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Der Dämon spielt

Irgendwo im Dunkeln, unsichtbar, kauerte, lauerte der Dämon und wartete. Manchmal streckte er, verspielt, ein bißchen gelangweilt, gähnend beinahe, die Tatze vor, rührte an seine zukünftige Beute – ganz, ganz leise nur. Gleich zog er sie wieder zurück. Er spielte das uralte Katz- und Mausspiel. Und er hatte Zeit – unendlich viel Zeit. Sein Opfer, das war ihm ja sicher, das entging ihm nicht.

Das Opfer wußte davon nichts. Es ahnte nichts von der Rolle, die ihm in diesem Spiel zugedacht worden war …

Geraume Zeit wartete Semmelweis, erst mit Geduld, dann mit wachsender Beunruhigung, auf die Wirkung seines Buches, seines Haupt- und Lebenswerkes, auf die Wirkung auch seiner offenen Briefe. Sie waren ja, genau genommen, nichts anderes als eine ebenso offene Kampfansage, ein heller, schmetternder Fanfarenstoß. Der doch nicht ungehört im Nichts verhallen konnte. Der doch, irgendwann einmal, ein Echo erwecken mußte.

Es kam kein Echo. Nie würde eines kommen. Langsam wurde dies auch Semmelweis bewußt. Gewiß: die Petersburger Gesellschaft der Aerzte hatte sich zusammengetan und hatte die Ursachen und die Vorbeugung des Kindbettfiebers in erregten Verhandlungen erörtert – aber zu einem einmütigen und restlosen Bekenntnis für Semmelweis war es nicht gekommen. Und Semmelweis fühlte sich plötzlich von einer Müdigkeit, einer Abspannung überwältigt, die ihn fast gleichgültig machten gegen alles, was eben noch seinen leidenschaftlichen Zorn, seinen erbitterten Kampf hervorgerufen hätte. So überließ er die Verteidigung seiner Ansichten gegenüber den Irrtümern und Fehlschlüssen der Petersburger Kollegen seinem alten Freund Ludwig Markusovszky.

Ja, er tat mit einem Male, als ginge ihn das alles überhaupt nichts mehr an. Entschlossen wandte er sich jenem Gebiet ärztlicher Wissenschaft zu, das eigentlich seit jeher sein besonderes Interesse in Anspruch genommen hatte, der Gynäkologie, der Geburtshilfe. Die Forschungen auf diesem Gebiet hatte er ja nur deswegen vernachlässigt, während der letzten Jahre, ja nun schon anderthalb Jahrzehnte, weil der Kampf um die von ihm entdeckte Wahrheit und die Bemühungen, ihr allgemeine Anerkennung zu verschaffen, all seine Kräfte in Anspruch genommen hatten.

Er beabsichtigte zunächst, ein Lehrbuch der Geburtshilfe herauszugeben. Und schon im Jahre 1862 waren von den hundertundachtzig Holzschnitten, die dieses großzügig angelegte Werk zieren sollten, etwa hundert fertiggestellt. Aber das Buch kam nicht zum Abschluß und ist also nie erschienen. Einen Teil dieser Holzschnitte hat dann später der Facharzt Dr. Fleischer für sein Lehrbuch der niederen Geburtshilfe für Hebammen benutzt.

Statt dessen veröffentlichte Semmelweis in einer gynäkologischen Sonderbeilage, die seit 1864 dem ärztlichen Wochenblatt beigegeben wurde, eine Reihe wertvoller Arbeiten, in denen er über seine praktischen Erfahrungen und operativen Behandlungen berichtete. »Ich werde«, so verriet er seiner Frau, die mit unerschütterlichem Glauben und tiefem Vertrauen zu ihm aufsah, »all diese Arbeiten einmal zusammenfassen und sie zu einem die gesamte Gynäkologie umfassenden Werk verwenden. Eben freilich, als bloße Aufsätze und Beilagen einer im Ausland kaum gelesenen Zeitschrift, sind sie nur Fragmente.«

Es sollten Fragmente bleiben. Semmelweis fand nie mehr die Kraft, die Muße, die Ruhe, seinen großen Plan in die Tat umzusetzen. Vielleicht fehlte es ihm auch an Mut – mindestens aber an Ermutigung. Das eigentliche Werk seines ganzen bisherigen Daseins vermochte sich nicht durchzusetzen – das nahm ihm alle Hoffnung, daß es ihm auf einem anderen Gebiet besser ergehen würde.

Noch fand er Glück und Beruhigung im Frieden seiner Häuslichkeit, an der Seite seiner jungen Frau, die er mit Hingebung liebte, bei seinen Kindern, aus deren Augen ihm Unschuld und Reinheit entgegenstrahlten. Aber selbst dieses Glück vermochte nicht, ihm jene innere Ruhe zu vermitteln, deren er so sehr bedurft hätte.

Eine merkwürdige Veränderung ging mit ihm vor. Seine Frau bemerkte sie als erste, ohne doch zunächst davon besonders beunruhigt zu werden. Da war sein Gang – es war nicht mehr der gesetzte, ruhige Gang eines Menschen, der sich seiner Bedeutung und seiner Stellung voll bewußt ist, der ausgeglichenen Gemütes dahin schreitet. Jetzt fegte er oft förmlich durch die Straßen, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd, so daß seine Frau Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Auch daheim neigte er zu Anfällen nervöser Erregbarkeit – aber das alles mochte die Folge von übermäßiger Arbeit sein. Er war wirklich sehr angespannt tätig, und Zeit zum Ausruhen fand er selten. Seine Frau jedenfalls erklärte sich alles so, und sein Freund Markusovszky gab ihr recht. Semmelweis selbst sah zuweilen klarer, spürte selbst, daß da irgendetwas nicht stimmte. »Es ist etwas nicht in Ordnung mit meinem Kopf«, klagte er zuweilen, mit der Hand über die schmerzende Stirn streichend. »Und dann … ich vergesse so schnell. Mein Gedächtnis läßt nach. Bald werde ich nicht mehr wissen, daß es so etwas gibt wie das Kindbettfieber. Und daß es eine Möglichkeit gibt, ihm vorzubeugen. Ich werde mein eigenes Werk vergessen. Nun, was tut's … ich werde eben alt.«

Dann lachte seine zarte, schlanke, zierliche Frau über das törichte Geschwätz dieses Bären von Mann. »Alt? Alt?«, fragte sie. Und begann ihm vorzurechnen: Sechsundvierzig Jahre! Das ist doch kein Alter für einen Mann. Es ist sogar sein bestes Alter. Die Welt erwartet noch viel von dir.«

Aber auch das stimmte doch nicht, so grübelte Semmelweis. Nichts erwartete die Welt von ihm, sie wäre froh, wenn sie nicht von ihm Notiz zu nehmen brauchte. Er war die Stimme eines Predigers in der Wüste, und solche Stimmen waren seit eh und je unbequem. Besser, man brauchte sie nicht zu hören. Besser, man konnte sie einfach vergessen.

Bislang hatten erst die nächsten Menschen, die Frau, einige vertraute Freunde, gemerkt, daß Semmelweis nicht mehr ganz der alte war. Und die Veränderungen, die sie feststellen mußten, waren nicht so einschneidender Natur, daß sie ernsthafte Besorgnisse hätten auslösen können. »Wenn er sich nur etwas Erholung gönnen würde, dann würde alles gleich gut werden«, so dachte man.

Er gönnte sich keine Ruhe. Er arbeitete unverdrossen und unermüdlich, er führte schwierige und ungewöhnliche Operationen mit Erfolg durch, oft assistiert von dem Pester Chirurgen von Balassa. Operationen gewagtester Art, wie man sie teilweise in Ungarn überhaupt noch nicht gemacht hatte.

Allmählich wurde es schlimmer. Immer häufiger geschah es, daß er bei seinen Vorlesungen, obwohl er eigentlich ein ganz anderes Thema zu behandeln hatte, mit manisch anmutender Besessenheit auf das Kindbettfieber zu sprechen kam. Daß er von seiner Entdeckung sprach und seine Lehre kurz erläuterte, daß er empört über die Zurücksetzung sich äußerte, die er fast in der gesamten ärztlichen Welt erfuhr. Dann traten Tränen des Schmerzes, der Erbitterung, in seine Augen, er geriet in einen Zustand wachsender Erregung, er konnte nicht mehr weiter sprechen und mußte seine Vorlesung vor der Zeit abbrechen. Das war peinlich für die Hörer, die verlegen und erstaunt bald ihren Professor anstarrten, bald vor sich hinschauten, um ihn nicht zu beschämen. Und es war peinlich auch für ihn. Wohl nahm er sich fest vor, sich fortan besser in der Gewalt zu haben – aber ein paar Tage später geschah ihm Aehnliches aufs neue.

Dann kam eine böse Szene. Feierliche Fakultätssitzung. Es gab allerlei wichtige, fachliche Fragen, die zur Erörterung anstanden. Auch Semmelweis hatte zu dem und jenem Thema etwas zu sagen. Er erhob sich, griff nach dem Zettel mit den vorbereiteten Notizen. Aber plötzlich schaute er auf, starrte mit irren Blicken vor sich hin, ins Leere, ohne die anderen wahrzunehmen, ohne sich klar zu werden, worum es hier überhaupt ging. Und langsam, pathetisch, Wort für Wort, sprach er den Eid der Hebammen vor sich hin – jenen Eid, den alle Hebammen ablegen mußten, ehe sie den gewählten Beruf ausüben durften, und den er natürlich aus zahllosen Prüfungen und Ausbildungskursen auswendig kannte.

Unruhe, blasses Entsetzen bei den Herren Kollegen. Bedeutungsvoll blickten alle einander an. Jeder von ihnen war Arzt, war ein Mann vom Bau, wußte sich den Vorgang zu deuten. Zum Glück hatte Semmelweis hier, in Budapest, kaum Feinde, kaum Neider. Alle wollten ihm wohl, alle waren bereit, mit Nachsicht über den Vorgang hinwegzusehen, zunächst einmal, und die weitere Entwicklung abzuwarten. Es mochte ja auch bei einem nervösen und nur vorübergehenden Nervenzusammenbruch, bei einer zeitweisen Störung des Bewußtseins sein Bewenden behalten. Man brauchte nicht gleich das Schlimmste zu fürchten. Immerhin – man hielt es für richtig, die Frau zu unterrichten, einige nähere Bekannte, Freunde von Semmelweis, nahmen sich seiner in der Folgezeit besonders an, beobachteten ihn gleichzeitig sorgfältig, mit einem durch fachliches Wissen und Zuneigung geschärften Blick.

Aber noch lehrte er. Noch operierte er auch, mit seiner geübten, dennoch zuweilen etwas zitternden Hand. Aber die Anfälle übersteigerter Reizbarkeit häuften sich, und es war endlich auch seinen Nächsten klar, daß etwas geschehen müsse. Die merkwürdige Veränderung im Wesen des großen Arztes nahm erschreckende Formen an, der sonst so mäßige Mann verfiel einer unerklärlichen Eßsucht, einer krankhaften Gefräßigkeit, der nüchterne, nur selten in heiterer Runde zum Becher greifende Forscher begann zu trinken, wohl um die immer schmerzhafter werdenden Kopfschmerzen hinwegzuschwemmen, die Anfälle von Schwermut drohten in einen Dauerzustand überzugehen.

Aus dem Spiel des Dämons wurde langsam Ernst.

Ende Juli 1865 gelang es Semmelweis' Frau, ihren Gatten zu einer Reise nach Wien zu überreden, die er, ohne sich zu sträuben und vielleicht sogar in plötzlicher Erkenntnis seines Zustandes, in Begleitung seiner Frau und seines Assistenzarztes, der ihm mit besonderer Verehrung anhing, antrat. In Wien, am Bahnhof, wurde der Kranke von seinem alten Freund und Gönner, seinem Mitstreiter um die Durchsetzung und Anerkennung der neuen Wahrheit, Professor Hebra, empfangen.

Es bedurfte nur eines Blickes des geschulten Arztes und Wissenschaftlers, um zu erkennen, woran er war. Mit liebevollem Zureden zerstreute er die jäh in Semmelweis aufflackernde Angst, brachte ihn nach Döbling bei Wien in die Görgensche Irrenanstalt.

Gutmütig ließ sich Semmelweis alles gefallen. Erst als ihm, am Morgen nach seiner Einlieferung – und nun zum ersten Male – die vergitterten Fenster auffielen, die er vorher nicht wahrgenommen hatte, erlitt er einen schrecklichen Tobsuchtsanfall, so daß sechs Wärter Mühe hatten, ihn zu bändigen.

Aber dann hatte das Schicksal doch noch eine letzte Gnade für ihn bereit: Es ersparte ihm jahrelanges Siechtum in geistiger Umnachtung. Der Dämon wurde des Spiels endgültig müde und schlug zu.

Semmelweis starb, vierzehn Tage nach der Einlieferung in die Irrenanstalt. Aber er starb an einer anderen Ursache, als man hätte vermuten müssen. Noch kurz vor dem Verlassen Budapests hatte er einen operativen Eingriff an einem Neugeborenen vorgenommen, mit seinen schon nicht mehr ganz sicheren, nicht mehr unbedingt zuverlässigen Händen, die früher doch immer so erstaunlich geschickt gearbeitet hatten. Dabei hatte er sich eine leichte Verletzung, einen winzigen Schnitt im Finger zugezogen, eine Wunde, die niemand ernst genommen hatte, er selbst am allerwenigsten. Aber durch diese kleine Wunde hatte das tödliche Leichengift Eingang in seinen Körper gefunden.

Der Sektionsbefund ergab Lymphangitis, Phlebitis, Pericarditis, Entzündung der Gehirnhäute, Metastase und so weiter – Todesursache also: Pyämie, Blutvergiftung. Wie bei Professor Kolletschka! Wie bei all den vielen Wöchnerinnen, die am Kindbettfieber gestorben waren, deren arme, zerstörte Körper Semmelweis so oft hatte sezieren müssen. Der Dämon grinste!

Semmelweis' sterbliche Hülle wurde am 16. August 1865 aus dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien, aus dieser Stätte seines ersten Wirkens und seiner genialen Entdeckertat, auf den Schmelzler Friedhof überführt.

Erst ein Vierteljahrhundert später wurden seine Gebeine nach Budapest gebracht und dort auf dem Krepeser Friedhof beigesetzt. Die Hauptstadt Ungarns entsann sich ihres großen Sohnes, der Unzähligen das Leben gerettet und erhalten hatte, sie hielt für den Toten eine würdige letzte Ruhestätte bereit, sie setzte ihm ein Denkmal, sein Werk und seinen Ruhm zu verkünden.

Anders verhielt sich Wien, das von dem Toten kaum mehr Notiz nahm, als es einst von dem Lebenden genommen hatte. Noch sieben Jahrzehnte nach Semmelweis' Tode, als Oesterreich einen Satz Briefmarken zur Erinnerung an die großen Aerzte dieses Landes herausbrachte, trug keine dieser Marken das Bild und den Namen des Bekämpfers des Kindbettfiebers, des »Retters der Mütter«. Und nicht ohne tiefen Schmerz können wir, uns das Schicksal von Semmelweis vor Augen haltend, an die hier wie so oft geübte und nie wieder gut zu machende Verschwendung des höchsten Gutes der Völker denken: des Genies, der Tatkraft, des unermüdlichen Kampf- und Unternehmungsgeistes ihrer bedeutendsten Söhne.


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