stand Wilbur Wright, der Ältere, an der Seite. Ein kurzer Blickwechsel zwischen den Brüdern. Orville nickte, der Schatten eines Lächelns huschte über seine Lippen, die Pfeife, aus der ein dünnes Wölkchen zarten Tabakrauchs in die Luft stieg, nahm er nicht aus dem Mund. Aus diesem Blick sprach die Zuversicht, das gelassene Vertrauen zweier Menschen, die durch mehr verbunden, tiefer miteinander verknüpft waren, als es Brüder gewöhnlich sind. So viele lange Jahre gemeinsamen Wollens, gemeinsamer Arbeit, gemeinsamen Glaubens hatten die beiden zu einer Art siamesischer Zwillinge im geistigen Sinne verwachsen lassen.

»All right!« sagte Orville Wright von der bescheidenen Höhe seines beinahe spielerisch anmutenden Führersitzes aus, und der Bruder Wilbur hob die Hand. Das Gewicht am Ablaufturm fiel, langsam zunächst, dann immer sichtbarer dem Beschleunigungsgesetz des Falles folgend, bodenwärts, der Wagen, auf dem der Flugapparat stand, setzte sich mit zunehmender Geschwindigkeit in Bewegung. Da! Die Luft hatte sich unter den großen, weit ausladenden Tragflächen gefangen, nun löste sich die Maschine sanft und wie selbstverständlich von dem Wagen, diesem ersten Vorläufer des späteren Fahrgestells, des »Fahrwerks«, wie der heutige umfassende technische Ausdruck für Fahrgestell und Schwanzsporn lautet, und hob sich in die Luft.

Hatte sich eigentlich viel geändert in diesen drei Jahren? Die beiden Brüder, überzeugt davon, daß ihr großer Gedanke doch eigentlich ein einfacher, ja, selbstverständlicher Gedanke gewesen sei, empfanden es kaum so. Damals – wie gut sie sich noch an alle Einzelheiten erinnerten! – hatte ihr Auto den Gleiter wie einen Drachen durch die Luft gezogen und ihn wie einen Drachen in den Äther steigen lassen. Jetzt hatte man den Motor aus dem Kraftwagen in das Flugzeug gesetzt, und die rasend sich drehenden, hinten an den Tragflächen angebrachten Propeller schoben das Flugzeug durch die Luft, wie das Auto es vorher gezogen hatte. Das war eigentlich alles. Aber es war viel. – sehr viel!

Oben, über den Köpfen von Wilbur Wright und den wenigen Zuschauern, die teils von den Brüdern besonders eingeladen, teils durch das Gerücht, diesmal sei etwas Besonderes zu erwarten, auf die Huffmann-Prärie hinausgelockt worden waren, beschrieb das Flugzeug seine Kreise. Ruhig durchschwebte es seine Bahn, gehorchte widerstandslos und ohne Zögern der leisesten Bewegung des Steuerknüppels.

Wilbur Wright hatte den Kopf in den Nacken geworfen und beobachtete seinen Bruder. Manchmal nur warf er einen schnellen Blick auf die Uhr, die er in der Rechten hielt. Dann entspannte sich vorübergehend sein ernstes und gesammeltes Gesicht. Manchmal schien es ihm, als sehe er, wie aus Orvilles Tabakspfeife ein Rauchwölkchen stieg und vom Luftdruck, trotz des fast windstillen Tages, wie ein blaues Fähnchen waagerecht davongetrieben wurde. Aber das war natürlich Einbildung, das war eine optische Täuschung – so scharf war kein Menschenauge, daß es derartiges hätte erkennen können. Und ein leises Lächeln wehrte vorübergehend dem Ernst, der immer wieder das Antlitz des Mannes unten auf der Erde beherrschte.

Neben Wilbur Wright stand einer von der Presse. Die Brüder hatten ihn eingeladen, er vertrat eine der bekanntesten amerikanischen Automobilzeitschriften. Fachzeitschriften für den Flugzeugbau gab es ja noch nicht – das war noch immer ein abseits liegendes Gebiet, für das sich nur wenige interessierten, aktive Flieger und Erfinder und Experimentatoren. Gewissenhaft vermerkte er jede geflogene Runde. Eine, zwei drei ... immer mehr, immer mehr. Und jede Runde innerhalb der abgesteckten Bahn, das war eine Seemeile, eine englische Meile, das waren mehr als tausendachthundert Meter.

Und Orville Wright, oben, im Flugzeug? Zum ersten Male ging ein Urtraum der Menschheit wirklich in Erfüllung, schenkte sich einem Menschen das Erlebnis des Fliegens. Die Gleitflüge der früheren Jahre, von nur wenigen Sekunden Dauer, die rechneten ja noch nicht. Zum ersten Male hatte sich der Mensch aus den schirmenden, hütenden Händen der Mutter Erde gelöst, sich ihrem Schürzenband – es war, wir sahen es, noch vor gar nicht langer Zeit ein einfaches Hanfseil von zweihundert Metern Länge gewesen – entrissen. Zum ersten Male war ein Mensch – war der Mensch – aus einem Flächenwesen zu einem Raumwesen geworden. Hatte sich gelöst von den Hindernissen, denen man auf der Erde überall begegnet, von den Häusern und Mauern und Wäldern und Feldern, von den Flüssen und Steinen und Sümpfen und Hecken. War er frei geworden von aller Erdgebundenheit in einem Maße, wie man es bislang noch nicht gekannt, noch nicht für möglich gehalten hatte. Er hatte sich der Unendlichkeit des Äthermeeres anvertraut, und der Äther hatte das Vertrauen gelohnt, hatte den Menschen getragen, ihn nicht, wie einst Ikarus, zu Boden stürzen lassen. Ruhend auf den breiten Flächen der von ihm ersonnenen Maschine überließ er sich der Luft, die ihn trug. Und getrieben zugleich von den rasend rotierenden Propellern durchstieß er den Raum, einen ersten Schritt, einen winzigen Schritt näher zu den Sternen zu gelangen.

Dies war ein Rausch, aus dem Taumel der Lebensfreude und aus Todestrunkenheit seltsam genug gemischt. Frei von der Kette der Schwerkraft, die bislang alles Lebende an der Oberfläche der Erde kleben ließ, war es fast ein Weg zu Gott. Eine Aufhebung eben dieser Schwere, ein Abwerfen des Joches.

Aber empfand Orville Wright, während er da oben Runde um Runde abflog, das alles wirklich so? Kaum! Nicht etwa, weil er, als Amerikaner, dazu zu nüchtern, zu sachlich, zu real dachte. Sondern aus einem andern, sehr viel tiefer liegenden und doch sehr viel überzeugenderen Grund. Die Brüder Wright waren ja wirkliche Pioniere der Luft. Sie waren, in diesem Augenblick gerade, im Begriff, sich und damit der Menschheit das Luftmeer zu erobern. Und es ist eine alte Erfahrungstatsache, daß derartige Eroberer, die wagemutig Erstmaliges vollbringen, ihre ganze Kraft erschöpfen in der Tat selbst. In ihr würden sie sich verbrauchen, und es würde ihnen keine Kraft übrig bleiben, das Tun, das Geschehnis, ins Erlebnis umzuschmelzen. Das sollte erst späteren Geschlechtern zuteil werden.

Dies bedenkend, wird man die kleine Szene verstehen, die sich abspielte, als das Flugzeug nach der zehnten Runde, nach Zurücklegung einer Strecke von zehn englischen Meilen – fast genau achtzehn Kilometern – und nach einer Flugdauer von achtzehn Minuten und neun Sekunden – also fast genau einer Minute je Kilometer – sich dem Erdboden näherte und sanft gleitend nahe der Abflugstelle aufsetzte.

»Schon?« fragte Wilbur, der Ältere, mit bedauerndem Tonfall den Bruder. Es hätte, seiner Meinung nach, doch ruhig immer so weitergehen können.

Etwas ungelenk erhob sich Orville Wright von seinem Bambusstühlchen, kletterte langsam aus dem Flugzeug heraus. Er zuckte ein bißchen mit den Achseln.

»Die Kerzen«, sagte er ruhig. »Verrußt – zwei Stück.« Dann stopfte er sich gemächlich die Pfeife, die da oben, in der Luft, ihm schließlich doch ausgegangen war.

Eine kleine Motorpanne, sonst nichts. Wirklich nicht der Rede wert. Mit derartigen Störungen würde man immer wieder rechnen müssen, und man würde immer bessere Mittel und Wege finden, um sie in Zukunft, wenn auch nicht gerade ganz auszuschließen und unmöglich zu machen, so doch nach Kräften zu vermeiden.

Freilich: zwei Minuten später hätte Orville Wright ohnehin landen müssen. Der mitgenommene Benzinvorrat reichte nur für zwanzig Minuten Flugdauer. Aber auch hier gab es eigentlich keine Schwierigkeiten. Ein größeres Benzinreservoir ließ sich zweifellos ohne viel Mühe einbauen.

Genau zehn Tage später, am 5. Oktober 1905, flog Wilbur Wright in achtunddreißig Minuten neununddreißig Kilometer!


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