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Mißtrauen überall

Man hätte annehmen müssen, daß diese fliegerischen Leistungen alsbald einen lauten Widerhall in der ganzen Welt weckten. Denn wenn auch die Idee als solche sozusagen in der Luft lag, wenn auch schon viele Erfinder, Techniker, Forscher da und dort, hüben und drüben, sich mit ihr beschäftigten, theoretische Erwägungen anstellten, rechneten, zeichneten, Modelle bauten – die Tatsache blieb nun einmal nicht zu leugnen, daß es die Brüder Wright waren, die die Idee in die Tat umsetzten, die als erste Menschen sich im freien Flug bald dreiviertel Stunden in der Luft hielten, Dutzende von Kilometern in dem Luftmeer zurücklegten.

Aber das Gegenteil von dem uns heute als selbstverständlich Erscheinenden trat ein. Gewiß hatte jener Berichterstatter, jener Reporter, der mit größter Gewissenhaftigkeit die von Wilbur Wright zurückgelegten Runden notiert hatte, dem Blatt, das er vertrat, eine ausführliche Darstellung der Vorgänge auf der Huffman-Prärie übermittelt. Er hatte es getan, obwohl er nicht zu diesem Zwecke von den Brüdern eingeladen worden war. Und es war den Wrights aus mancherlei Gründen nicht einmal recht, daß er es getan hatte. Auch fanden sich bei den jeweiligen Versuchsflügen schon seit geraumer Zeit in wachsendem Umfange Einwohner von Dayton ein, die interessiert und teilweise begeistert die wachsenden Leistungen der Brüder, die ihnen allen ja seit langem bekannt und vertraut waren, beobachteten.

Dennoch blieb der Widerhall gering. Was die Einheimischen anbetraf, so waren ihnen diese Fliegerkünste ein gewohnter Anblick, also begriffen sie auch nicht das grundsätzlich Neue, dessen Augenzeugen sie wurden. Und jener Presseartikel ließ eigentlich nur einige wenige Leute vom Bau, Erfinder und Flieger, wie die Wrights selbst es waren, vorübergehend aufhorchen. Dem Laien vermochten die angegebenen Zahlen nicht allzu viel zu sagen. Achtunddreißig Minuten in der Luft? Das konnte dem Laien nicht imponieren, denn er war aus den Nachrichten über die langen Flüge lenkbarer Ballons, wie sie in Europa gerade in den letzten Jahren durchgeführt worden waren, an ganz andere Zahlen gewöhnt. Und er war nicht hinreichend im Bilde, um den Unterschied zwischen dem aerostatischen und dem aerodynamischen Prinzip in der Luftschiffahrt zu erkennen. So erregte die Meldung über das denkwürdige Ereignis vom 5. Oktober 1905 alles andere als eine Sensation.

Doch trugen die Hauptschuld daran, daß alles so sang- und klanglos, zunächst wenigstens, im Sande verlief, die Brüder Wright selbst. Und die Schilderung ihres Lebens und ihres Wirkens wäre nicht vollständig, wenn man nicht dem, was sie jetzt unternahmen, mit Aufmerksamkeit nachspüren wollte. Dies ist auch damals bereits von dem oder jenem selbstlos und lediglich um der Erforschung der Wahrheit willen getan worden, und es hatte sich um so notwendiger erwiesen, als Böswillige und Neider das lange Schweigen der Welt und ihre Interesselosigkeit dazu genutzt, besser gesagt mißbraucht hatten, die Leistungen der Wrights immer wieder in Zweifel zu ziehen, ja völlig abzustreiten. Was schließlich so weit ging, daß man das Wort von den fliegenden Brüdern hämisch umschmolz und bewußt nur noch von den lügenden Brüdern sprach. Bis schließlich, nach bedauerlich langer Zeit, die Tatsachen dann doch ihre klare Sprache zu reden begannen.

Die Wahrheit aber sah so aus: Die beiden, einander in ihrem Wesen so ähnlichen Brüder verfügten über viele und ausgezeichnete Charaktereigenschaften, die wir im einzelnen schon kennen gelernt haben und die ihnen bei der Verfolgung und endlichen Erreichung ihres hochgespannten Zieles die wertvollsten Dienste leisten sollten. Aber sie waren eben auch Amerikaner reinsten Wassers, »smarte« Amerikaner. Das heißt, sie standen, obwohl sie sich der Fliegerei verschworen hatten, mit beiden Füßen sehr fest auf dieser Erde, über die hinwegzugleiten ihnen Lebensinhalt bedeutete. Sie hatten nun, durch eine Reihe von Jahren, fast den ganzen Gewinn aus ihrer Fahrradfabrik für die Durchführung ihrer zähen und kostspieligen Versuche verbraucht. Nun, da aus Versuchen eine brauchbare und unabstreitbare Leistung geworden war, glaubten sie, ein Recht darauf zu haben, ihren Erfolg in klingende Münze umzuwerten. Bisher hatte ihnen die Fliegerei nur Opfer und finanzielle Verluste eingebracht – jetzt wollten sie endlich einmal auch etwas auf der Gewinnseite verbuchen, jetzt wollten sie einen bezifferbaren Betrag von Dollars, Francs oder irgendeiner sonstigen Münze einheimsen.

Es waren dabei gar nicht selbstische Gründe maßgeblich oder gar entscheidend. Mit rund fünfunddreißig Lebensjahren standen sie ja auf dem Gipfel ihrer Kraft und Leistungsfähigkeit, und sie trugen sich keineswegs mit der Absicht, nun auf den einmal errungenen Lorbeeren auszuruhen. Im Gegenteil: dem Löwen gleich, der Blut geleckt hat, waren sie entschlossen, ihr Flugzeug immer weiter zu entwickeln. Auch dafür brauchten sie natürlich Geld, und das sollte ihnen die Verwertung ihres Flugzeuges bringen.

Sie taten nun, was Frankreich auf dem Gebiet des Lenkballons, des lenkbaren Luftschiffes, vor ihnen getan hatte, und es ist ziemlich sicher, daß gerade Chanute, ihr väterlicher Berater, ja, ihr Freund, sie zu solchem Verhalten wesentlich angeregt hatte. Hatte nicht auch Frankreich alle seine seit dem Jahre 1885 erzielten Erfolge seitdem und während fast zweier Jahrzehnte beharrlich geheimgehalten? Und mußte man es nicht tun, wenn man wirklich Nutzen aus seiner Arbeit ziehen wollte?

Natürlich: dies und das war schon seit den ersten Versuchen mit dem motorisierten Flugzeug, wenn auch mehr gerüchtweise, nach Europa gedrungen. Und hier hatte vor allem der französische Artilleriehauptmann und schon sehr bekannt gewordene Flugzeugtechniker Ferber die Ohren gespitzt. Dieser französische Offizier mit dem deutschen Namen, einer alten sächsischen Familie entstammend, Kommandant einer Gebirgsbatterie, hatte schon im Jahre 1898, also ungefähr zur selben Zeit wie die Brüder Wright, die Flugversuche Otto Lilienthals aufgenommen. Er würde 1906 am Grabe des Deutschen einen Kranz mit der Inschrift »Dem Altmeister Otto Lilienthal sein dankbarer Schüler F. Ferber« niederlegen und schon drei Jahre später das Schicksal seines großen Lehrmeisters erleiden müssen. In Ferber mochte, kaum daß er von den erfolgreichen Versuchen der Brüder Wright erste und gerüchtweise Kunde erhalten hatte, eine dunkle Ahnung wach geworden sein, daß den Franzosen – er war ja nicht der einzige unter ihnen, der mit Leidenschaft seine flugtechnischen Experimente machte – durch ein grausames Spiel des Zufalls die Siegespalme im letzten Augenblick sozusagen aus der Hand gerissen werden würde.

Kaum also hatte er die aus Amerika herüberdringende Kunde vernommen, so schrieb er alsbald an Chanute in Chicago, fragte bei ihm an, was an diesen ihm zu Ohren gekommenen Gerüchten wohl Wahres sei. Chanute beeilte sich, ihm die Richtigkeit des Vernommenen in allen Einzelheiten zu bestätigen. Das geschah noch vor dem 5. Oktober 1905. Vier Tage danach richteten die Brüder Wright selbst ein ausführliches Schreiben an Hauptmann Ferber, der sich mittlerweile auch mit ihnen in Verbindung gesetzt hatte. Ferber hatte eine deutlich formulierte Frage gestellt, nämlich die nach dem praktischen Wert des Wright-Fliegers. Und gerade diese Frage konnten die Wrights erst jetzt genau beantworten – in dieser Voraussicht hatten sie auch bis dahin gezögert, auf sie einzugehen. Jetzt kamen sie mit Tatsachenmaterial, jetzt berichteten sie mit genauer Zahlenangabe über ihre ausgangs September und in den ersten Oktobertagen erzielten Ergebnisse und wiesen gleichzeitig darauf hin, daß die Flüge nur deshalb hatten abgebrochen werden müssen, weil einmal sich das Lager aus Mangel an Öl warm lief, ein zweites Mal die Transmission, beim letzten Male – eben an jenem fünften Oktober – die Landung durch Benzinmangel erzwungen worden war. Sie verwiesen auch auf die Begeisterung der wenigen Zuschauer, die schließlich »ihre Zunge nicht mehr hüten konnten«. Sie hätten dann den Entschluß gefaßt, die weiteren Versuche, die bekannt zu werden anfingen, einstweilen einzustellen, bis sie einen geeigneteren und noch einsameren Übungsplatz gefunden hätten.

Dann, abschließend, offenbarten sie ihr Angebot, vorläufig noch – vorsichtigerweise – ohne genaue Preisforderung. »Wir sind bereit«, schrieben sie, »Maschinen nach Vertrag zu liefern, abnehmbar erst nach einem Versuch über 40 Kilometer, wobei die Maschine einen Lenker und einen Benzinvorrat von mehr als 100 Kilometer tragen soll. Wir könnten auch einen Vertrag machen, in dem die Strecke des Versuchsfluges größer als 40 Kilometer ist, aber dann wäre der Preis der Maschine höher. Wir können diese Maschine auch für mehr als eine Person Belastung bauen.«

Das war der Auftakt von außerordentlich schwierigen und langwierigen Verhandlungen, die sich über Wochen, Monate, ja, genau genommen über Jahre hinzogen, ohne doch zu einem wirklichen Resultat zu führen. Als Haupterschwernis für einen glatten Fortlauf dieser Verhandlungen über den Atlantik hinweg erwies es sich, daß einerseits die französischen offiziellen Stellen, die den Hauptmann Louis Ferdinand Ferber mit nur sehr begrenzten Vollmachten ausgerüstet hatten, sehr genaue Einzelheiten verlangten und selbstverständlich nicht die Katze im Sack kaufen wollten, daß aber auf der anderen Seite die Brüder Wright ein ebenso großes Interesse daran hatten, ihre Karten nicht vor der Zeit aufzudecken und sich so die etwaigen Chancen, selbst zu verderben.

Und noch etwas anderes fiel verzögernd ins Gewicht. Wahrscheinlich nämlich war zwischen 1904 und 1905 der Hauptmann Ferber fast der einzige Sachkundige in ganz Frankreich, der bereit war, vorbehaltlos an die fliegerischen Erfolge und Leistungen der Wrights zu glauben. Es ergab sich also das Kuriosum, daß zur selben Zeit, in der Ferber mit leidenschaftlichem Eifer den Kauf einer Wright-Maschine für Frankreich betrieb – Ferber, der doch selbst schon viele Versuche auf diesem Gebiet unternommen und sich darin bereits einen Namen gemacht hatte –, die überwiegende Mehrzahl aller Interessierten in Frankreich daran zweifelte, daß überhaupt eine solche Maschine existiere.

Etwas anderes, was späterhin für die seltsam wechselnden Beurteilungen, denen sich die Brüder Wright gegenübersahen, immer wieder von Bedeutung wurde, muß schon hier vorgreifend erwähnt werden. Natürlich waren – obwohl die Wrights eigentlich nichts dafür, eher alles dagegen getan hatten – allerlei mehr oder minder zutreffende Gerüchte nach Europa und vor allem nach Frankreich gelangt, die von langen Flügen dieser Brüder in einem mit Motor ausgerüsteten Flugzeug zu erzählen wußten. Sie erregten in den am Flugwesen interessierten Kreisen erhebliches und verständliches Aufsehen. Um dieselbe Zeit nun wurde in Frankreich eine Organisation begründet, die Fédération Aéronautique Internationale – F. A. I. –, deren Zweck es sein sollte, jeweils genaue Feststellungen über die etwa gemeldeten Flüge mit Flugmaschinen schwerer als Luft zu treffen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es handelte sich also um eine Art internationaler Prüfungs- und Überwachungsstelle, wie sie heute zwecks Feststellung von Rekorden auf sportlichem Gebiet bestehen. Als Vertreter der F. A. I. in den Vereinigten Staaten wurde der dort gleichzeitig begründete Aero Club of America bestellt. Aber in dem Augenblick, als dies geschah, war noch kein Flug mit einem motorisierten Flugzeug in Frankreich durchgeführt worden; erst Ende Oktober 1906 – also mehr als ein Jahr nach den erfolgreichsten Flügen der Wrights über der Huffman-Prärie! – wurde die erste französische Maschine mit Motorantrieb geflogen! Und trotzdem gab es, noch viele Jahre Später, hüben und drüben, das heißt sowohl in Frankreich – wo das bei dem dort besonders stark ausgeprägten nationalen Ehrgeiz noch verständlich gewesen wäre – als auch in Amerika selbst, Viele zwar stark interessierte, aber einsichtslose Menschen, die erklärten, daß die von den Gebrüdern Wright vor 1908 durchgeführten Flüge nicht zählten, da sie nicht offiziell durch einen Vertreter der F. A. I. bezeugt worden seien. Der Widersinn dieser Forderung – eine Organisation solle Flüge bezeugen, die ausgeführt worden waren, lange bevor diese Organisation ins Leben gerufen worden war! – kam ihnen offenbar niemals ins Bewußtsein.

Doch zurück zu Hauptmann Ferber. Am 4. November 1905 teilten die Wrights, in dem Bestreben, endlich zu einem Ziel zu kommen, ihre Forderungen im Einzelnen mit. Sie forderten für die Überlassung ihrer Erfindung an die französische Regierung die runde Summe von einer Million Franken, mit der Maßgabe freilich, daß dieser Preis erst gezahlt zu werden brauche, nachdem der Wert des Flugapparates in Gegenwart offizieller Persönlichkeiten festgestellt worden sei, und daß er die Lieferung einer vollständigen Maschine, genaue Instruktionen über die Grundlagen der Kunst des Fliegens mit eben dieser Maschine und die bis ins Einzelste gehenden Maße und Berechnungen einschließen sollte.

Das war nun freilich für Ferber eine harte Nuß. Ihm selbst erschien es mehr als zweifelhaft, ob wohl eine französische Regierung sich bereit finden würde – trotz allen Entgegenkommens der Wrights hinsichtlich der vorangehenden Feststellung der tatsächlichen Leistungen des Apparats –, eine so gewaltige Summe an eine Erfindung zu wenden, deren praktische Brauchbarkeit doch mindestens, da alle Erfahrungen fehlten, noch sehr zweifelhaft war.

siehe Bildunterschrift

Erster erfolgreicher Flug Orvilles in Kitty Hawk, mit dem 1903 der Motorflug begann.
Quelle: de.wikipedia.org

In diesem Augenblick kam dem französischen Hauptmann private Initiative zu Hilfe. Der Amerikaner Frank S. Lahm, in Paris wohnhaft und Mitglied des Aero-Clubs von Frankreich, ein Mann, der bekannt und vermögend geworden war durch die Einführung der Remington-Schreibmaschine in Europa und der große Teile seines Einkommens für Versuchsfahrten mit Freiballons verwendet hatte, begann sich für den Motorflug und die angeblichen Erfolge der Wrights auf diesem Gebiet zu interessieren. Er hatte viele Bekannte in den Vereinigten Staaten, unter ihnen auch einen, der aus Dayton stammte und dort noch wohnhaft war. Ihn bat oder beauftragte er, alle nur möglichen Erkundigungen über die Richtigkeit der von den Wrights in ihrem Briefwechsel mit Hauptmann Ferber und in anderem Zusammenhang vorgebrachten Behauptungen einzuziehen.

Ehe dieser Bericht aber nach Frankreich gelangte, geschah etwas anderes. Die Wrights hatten einen Brief an Besançon, den Herausgeber der Zeitschrift »L'Aerophile«, gerichtet, in dem sie viele und genaue Einzelheiten über ihre letzten Versuchsflüge auf der Huffman-Farm zur Kenntnis gaben. Besançon gab den Brief an die Zeitschrift »L'Auto« weiter, weil er fürchtete, seine eigene, monatlich erscheinende Zeitschrift, deren nächste Nummer erst in etwa einer Woche druckfertig war, käme zu spät heraus und die Aufsehen erregenden Angaben könnten von einem deutschen Konkurrenzblatt – wer wußte denn auch schon, an wen alles die Wrights ihre Mitteilungen hatten ergehen lassen? – vorher veröffentlicht werden. Der Brief erschien im »Auto« am 30. November 1905.

Dieser Artikel schlug wie eine Bombe ein. Die Ausführungen der Wrights in ihrem an Besançon gerichteten Brief waren so sachlich, so ruhig, so überzeugend, daß man annehmen mußte, sie würden die letzten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der von ihnen vorgebrachten Behauptungen zerstreuen. Als daher in den folgenden Wochen noch die von Lahm angeforderten Berichte aus Dayton, Ohio, einliefen, glaubte Ferber, gewonnenes Spiel zu haben und sich bei seinen weiteren Vorstellungen den französischen Behörden gegenüber auf die fundierte Meinung der interessierten zivilen Kreise stützen zu können.

Aber wieder trat das Gegenteil von dem ein, was man als selbstverständlich voraussetzen mußte. Als der Aero-Club von Frankreich in der Nacht des 29. Dezember 1905, in der über die Haltung gegenüber den Ansprüchen der Wrights auf die Anerkennung ihrer Leistungen Beschluß gefaßt werden sollte, zu seiner entscheidenden Sitzung zusammentrat, verlas Lahm in französischer Sprache die Mitteilungen, die ihm von jenseits des Ozeans inzwischen zugegangen waren, und verwies anschließend auf den alarmierenden Artikel in der Zeitschrift »Das Auto«. Aber ihm wurde entgegengehalten, daß es völlig unglaubwürdig sei, daß eine so wichtige und in ihren Auswirkungen noch völlig unübersehbare Entdeckung oder richtiger gesagt Erfindung von allen Journalisten Amerikas, also desselben Landes, auf dessen Boden sie angeblich gemacht worden war, unbeachtet geblieben sei. Ja, in der erregten Diskussion, die dem Vortrag Lahms folgte, stellte es sich heraus, daß von allen Mitgliedern dieses Clubs eigentlich nur vier Personen – außer Ferber und Lahm noch Besançon und ein gewisser Coquelle – bereit waren, an die Wrights und an die Richtigkeit ihrer Behauptungen zu glauben.

Es würde zu weit führen, das sich anschließende und über fast zwei Jahre erstreckende Hin und Her in allen Einzelheiten aufzuzeichnen. Bald neigte sich die Waage zugunsten der um ihre Anerkennung ringenden Brüder, bald wieder rückte man mit Nachdruck oder doch mit deutlich ausgesprochenen Zweifeln von ihnen ab. Längst hatten die Wrights, wohl erkennend, daß man ihnen ihr Lebenswerk streitig machen wollte, daß man sie um die Früchte ihrer jahrelangen Arbeit zu bringen drohte, ihre anfängliche Zurückhaltung gegenüber der siebenten Großmacht, wie man die Presse damals noch nannte, aufgegeben. In allen möglichen Zeitschriften und Tageszeitungen erschienen nun bald von ihnen geschriebene und zur Veröffentlichung freigegebene Briefe oder von ihnen selbst inspirierte Verlautbarungen, bald kritische Beurteilungen ihrer Angaben. Nicht ohne Schmerz und Bitterkeit mußten sie erleben, wie schwer es oft hält, einer Wahrheit, und sei sie noch so einfach, liege sie noch so offen zutage, zum Sieg zu verhelfen. Daß es nicht so sehr darauf ankomme, recht zu haben, als vielmehr darauf, recht zu behalten, allen Anwürfen und Entstellungen der nüchternen Sachverhalte zum Trotz. Wohl gelang es, begünstigt durch die dunklen, mit der sich anbahnenden Marokkokrise zusammenhängenden Wolken, die gerade um jene Zeit am politischen Horizont Europas auftauchten, die französische Regierung jetzt lebhafter an der Sache zu interessieren. Wohl gelang es, den infragekommenden hohen und höchsten Staatsbeamten klar zu machen, wie wichtig es wäre, in einem solchen Augenblick zur Beobachtung bestimmter Vorgänge ein brauchbares und aus eigener Kraft sich bewegenden Flugzeug in Besitz zu haben. Und so kam auf das unablässige Drängen Ferbers hin schließlich doch, unter Vermittlung ziviler Personen und Einschaltung einer Zeitung, die zunächst als Käufer auftrat, eine Art Vertrag zustande, bei dem den Wrights unter bestimmten Voraussetzungen die Zahlung der verlangten Million in vier Raten zugesichert wurde. Aber zu einer Realisierung des Vertrages kam es dann doch nicht mehr, und das einzige positive Ergebnis, das die Wrights verbuchen konnten, bestand darin, daß die französische Regierung ihnen die bereits gezahlten 25 000 Franks als Reugeld zusprach. Das war nicht viel, das waren nicht mehr als fünftausend Dollars – aber die Brüder hatten ja ihre Apparate durchweg in ihrem eigenen Betrieb hergestellt, hatten teilweise die notwendigen Arbeiten mit eigener Hand ausgeführt, und wenn auch die vielen, vielen Versuche ihre Kraft restlos in Anspruch genommen hatten, so war doch die Fahrradfabrik unter der fachkundigen Leitung ihres ersten Mechanikers Charlie Taylos ruhig weiter gelaufen und hatte ihre normalen Gewinne abgeworfen. So hatten sie mindestens die ihnen bisher erwachsenen Unkosten erstattet bekommen.

Daß die sich so lange und mit vielem Auf und Ab hinschleppenden Verhandlungen schließlich doch nicht viel anders ausgingen als das berühmte Hornberger Schießen, hatte ebenfalls, soweit es sich heute rückblickend übersehen läßt, in der politischen Konstellation jener Zeit ihren Grund. Die Marokko-Krise fand ihre Beendigung in der Konferenz von Algeciras am 7. April 1906, die Frankreich weiterhin eine bevorzugte Machtstellung in Marokko einräumte. Nun glaubte die französische Regierung, ihre Forderungen an die Leistungen des Wright-Fliegers höher und höher schrauben zu können, und die Wrights waren viel zu gewissenhaft, als daß sie leichtsinnig Versprechungen und Zusagen gemacht hätten, die sich später vielleicht als nicht einlösbar erweisen würden. Hauptmann Ferber selbst wiederum, der nun, nach Beruhigung der politischen Lage, andere Gesichtspunkte verfolgte, hatte nicht mehr jenes brennende Interesse, die Angelegenheit zum Abschluß zu bringen, das anfänglich mitspielte. Ja, die Äußerungen einiger seiner Landsleute, die während der Vorverhandlungen nach Amerika gefahren waren und die Wrights in Dayton aufgesucht hatten, klangen den Brüdern durchaus glaubwürdig.

»Ferber?«, sagte einer von ihnen ganz offen, »Hauptmann Ferber? Ich glaube nicht, daß Sie jetzt, wo die Marokko-Krise vorüber ist, noch weiterhin auf seine Unterstützung werden rechnen können. Sicher ist er mittlerweile längst zu der Überzeugung gekommen, daß er, nach dem tiefen Einblick, den er in den Bau und die Leistungen Ihres Flugzeuges gewonnen hat, selbst einen gleichwertigen Apparat wird bauen können. Und natürlich wird es seinen Ehrgeiz viel mehr verlocken, der erste erfolgreiche Aviatiker Frankreichs zu werden, als nur das Instrument, um den Aeroplan in Frankreich einzuführen!«

Wahrscheinlich verhielt es sich so. Jedenfalls stießen die Wrights in der Folgezeit, all ihren Bemühungen zum Trotz, weiterhin auf Widerstand innerhalb der beteiligten Kreise. Auf einen Widerstand, der sowohl innerhalb des Aero-Clubs – bei dessen Mitgliedern Eifersucht auf die beiden Amerikaner eine besondere Rolle spielen mochte – als auch in der Presse immer wieder und sehr deutlich zutage trat.

Wie stark dieser Widerstand war und bis zu welchen Auswirkungen er sich zu steigern vermochte, das mag ein einziges Beispiel aus dem Ende des Jahres 1906 erweisen.

Im November dieses Jahres erhielten die Brüder Wright den Besuch eines Pressemannes aus New York, Sherman Morse, der sich als Berichterstatter des »New York Herald« auswies. Der Herausgeber dieser großen amerikanischen Zeitung hatte von deren Eigentümer, James Gordon Bennet in Paris, telegrafisch die Weisung erhalten, einen seiner besten Reporter nach Dayton zu schicken, um endlich einmal die volle Wahrheit über die von den Wrights vorgebrachten Behauptungen zu erbringen.

Sherman Morse erhielt alle Auskünfte und Beweise, die er sich nur wünschen konnte, und schrieb eine Serie kluger und einleuchtender Artikel, die im »New York Herald« erschienen. Teile und Auszüge dieser Berichte wurden am 22. und 23. November in der Tochterzeitung, dem »Herald« in Paris, veröffentlicht. Aber offenbar waren die Pariser Redakteure nicht einmal von der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit ihres eigenen Vertreters Morse in New York überzeugt. Denn wenige Tage später, am 28. November, erschien im gleichen Blatt ein weiterer Artikel, nunmehr des Herausgebers selbst, der sich mit den Wrights und ihrer Erfindung beschäftigte. »Die Welt«, hieß es darin, »ist voller Neugier hinsichtlich der angeblichen Entdeckung der Brüder Wright. Aber diese Neugier ist überschattet von tiefgehender Skepsis und heftigen Zweifeln, dank der Tatsache, daß die Informationen über diese Erfindung so sparsam und gering sind und die Resultate, die die Wrights erreicht haben wollen, im Gegensatz dazu so ungeheuer!« Und nochmals vierundzwanzig Stunden später veröffentlichte dasselbe Blatt eine angebliche Äußerung des brasilianischen Multi-Millionärs Santos Dumont, der seine ungeheuren Mittel nicht in einem luxuriösen Leben vergeudete und verpraßte, sondern Riesensummen in Versuche zur Konstruktion lenkbarer Luftschiffe steckte. »Was mich anbelangt«, so hatte der Brasilianer nach der Behauptung des Blattes gesagt, »so habe ich bisher keinen Beweis dafür entdecken können, daß die Wrights überhaupt irgendetwas getan haben!«

Noch einmal unternahm Lahm, in alter Treue und kameradschaftlicher Verbundenheit, einen Versuch, für die Wrights eine Lanze zu brechen. Lahm war innerhalb der Fachkreise hoch angesehen, er galt allen charakterlich als völlig makellos. Bei einem Besuch der Vereinigten Staaten im November 1906 fuhr er auch nach Dayton, um mit den Wrights persönlich zu sprechen. Er war natürlich von vornherein überzeugt, daß er sich auf ihre Angaben und Behauptungen vollauf verlassen konnte – wäre er anders in solchem Maße öffentlich für sie eingetreten? – Aber um sein Gewissen völlig zu beruhigen, unternahm er noch persönliche Nachforschungen und befragte zahllose Zeugen, die bislang noch nicht vernommen worden waren. Nach Paris zurückgekehrt, richtete er einen langen Brief an den Paris Herald, in dem er alle von ihm festgestellten Einzelheiten darlegte und neuerlich seiner festen Ueberzeugung Ausdruck gab, daß die Behauptungen der Wrights nach jeder Richtung hin glaubwürdig seien. Die Zeitung brachte den Brief, tatsächlich, ja, sie opferte ihm sogar eine ganze, lange Spalte in ihrer Ausgabe vom 10. Februar 1907. Aber da sie wenige Monate vorher sogar Mißtrauen in die Feststellungen ihres eigenen Mitarbeiters gesetzt hatte, so war nicht anzunehmen, daß man die Angaben eines immerhin Außenstehenden kritiklos hinnehmen würde. Tatsächlich veröffentlichte denn auch der Herausgeber in derselben Ausgabe einen weiteren, von ihm verfaßten oder mindestens veranlaßten Artikel unter jener Spitzmarke, die schon erwähnt wurde: »Flyars or Lyars?« – Flieger oder Lügner! »Die Wrights sind geflogen oder sie sind nicht geflogen«, schloß der Aufsatz tiefsinnig. »Sie besitzen eine Flugmaschine oder sie besitzen keine. Sie sind also tatsächlich entweder Flieger oder Lügner ...

Es ist sehr schwer zu fliegen. Aber es ist sehr leicht zu sagen: Wir sind geflogen« !!!


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