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Semmelweis schweigt

Jede neue Wahrheit, jede Erkenntnis, die der Menschheit dienen, die uns in unserer Entwicklung weiterbringen kann, muß, um einem solchen Zweck zu entsprechen, bekannt werden, muß sich »durchsetzen«. Ganz besonders gilt dies im Bereich der ärztlichen Wissenschaft. Der Arzt, dem eine große Entdeckung gelungen ist, eine Entdeckung, die vielleicht dazu berufen ist, ungezählten Tausenden und Hunderttausenden von Menschen das bedrohte Leben zu retten, hat deshalb die selbstverständliche Pflicht, diese Entdeckung der Fachwelt, der gesamten Aerzteschaft zu unterbreiten. Tut er es nicht, so kann er bestenfalls in dem engen Kreis seiner persönlichen Berufsarbeit wirksam werden – alle aber, die außerhalb dieses Kreises stehen, werden des Segens seiner Entdeckung nicht teilhaftig.

Auch Semmelweis erkannte das ganz klar. Er wußte um die Bedeutung seiner Entdeckung, und er wußte selbstverständlich auch um die Notwendigkeit, ihr im Interesse der werdenden Mütter, denen all sein Mühen und Tasten und Suchen und Forschen einzig und allein gegolten hatte, eine möglichst weite Verbreitung zu sichern.

Aber er konnte nicht aus seiner Haut. Kein Mensch kann das. Und er hatte Hemmungen – immer schon hatte er unter gewissen Hemmungen gelitten, die nicht zuletzt auf seine mangelnde Gabe, sich flüssig, überzeugend und vor allem mitreißend auszudrücken, zurückzuführen waren. Ganz ein Mann der Praxis, griff er ungern zur Feder, haßte er eigentlich sogar alles Schreiben, alle »Federfuchserei«, wobei mitsprechen mochte, daß er, zweisprachig aufgewachsen, oft genug mit der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß stand. Hinzu kam, daß die vielfachen und immer wieder vergeblichen Versuche, seinen Chefarzt, Professor Klein, von der Richtigkeit seiner Ansichten zu überzeugen, ihn etwas kopfscheu gemacht hatten. Er glaubte, einfach durch die Tat überzeugen zu können, durch die Erfolge, die er, nach Einführung der Waschungen mit der Chlorkalklösung, in der ersten Abteilung errungen hatte, durch das plötzliche und von niemandem abzustreitende Absinken der Sterblichkeitsziffer, durch das beinahe völlige Erlöschen des Kindbettfiebers. Zahlen, so dachte er, Zahlen sprechen doch immer eine ganz klare und unmißverständliche Sprache. Statt zwanzig bis dreißig vom Hundert an Opfern dieser grausamen Krankheit nun nur noch wenig über eins vom Hundert! Jeder, der sich nicht bösartig der Wahrheit verschloß, mußte doch einfach zugeben, daß er, Semmelweis, recht hatte.

Daß man auch das eindeutigste Zahlenmaterial mit einem hochmütigen oder skeptischen Achselzucken abtun kann, daß man sagen kann – und Professor Klein gerade zögerte nicht einen Augenblick, es zu tun –, dieses Ergebnis sei nur ein glücklicher Zufall, oder gar, die Ursachen des Abflauens des Kindbettfiebers lägen auf einer völlig anderen Ebene, sie seien nach wie vor unerforscht, das konnte sich Semmelweis überhaupt nicht vorstellen. Er war ein ausgezeichneter Arzt, ein zäher, unermüdlicher, wahrhaft fanatischer Forscher – aber ein Menschenkenner war er nicht.

Und so hätte es vielleicht geschehen können, daß dieses ganze Jahr 1847, das man als das Geburtsjahr der Antisepsis bezeichnen kann, vorüberging, ohne daß die Welt, vor allem die gelehrte Welt, erfuhr, welches Goldkorn der Assistenzarzt Ignaz Philipp Semmelweis in seiner Abteilung Eins der Gebärklinik in Wien gefunden hatte. Dieser doch noch junge, doch noch nicht dreißigjährige Mann, der zum allerersten Mal in der Geschichte der Medizin bewiesen hatte: man kann eine bestimmte Krankheits- oder gar Todesursache durch ein bestimmtes Mittel ausschalten. Dieser Satz klingt uns Heutigen sehr einfach, er klingt durchaus selbstverständlich. Aber jede neue Wahrheit wird im Laufe der Zeit mählich zu einer Selbstverständlichkeit, und der Wert einer solchen Wahrheit ist also immer relativ. Die Schätzung dieses Wertes richtet sich nach dem Zustand der zur Zeit der Entdeckung dieser Wahrheit herrschenden Ansichten und Lehren.

Daß trotz der von Semmelweis geübten Zurückhaltung, die nicht einfach als Bescheidenheit abgetan werden kann – denn er selbst war sich des Wertes seiner Entdeckung durchaus bewußt –, jenes bedeutsame Jahr 1947 doch nicht verging, ohne daß die Augen der Fachgelehrten auf den jungen Arzt gelenkt wurden, hatte dieser eigentlich nur Hebra, dem großen Wiener Dermatologen, zu verdanken.

Semmelweis hatte mehrfach Gelegenheit gehabt, sowohl mit den Professoren Rokitansky und Joseph Skoda als auch mit Hebra über diese Sache, die ihm so sehr am Herzen lag, zu sprechen. Hier wenigstens stieß er auf Männer von Namen und Rang, die – im Gegensatz zu Professor Klein – seinen Ideen und seiner Entdeckung volles Verständnis entgegenbrachten, die ungeheure Bedeutung seiner durch intensive Beobachtung und Gedankenarbeit gewonnenen Erkenntnis voll zu ermessen verstanden.

»Schreiben Sie darüber – Sie müssen es einfach tun«, mahnte Hebra immer wieder.

Aber er mahnte vergeblich.

»Ich kann nicht«, wehrte sich Semmelweis verlegen, mit einem hilflosen Achselzucken. »Und ich mag auch nicht. Ich bin kein Redner. Und ein Schreiber bin ich schon gar nicht.«

Hartnäckig blieb er bei seiner Weigerung, alles gute Zureden wollte nicht helfen.

Hebra betrachtete den jungen Kollegen mit einem gutmütigen, wohlwollenden Lächeln. Er mochte ihn sehr gern, und er fühlte sich ihm auch menschlich sehr verbunden. Hatte er es nicht Semmelweis zu verdanken, daß ihm, Hebra, nun ein gesundes, kräftiges Kind in der Wiege schrie? Hatte nicht Semmelweis Mutter und Kind durch alle Fährnisse der Geburt mit sicherer Hand und größter Fürsorge durchgeleitet? Er wollte es ihm nie vergessen.

So entschloß er sich, selbst zu tun, was Semmelweis zu unternehmen sich nicht entschließen konnte. Noch einmal ließ er sich, und nun in allen Einzelheiten, die Geschichte dieser bahnbrechenden Entdeckung erzählen, machte sich unauffällig, aber eifrig zahlreiche Notizen. »Er wird schön staunen«, schmunzelte er vor sich hin.

Hebra hatte vielerlei Möglichkeiten. Sein Name hatte Gewicht in der ärztlichen Welt Wiens, und nicht nur in Wien. Und, was noch wichtiger war, er war der verantwortliche Redakteur der Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, eines Fachblattes, das von allen bedeutenden Aerzten Europas gelesen und eifrig studiert wurde.

Wenig später erschien in dieser bedeutenden Zeitschrift aus der Feder Hebras ein Aufsatz, der einen durchaus nüchternen Titel trug. Aber alle wissenschaftlichen Großtaten werden ja unter sehr schlichten, sehr nüchternen Titeln erstmalig verkündet, das Pathos und der oft dichterische Schwung späterer Veröffentlichungen stammt meist aus der Feder Außenstehender. Der Aufsatz hieß: »Höchst wichtige Erfahrungen über die Aetiologie (die Ursache) des in Gebäranstalten epidemischen Kindbettfiebers.«

Leider enthielt er schon in der Ueberschrift einen Fehler; mindestens deckte sich diese Ueberschrift nicht mit der Meinung von Semmelweis, der ja, und mit Recht, die Ueberzeugung vertrat, das Kindbettfieber sei keine epidemische Krankheit, und gerade aus dieser instinktiv gewonnenen Ueberzeugung heraus seine Forschungsarbeit in Angriff genommen hatte. Immerhin war der Irrtum Hebras, der ja als Hautarzt auf einem ganz anderen Spezialgebiet tätig war, verzeihlich, und sein guter Wille über allen Zweifel erhaben. Und vor allem: die Darstellung des Weges, den Semmelweis gegangen war, die war in allen wesentlichen Punkten richtig – so mochte man über den Fehler in der Ueberschrift gut und gern hinweggehen.

Zum ersten Male wurde also mit diesem Artikel der Arzt Semmelweis unter Nennung seines Namens in den Blickpunkt der Oeffentlichkeit gestellt. Gleichzeitig aber forderte Hebra am Schluß seines knappen, nüchternen, sich auf das Wesentliche beschränkenden Artikels die Vorsteher sämtlicher Gebäranstalten auf, durch Sammlung persönlicher Erfahrungen und Beobachtungen das ihrige zur Bestätigung oder Widerlegung der Ansichten von Semmelweis beizutragen.

Das erste Echo auf diesen Ruf in die Welt war sehr gering, es war sicher leiser, als Hebra und vor allem Semmelweis selbst, der die Veröffentlichung Hebras gewiß nicht ohne Erröten und tiefe Dankbarkeit las, es erwartet hatten. Gewiß: die von Ruhm und Ansehen umwitterten Führer der Wiener neuen medizinischen Schule – zu denen einen Professor Klein zu zählen, Semmelweis sich niemals entschließen würde – traten entweder offen und mit allem nur möglichen Nachdruck für den jungen Arzt ein oder brachten seiner großen Entdeckung mindestens wohlwollende Teilnahme entgegen, aber damit schien doch noch nicht allzu viel gewonnen zu sein. Aber – schlechter Menschenkenner, der er war! – Semmelweis hatte mehr erhofft. Er hatte geglaubt, daß die Kunde von seiner Entdeckung wie ein Fanal wirken würde. Daß alle Aerzte, alle Mediziner vom Fach mit einer wahren Leidenschaft nach dem von Semmelweis angegebenen Mittel greifen würden, um der verheerenden Krankheit, die fast in allen Gebärkliniken ihre gräßliche Ernte hielt, entgegenwirken zu können. Gerade davon aber war zunächst nichts zu merken.

Woran lag das? Die gewiß da und dort vorhandene Eifersucht, ja, der nur mit Mühe verhehlte Neid einzelner Fachgenossen – auch Professor Kleins natürlich – über das Glück, den Erfolg, über das Genie des jungen Arztes mochten zum Teil mitspielen. Neid und Eifersucht waren ja seit jeher in der wissenschaftlichen Welt heimisch. Aber sie genügten nicht, um die geringe Wirkung der Hebraschen Veröffentlichung verständlich zu machen.

Dann geschah etwas, das Semmelweis und seinem Protektor Hebra die Erklärung hätte in die Hand geben können. Aber selbst die klugen, ernsten Augen von Semmelweis sahen nicht alles, und wie Hebra jenen Vorfall aufnahm, ist nie bekannt geworden.

Als einer der Ersten nämlich, die die Entdeckung von Semmelweis zur Kenntnis genommen hatten, meldete sich der Professor der Geburtshilfe zu Kiel und Vorsteher der dortigen Frauenklinik, Dr. Gustav Adolf Michaelis. Professor Michaelis war durch einen seiner Schüler, Dr. Schwarz, der eben um jene Zeit bei Semmelweis in Wien praktizierte, schon vor dem Erscheinen des Hebraschen Artikels auf die Entdeckung von Semmelweis aufmerksam geworden. Mit der Instinktsicherheit des berufenen, des geborenen Arztes hatte er sofort die ungeheure Bedeutung dieser Entdeckung gewittert, hatte in seiner Klinik die gleichen Waschungen mit Chlorkalklösung angeordnet, wie sie Semmelweis in der von ihm geleiteten Abteilung zur Pflicht gemacht hatte, und damit fast alsbald die denkbar günstigsten Erfolge erzielt. Sogleich hatte er sich hingesetzt und an Dr. Schwarz geschrieben, daß er von der Richtigkeit der Semmelweis'schen Lehre überzeugt sei, daß der Wiener Arzt zweifellos »einen großen Fund gemacht« habe, und hatte Dr. Schwarz gebeten, Semmelweis in diesem Sinne zu unterrichten, ja, ihm seinen, Michaelis', besonderen Dank zu übermitteln für die große, in ihrem Umfang noch nicht zu übersehende Wohltat, die er der leidenden Menschheit bereitet habe.

Semmelweis glaubte auf Grund dieser uneingeschränkten Zustimmung, daß sich nun zwischen ihm und Professor Michaelis ein eingehender Erfahrungsaustausch anspinnen würde, der für beide Teile und ihre Praxis nur befruchtend sein konnte.

Immer mehr aber verankerte sich in der ungewöhnlich zarten und empfindsamen Seele des Kieler Professors die Ueberzeugung, daß zwar Semmelweis mit seiner Theorie völlig recht habe, daß damit aber zugleich ein anderes erwiesen worden sei: nicht irgendeine höhere Gewalt, nicht eine unbekämpfbare Seuche oder Epidemie sei schuld an dem Sterben so unzähliger junger Mütter, sondern sie selbst, die Aerzte, hätten deren Tod verschuldet und verursacht. Auch er, Michaelis, sei so, unwissentlich, immer wieder zum Mörder geworden. Zum Mörder all jener Frauen, die durch seine Hände gegangen seien, in deren Körper er erst die tödlichen Keime eingepflanzt habe, statt sie und ihr Leben zu hüten und zu schirmen. War das aber so, dann war er ja auch der Mörder seiner von ihm sehr geliebten Kusine, die sich ihm in ihrer schweren Stunde anvertraut hatte und die ebenfalls durch das Kindbettfieber hinweggerafft worden war.

Dies zu wissen war mehr, als Professor Michaelis glaubte ertragen zu können. Das bedeutete eine Gewissensbelastung, mit der der empfindsame und verantwortungsbewußte Arzt nicht glaubte fertig werden zu können. Alle Heiterkeit, aller Frohsinn, alle tapfere Lebensbejahung schmolzen langsam dahin, immer mehr verdüsterte sich sein von zahlreichen Zwangsvorstellungen gequältes Gemüt. Bis er schließlich keinen Ausweg mehr fand aus diesem Gewissenskonflikt und sich in einem Anfall von Schwermut unter den Hamburg – Berliner Zug warf, um so seinem Leben, das er nur noch als ein verpfuschtes Leben anzusehen vermochte, ein Ende zu bereiten.

Der schreckliche Tod des Professors Michaelis, über den Semmelweis in allen Einzelheiten unterrichtet wurde, hätte ihm von rechtswegen die Lösung des Rätsels, die Antwort auf die Frage, warum Hebras Artikel nur ein so geringes Echo auszulösen vermochte, in die Hand geben müssen. Aber Semmelweis verstand nicht, den Vorgang zu deuten. Er begriff nicht, daß ein Arzt, dem man beweist, er sei am Tode von Tausenden seiner Patientinnen schuld, nicht gerade bereit ist, jenem um den Hals zu fallen, der diese Behauptung, diesen Beweis vorbringt. Er hatte selbst, wir sahen es schon, unter dieser Vorstellung sehr gelitten. Aber er hatte diese Wunde, die seiner Seele geschlagen worden war, tapfer ertragen und war mit ihr fertig geworden – niemand, so glaubte er, gehe ohne Wunden aus dem Kampf um das Wohl und die Gesundheit seiner Mitmenschen hervor. Die Opfer der bisherigen Unkenntnis der Aerzte auf diesem Gebiet waren ihm wie Märtyrerinnen erschienen, die hatten sterben müssen, damit ihre glücklicheren Mitschwestern am Leben bleiben durften. Und so war es ihm völlig unverständlich, wie verletzte Eigenliebe seiner Berufsgenossen die Verbreitung seiner Erkenntnis verhindern oder mindestens verzögern konnte.

Inzwischen war Professor Hebra, der erleben mußte, daß Semmelweis trotz vielfachen Zuredens offenbar nicht geneigt war, das bisherige Schweigen zu brechen und persönlich an die Oeffentlichkeit zu treten, bei seinem ersten Aufruf nicht stehen geblieben. Im März des folgenden Jahres – 1848 – war auf der ersten Abteilung des k. k. allgemeinen Krankenhauses zu Wien von 276 eingelieferten Wöchnerinnen nicht eine einzige gestorben, dank der von Semmelweis mit unermüdlicher Sorgfalt und Strenge überwachten Waschungen. Das war nun ein Ergebnis, wie es seit Menschengedenken hier nicht erzielt worden war. Es gäbe Hebra willkommenen Anlaß, in einem neuerlichen Aufsatz in der von ihm redigierten ärztlichen Fachzeitschrift noch einmal und mit Nachdruck auf die Entdeckung von Semmelweis und die mit ihrer Hilfe erzielten Resultate hinzuweisen. Diesmal verließ der sonst so nüchterne und in seiner Ausdrucksweise so zurückhaltende Gelehrte den Boden der rein sachlichen Berichterstattung. Er erklärte nicht ohne Pathos, daß die Entdeckung von Semmelweis der Jennerschen Kuhpockenimpfung – für deren allgemeine Verbreitung und Anerkennung sich vor einem knappen halben Jahrhundert gerade der österreichische Sanitätsreferent von Ferro so überzeugend eingesetzt hatte – würdig an die Seite zu stellen sei. Er verwies auf die durchaus günstigen Ergebnisse, die mittlerweile durch Michaelis in Kiel und durch den Chirurgen und Geburtshelfer von Tilanus in Amsterdam bei Verwendung der von Semmelweis angeregten Chlorkalkwaschungen erzielt worden seien. Und noch einmal, noch dringender, forderte Hebra die Vorsteher aller geburtshilflichen Anstalten auf, Versuche anzustellen und bestätigende oder widerlegende Resultate der von ihm redigierten Zeitschrift zu übermitteln.

Semmelweis schwieg noch immer.

Auch das ganze Jahr 1848, das »tolle Jahr«, wie es in der Geschichte heißt, ging vorüber, ohne daß Semmelweis ein einziges Mal selbst öffentlich für seine bahnbrechende Entdeckung auf dem Gebiet der Geburtshilfe auftrat.

Fast schien es, als sollte, teils durch innere Widerstände innerhalb der Aerzteschaft, die ja, sofern sie Semmelweis Anerkennung zollte und ihm beipflichtete, gleichzeitig mindestens indirekt zugab, am Tode zahlreicher Wöchnerinnen schuld zu sein, teils durch das hartnäckige Schweigen von Semmelweis selbst die ganze Aktion im Sande verlaufen. Als sollten sich alle Bemühungen seiner Freunde, eines Hebra, eines Rokitansky und anderer, als zwecklos erweisen. Die Briefe von Michaelis über die von so großem Erfolg begleitete Anwendung der Semmelweis'schen Vorbeugungsmittel in seiner Klinik, die positive Einstellung von Tilanus – aber Amsterdam war weit weg, und Tilanus hatte seit langem einen bekannten Namen mehr in seiner Eigenschaft als Chirurg denn in jener eines Geburtshelfers –, das waren letzten Endes doch nur die Stimmen von Predigern in der Wüste.

Aber Routh? Doktor Routh in London? Auf die Ergebnisse der englischen ärztlichen Wissenschaft hatte man doch gerade in Wien seit jeher viel gegeben. Jenner, der Mann mit der Schutzimpfung gegen die Pocken, war immer noch unvergessen, und es gab andere, Lebende, auf die man mit Ehrfurcht sah. Routh hatte in einer Versammlung britischer Aerzte über die große und bedeutsame Entdeckung seines Kollegen aus Wien gesprochen, und seine Ausführungen waren mit ungewöhnlichem Beifall aufgenommen worden. Viele der gelehrten Mitglieder dieser Gesellschaft hatten sich vorbehaltlos zu Semmelweis bekannt, und auch die Vorsichtigen, die Abwägenden und Zurückhaltenden sie keineswegs abgelehnt oder gar verworfen. Murphy und Copeland, diese großen, diese sehr berühmten englischen Aerzte, hatten Semmelweis ihre uneingeschränkte Anerkennung gezollt – und das war zweifellos ein ungewöhnlicher Erfolg.

Wenig später erschien der Vortrag von Dr. Routh sogar im Druck, in den Surgical transactions, den Chirurgischen Abhandlungen. In der angesehensten ärztlichen Fachzeitschrift Englands also. Es war klar, daß diese Veröffentlichung nicht ohne weitgehenden Einfluß auf die in den englischen Gebärkliniken fortan geübte Praxis bleiben würde. Semmelweis, dem es ja nie um persönliche Anerkennung ging, sondern um Hilfe und Schutz für seine Mitmenschen, für die gefährdeten Mütter, war zufrieden, war fast beglückt. Dies schien ihm ein bedeutsamer Schritt vorwärts zu sein. Fortan würden mindestens in England erheblich weniger Frauen an Kindbettfieber sterben, als es bislang der Fall gewesen war. Das war ein Trost. Aber es saß doch ein gehöriger Schuß Wermut am Grunde dieses Freudenbechers. Sollte es wirklich immer weiter so bleiben, daß in deutschen Landen der Prophet nie etwas galt, daß man ihn eher im Auslande anerkannte als daheim?

Das durfte nicht sein. Auch seine Wiener Freunde waren der Meinung, daß man des Kampfes nicht müde werden, nicht die Flinte ins Korn werfen und an den Widerständen hier und dort erlahmen dürfe. Nach Hebra trat nun der Primararzt und damalige provisorische Direktionsadjunkt Dr. Haller – schon dieser schöne, lange Titel ließ erkennen, daß es sich um einen Mann von Rang und Gewicht handelte – vor die Rampe. Ende Februar des Jahres 1849 hielt er vor der Gesellschaft der Wiener Aerzte, in der Sektion für Pathologie, einen eingehenden und gründlichen Vortrag über die Beobachtungen, Forschungen und äußerst erfolgreichen Resultate des Assistenten der ersten Abteilung Semmelweis, in dem er warmherzig und freundschaftlich für den jungen Kollegen eintrat.

Der Vortrag hatte eine äußerst günstige Wirkung. Er hatte gerade jene Wirkung, die Haller und Hebra und andere Freunde des Forschers erhofft hatten. Die Versammlung beschloß, »Dr. Semmelweis zu ersuchen, ihr seine Erfahrungen über diesen Gegenstand in einem Vortrag mitteilen zu wollen«.

Aber ehe dieses Ersuchen in aller Form an Semmelweis weitergeleitet werden konnte, war der Entdecker der Ursachen des Kindbettfiebers und der Mittel zu ihrer erfolgreichen Verhütung aus dem Verband des Allgemeinen Krankenhauses ausgeschieden, gehörte dem ärztlichen, wissenschaftlichen Stab dieses Institutes nicht mehr an. Das bedeutete auch, daß ihm jene Stätte fortan verschlossen war, an der er so lange, mit so leidenschaftlichem Eifer und mit so zähem Fleiß, mit so großem Erfolg gewirkt hatte: eben jene nun durch ihn beinahe schon berühmt gewordene erste Abteilung der Gebärklinik des Krankenhauses.

Was war geschehen?


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