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Tausend Fragen

Dies also war die Bilanz, wie sie sich Semmelweis an Hand der alten Akten des Allgemeinen Krankenhauses, der Krankenberichte und Statistiken errechnet hatte und immer wieder vor Augen hielt:

In den neununddreißig Jahren von der Gründung der geburtshilflichen Klinik bis zum Ausscheiden des großen, ungewöhnlich tüchtigen Johann Lucas Böer hatte die Sterblichkeit an Kindbettfieber im Jahresdurchschnitt immer nur eineinviertel Prozent betragen. Das war eine Zahl, über die man eigentlich kein Wort zu verlieren brauchte, die keine Veranlassung zur Beunruhigung gab – sie hielt sich ganz in den normalen und erträglichen Grenzen. Auch innerhalb der Bevölkerung wurden deshalb niemals Klagen irgendwelcher Art laut, und Szenen, wie sie Semmelweis jetzt fast jeden zweiten Tag erleben mußte, hatte es damals nicht gegeben.

Dann trat Professor Klein anstelle des in den Ruhestand getretenen, angesehenen und beliebten Böer das Amt als Leiter der geburtshilflichen Klinik an, und sehr bald danach nahm die Sterblichkeit bei den Wöchnerinnen in Bedenken erregendem Maße zu. Sie wuchs innerhalb der ersten zehn Jahre der Aera Klein auf annähernd das Fünffache.

Ganz schlimm wurde es, als im Jahre 1833 die Teilung der Klinik erfolgte. Während sich die Sterblichkeitsziffer innerhalb der zweiten, von Barth geleiteten Abteilung ziemlich konstant in den Grenzen von fünf bis sechs Prozent hielt, stieg sie in Kleins erster Abteilung wahrhaft erschreckend und beinahe sprunghaft im Laufe der folgenden Zeit an, um schließlich mit annähernd dreißig vom Hundert in gewissen Monaten einen Rekord des Grauens zu erreichen.

Semmelweis war ein viel zu gerecht und auch ein viel zu nüchtern und sachlich urteilender Mensch, als daß er etwa seinem Chef, dem Professor Klein, ein Verschulden oder gar die Alleinschuld an dieser Schrecken einflößenden Bilanz des Todes zugeschoben hätte. Klein beschränkte sich ja im Großen und Ganzen auf die Oberleitung seiner Abteilung, ließ sich bei den täglichen Visiten lediglich Bericht erstatten, gab in einzelnen Fällen seine Weisungen und griff nur selten persönlich ein. Die praktische ärztliche Betreuung und allgemeine Fürsorge für die Wöchnerinnen überließ er seinem Assistenten und den in langen Jahren geschulten, mit reichen praktischen Erfahrungen ausgestatteten Schwestern.

Und er selbst, Semmelweis? Nun, er war erst kurze Zeit im Amt, und lange vor ihm hatte das Kindbettfieber in der ersten Abteilung schon diese böse und reiche Ernte gehalten. Es war mal ein bißchen weniger gewesen, es wurde wieder mehr, es war ein ewiges Auf und Ab; aber nie, nie gelang es, an die zwar auch schon betrüblichen, immerhin sehr viel niedrigeren Zahlen der zweiten Abteilung heranzukommen.

Trotzdem wurde Semmelweis ein bedrückendes Schuldgefühl nicht los, das dumpfe Empfinden, daß da irgendetwas versäumt werde, irgendetwas nicht in Ordnung sei, daß man sich nicht auf so billige Art herausreden dürfe, wie es Klein zu tun pflegte. Dieses Schuldgefühl drohte seine Gesundheit zu untergraben, es zehrte an seinen Kräften, es machte aus einem vor kurzem noch frischen, heiteren, lebensbejahenden jungen Menschen einen hohlwangigen, blassen, melancholischen Grübler, der dem ungelösten – vielleicht gar unlösbaren? – Problem mit dem Fanatismus eines von einer fixen Idee Besessenen nachhing.

Vielleicht konnte man durch unermüdliche Wachsamkeit und Sorgfalt diesem grausamen Feind und Mörder der Mütter, den man nur an seinen Taten zu erkennen vermochte, die Waffen aus der Hand schlagen. Semmelweis wollte jedenfalls nichts unversucht lassen. Längst schon hielt er sich nicht mehr an die festgesetzten Dienstzeiten, machte Ueberstunden und immer wieder Ueberstunden, verließ manchmal tagelang, nächtelang nicht die Klinik, war wie ein Wiesel dahinter, wenn er glaubte, irgendeine Nachlässigkeit entdeckt zu haben. Er erzwang – trotz des Sträubens seines Chefs, der auf die erhöhten Kosten und auf den Aerger hinwies, den es beim Ministerium geben würde – das regelmäßige Wechseln der Bettwäsche, er sah rot, wenn einmal eine seiner Anordnungen nicht, oder doch seiner Meinung nach nicht gewissenhaft genug beachtet worden war. Er wurde zum Schrecken des Personals, zum Albdruck der Schwestern, die vor seinen spähenden, mißtrauischen Blicken nie und nirgend sicher sein konnten. Ein unangenehmer Aufpasser, ein Mensch, vor dem man sich hüten mußte. Unangenehm nicht nur den ihm Unterstellten, unangenehm auch seinem Chef, dem Professor Klein, dem er ständig mit allerlei Wünschen und Bitten und Vorschlägen in den Ohren lag, mit Fragen, auf die Klein die Antwort schuldig bleiben mußte, auf die es nichts anderes gab als ein nachlässiges, hochmütiges, zurückweisendes Achselzucken.

Und trotz dem allen häuften sich die Leichen in der Baracke, hinten an der Mauer. Trotzdem brauchte man bei den morgendlichen, regelmäßigen Sektionen nie um das dafür erforderliche »Material« verlegen zu sein. Immer lagen sie da, sauber ausgerichtet, die Leichen, grau, farblos, grünlich – und waren doch noch vor wenigen Tagen junge, blühende Frauen gewesen, Frauen, die das Leben liebten und bereit waren, die Fackel des Lebens weiterzureichen. Und da lagen auch die Kinder, die der dunkle Engel erwürgt hatte, die sterben mußten, ehe sie sich noch des Lebens bewußt geworden waren.

Die Anatomiediener trugen sie herein, wenn Semmelweis vor den aufmerksamen und lernbegierigen Studenten seine Sektionen begann. Geschickt arbeiteten seine geübten Hände mit dem Skalpell, und mit scheinbarer Ruhe, die nichts von seiner inneren Erregung verriet, diktierte er seinen »Befund«. Es waren immer dieselben medizinischen Fachausdrücke, die da trocken und nüchtern von seinen Lippen sprangen: Phlebitis, Lymphangitis, Peritonitis, Pleuritis, Pericarditis, Meningitis, und dann, abschließend, Metastase. Jedem Nichtmediziner, jedem, der diese wissenschaftliche Fach- und Geheimsprache nicht verstand, wären sie wie ein Buch mit sieben Siegeln erschienen. Es war immer dasselbe. Zersetztes Blut, graufarbenes Gerinnsel in den Gefäßen, Zerfallsherd in der Leber, Abszesse, Herzbeutelentzündung und so weiter. Immer dasselbe, immer dasselbe.

Es drängte Semmelweis, sich mit irgendjemandem über all die Fragen, die auf ihn einstürmten, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen, auszusprechen. Das würde ihn entlasten, das würde vielleicht auch in die Fülle seiner Gedanken klärend eingreifen. Er hatte viele Bekannte, Leute vom Bau sozusagen, Mediziner wie er einer war. Die Studenten? Nun, die Studenten, das waren alles noch junge, unbedarfte Menschen – er, Semmelweis, er konnte es sich manchmal kaum vorstellen, daß er selbst vor ein paar Jahren noch ein solcher Student gewesen war, einer, der das Leben in vollen Zügen genoß und sich von der Tragik, die allem Leben innewohnte, die Tage noch nicht überschatten ließ. Nein, die wußten noch zu wenig, die waren noch nicht ernst, noch nicht verständig und versessen genug, um zu verstehen, wie ein derartiges Problem einen gefangenhalten und ganz in seinen Bann schlagen konnte.

Da waren auch ein paar Landsleute, Deutsche aus Budapest, wie er selbst einer war, die etwa zugleich mit ihm nach Wien gekommen waren, die wie er sprachen, dieses seltsame, gemütliche, aber alles andere als korrekte deutsch-ungarische Idiom, das auf andere immer ein bißchen drollig, ja, komisch wirkte. Die schwer mit der Zunge waren und auch schwer mit der Feder. Mit dem und mit jenem von ihnen pflegte Semmelweis noch einen gelegentlichen Verkehr, soweit ihm seine Arbeit, sein Dienst in der Klinik dazu für ein paar abendliche Stunden Zeit ließ. Aber ihre Interessengebiete berührten sich nicht mehr, der eine war Jurist geworden, Philologe der andere, ein dritter war sich selber untreu geworden und, verführt von der lauen Luft dieser alten Kaiserstadt, von dem bunten, treibenden Leben, mit allen seinen kühnen, hochfliegenden Plänen längst vor die Hunde gegangen. Was also kümmerte diese Menschen das Kindbettfieber in der ersten Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses? Schon das Wort »Krankenhaus« war ihnen ein unangenehmer, ein odioser Begriff, und vom Kindbettfieber und seiner gräßlichen Ernte unter den jungen Müttern hatten sie gewiß überhaupt noch nie etwas gehört.

Einen freilich gab es, der Semmelweis Verständnis entgegenbrachte, der die innere Unruhe und die Leidenschaft, mit der Semmelweis die ihn so sehr bewegende Frage immer wieder von den verschiedensten Seiten her beleuchtete, begriff. Er war diesem jungen Assistenzarzt an Jahren überlegen, dieser vertraute Bekannte, den Semmelweis gern seinen Freund nannte, dieser Professor Kolletschka. Ueberlegen auch durch die Stellung, die er im Leben bekleidete, als Professor der gerichtlichen Medizin. Auch ihre beruflichen Arbeits- und Interessengebiete lagen ja nahe beieinander – auch der Professor Kolletschka hatte mit dem menschlichen Körper, mit seinen Leiden und Krankheiten und Entartungen, mit Sektionen und den aus ihnen sich ergebenden Rückschlüssen zu tun. Nur die Voraussetzungen waren andere. Bei ihm handelte es sich ja meist darum festzustellen, ob etwa ein gewaltsamer Eingriff in das Leben eines Dritten vorlag, ob es sich um einen natürlichen oder einen auf verbrecherische, mindestens fahrlässige Art herbeigeführten Tod handele.

Mit diesem Professor Kolletschka war gut reden. Er war genau so ruhig und still, wie Semmelweis leidenschaftlich und glühend war. Und er verstand zuzuhören. Er verstand – wichtiger als das – durch kleine Einwürfe, durch sorgfältig überdachte Fragen die Aufmerksamkeit des jungen Assistenzarztes bald auf den, bald auf jenen Punkt zu lenken, den er bislang noch nicht sorgfältig genug überprüft hatte. Und vor allem: er bewegte sich nicht auf dem hohen Kothurn seines angesehenen Amtes und Postens, sondern er betrachtete Semmelweis als einen ebenbürtigen Kameraden. Er war immer bemüht, Semmelweis weiter zu helfen. Und einmal – aber das wußten beide zu ihrem Glück eben noch nicht – würde er ihm, dann freilich unbewußt, auf eine Art dienen, von der sich die zwei Männer jetzt noch keine Vorstellung machen konnten.

»Eine Epidemie!« zürnte Semmelweis an einem dieser stiller Aussprache gewidmeten Abende. »Es ist sehr, sehr einfach, die ganze Sache damit abzutun. Oder gar, wenn ich auf die Unterschiede in der Sterblichkeitsziffer der beiden Abteilungen hinweise, von allen möglichen atmosphärisch-kosmisch-tellurischen Einflüssen zu reden, die daran schuld seien. Was sage ich? Zu reden? Zu faseln, kann man das nur nennen. Als ob diese mysteriösen Einflüsse vor der Zimmertür der zweiten Abteilung, ein Dutzend Schritte über den Korridor, haltmachen würden, falls es sie überhaupt geben sollte. Aber was kann man dagegen tun, wenn der eigene Chef, wenn Professor Klein, sich solcher Meinung, die ich nur als einen Aberglauben verurteilen kann, verschrieben hat? Er hat natürlich noch andere Erklärungen, der Herr Professor Klein. Da ist die Ueberfüllung der Räume – aber bei seinem Kollegen Professor Barth sind sie seit eh und je ebenso überfüllt gewesen und sind es heute noch. Er sagt, es spreche auch das verletzte Schamgefühl der Frauen mit, die es in Kauf nehmen müßten, von Studenten untersucht zu werden. Ich glaube wohl, daß das keiner Frau angenehm ist, daß sich da irgendetwas in ihnen sträubt, daß sie diese Notwendigkeit bitter genug empfinden. Aber verletztes Schamgefühl kann doch wohl kein Kindbettfieber erzeugen, das ist ja nonsens, glatter Unsinn ist es. Und dann, wenn gar nichts mehr verschlagen will, meinen kritischen Einwürfen gegenüber, dann kommt man mit einem vierten und letzten Trumpf: die Ausländer seien schuld, die ausländischen Studenten, die die Universität besuchen, und deshalb notwendigerweise auch zur praktischen Arbeit am Krankenhaus zugelassen werden müßten. Sie untersuchen zu roh, daher das Kindbettfieber, sagt der Herr Professor. Und zieht nun ernsthaft in Erwägung, sie von solchen Untersuchungen auszuschließen. Er hat schon beim Ministerium wegen des Erlasses einer solchen Anordnung Fühlung genommen. Aber es ist ja lächerlich, einfach lächerlich ist es!«

Er mußte innehalten und ein paarmal tief Atem schöpfen. So erregt war er, so schüttelten ihn Zorn und Erbitterung.

Der Zuhörer, der Professor Kolletschka, war so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Meinung von Semmelweis über den Kollegen Klein, die freilich teilte er durchaus. Alle, die etwas verstanden in ihrem Fach, teilten sie. Denn eine Leuchte – nein, eine Leuchte war der Kollege Klein nicht.

Wohlwollend, gutmütig vor sich hinbrummend wiegte er den klugen Kopf.

»Na, und? …« fragte er ermunternd.

Semmelweis fuhr hoch.

»Es ist das Warum, das mich quält!« sagte er leidenschaftlich. Und nun war es freilich nicht der von ihm wahrlich nicht sehr hochgeschätzte Professor Klein, sondern es war er, Doktor Semmelweis, der einem Gemeinplatz zum Opfer fiel. Weil nämlich alle großen Leistungen des Geistes, soweit es sich um die Auffindung neuer Wahrheiten und Erkenntnisse handelt, aus dieser steten, unablässigen, bohrenden Frage nach dem Warum geboren werden.

»Aufzählen!« befahl Kolletschka. Natürlich – er würde nun wieder und zum zwanzigsten, zum dreißigsten Mal hören, was Semmelweis, dieser junge, ungebärdige Feuerkopf, ihm schon so oft vorgebetet hatte. Aber es würde den andern doch entlasten, es würde ihn dazu zwingen, eine gewisse Ordnung in seine Fragen und Beobachtungen zu bringen. Auch das mußte sein. Auch das war eine notwendige Voraussetzung zum Wissen, sonst ertrank man in dem Chaos der ungeordneten Gedanken.

Für Semmelweis war diese Aufforderung dasselbe wie das Stichwort für den Schauspieler. Man merkte nun nicht mehr, daß seine Zunge ihm nur schwer gehorchte, daß er alles andere war als ein glänzender Redner, daß er, der von seiner heimatlichen Mundart nie recht loskam, von diesem seltsamen Gemisch aus Deutsch-Ungarisch, »Schwobsch« und »Weanerisch«, eigentlich immer an Hemmungen zu leiden hatte, wenn es galt, längere Zeit zu sprechen.

Nein, es ging wie ein Wasserfall, und die Worte strömten ihm nur so von den Lippen.

Eine tiefe Falte des Nachdenkens grub sich in seine Stirn, und sein krauses Haar sträubte sich förmlich, während er mit seinen vielen unbeantworteten, vielleicht wirklich unbeantwortbaren Fragen auf den geduldigen Zuhörer, den Professor Kolletschka, eindrang.

Warum, wiederholte er das eben erst Gesagte, liegt die Sterblichkeit in der zweiten Abteilung so viel günstiger? Wo es doch keinen Unterschied zwischen der Behandlung der Wöchnerinnen in den beiden Abteilungen gibt! Von dem einen, belanglosen, abgesehen, daß in der ersten Abtei1ung auch die Studierenden der Medizin unterrichtet werden und unter seiner, Semmelweis', Aufsicht ebenfalls Untersuchungen ausführen, während in der zweiten nur die künftigen Hebammenschwestern ausgebildet und auf ihren Beruf praktisch vorgebildet werden. Das – mit einer nachlässigen Handbewegung erledigte Semmelweis diesen Punkt – war natürlich für den merkwürdigen Sachverhalt ganz ohne Belang.

Warum packte das Fieber immer oder doch mit Vorliebe jene jungen, blühenden, kerngesunden Frauen und Mädchen, die ihrer ersten Entbindung entgegensahen? Bei denen erfahrungsgemäß alles sich langsamer, stockender, mit größeren Schmerzen und Schwierigkeiten vollzog?

Warum blieben jene am ehesten verschont, die irgendwo außerhalb von der Geburt überrascht worden waren, die erst eingeliefert wurden, wenn eigentlich die Hauptsache schon vorüber war?

Oder jene anderen, bei denen alles ohne Komplikationen vonstatten ging? Warum gab es kaum je einen Fall von Kindbettfieber bei sogenannten Sturzgeburten? Warum trat es beinahe immer auf, und meist mit tödlichem Ausgang, wenn durch Querlage des Kindes mehrfacher ärztlicher Eingriff und ärztliche Hilfeleistung sich als erforderlich erwiesen?

Warum, wenn das Kindbettfieber wirklich eine Seuche, eine Epidemie war, wie Professor Klein und so viele seiner Kollegen unterstellten, warum, so fragte, so bohrte Semmelweis, beschränkte sich dann diese Epidemie auf die erste Abteilung? Warum beschränkte sie sich überhaupt auf die Gebärklinik, auf das Allgemeine Krankenhaus? Warum hörte man nichts oder kaum etwas davon, daß die zuhause behandelten Wöchnerinnen diesem Fieber erlagen? Und warum blieb also die Stadt Wien als Ganzes selbst dann noch verschont, wenn bei ihm, Semmelweis, die jungen Mütter gleichsam reihenweise starben?

Warum machte das Fieber selbst innerhalb der ersten Abteilung, selbst in demselben Raum, noch so merkwürdige, so völlig unerklärliche Sprünge bei der Auswahl seiner Opfer? Warum stirbt hier, unter gräßlichen Schmerzen, ein frisches, kerngesundes Ding von knapp zwanzig Jahren, das vorgestern, als es eingeliefert wurde, aussah wie das blühende Leben, und warum bleibt die blutarme, fast vierzigjährige Frau mit der durch ein hartes Leben und durch viele Geburten erschütterten Gesundheit, die im Nachbarbett und fast Haut an Haut mit der Fiebernden liegt, verschont? Wo es doch umgekehrt viel erklärlicher wäre, wo man doch vermuten müßte, rein erfahrungsmäßig, daß der unverbildete und starke, straffe Körper der Jugendlichen dem Fieber erheblich stärkere Widerstandskraft entgegenstellen würde, ihm entweder überhaupt nicht verfallen oder mindestens mühelos mit ihm fertig werden müßte.

Und warum, zum Teufel, wußte man, nach all diesen Jahren und Jahrzehnten, noch immer gar nichts über die Entstehung des Fiebers? Natürlich: die Diagnose konnte man stellen, das war nicht schwer, das war das reine Kinderspiel. Und man kannte das Krankheitsbild aus hunderten, ach, leider aus tausenden von gleichliegenden Fällen bis zum Ueberdruß, man kannte die Zerstörungen, die das Fieber im Körper der von ihm Befallenen bewirkte, aus all den vielen, vielen Sektionen, die man Tag für Tag vornahm. Nur über die Entstehung wußte man nichts, und um sich nicht ein Armutszeugnis ausstellen zu müssen, kam man mit so abwegigen Erklärungsversuchen, wie sie Professor Klein immer zur Hand hatte und gleichsam auf einem Tablett vor sich einhertrug. Man redete von unbekannten Naturkräften, von den Einflüssen der Luft, die die Kranken eingeatmet hätten – aber atmeten nicht alle Wöchnerinnen die gleiche Luft? –, von Miasmen, die diese Luft verbreitete, oder schließlich von dem berühmten, lächerlichen genius epidemicus. Und es blieb doch alles nur Gerede und Gefasel, auf das niemand, der ernsthaft nach der Wahrheit forschen wollte, etwas geben durfte.

Ruhig, mit unbewegtem Gesicht, hatte sich der Professor Kolletschka diese Fragen, die Semmelweis wie ein unversieglicher Brunnen aus sich heraussprudelte, angehört.

»Das sind viele Fragen auf einmal«, sagte er dann mit einem gütigen Lächeln. »Aber Sie sind sich hoffentlich im klaren darüber, mein lieber, junger Freund, daß es auf all diese Fragen nur eine Antwort gibt. Eine einzige Antwort, mit der dann aber auch alle Fragen beantwortet werden.«

»Natürlich!« erwiderte Semmelweis, brennend vor Eifer. »Und ich muß sie finden, diese Antwort. Und ich werde sie finden. Eines freilich weiß ich jetzt schon. Eines ist mir völlig gewiß, obwohl ich für meine Ueberzeugung einen bündigen Beweis einstweilen noch nicht zu erbringen vermag.«

»Und das wäre?« fragte Kolletschka neugierig.

»Eine Seuche«, sagte Semmelweis böse, »eine Seuche ist das Kindbettfieber nicht!«


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