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Als Semmelweis Ende Februar 1846 seinen Dienst bei der ersten Abteilung als Assistenzarzt antrat, war ihm bereits eröffnet worden, daß es sich nur um eine provisorische Anstellung handeln könne. Sein Vorgänger nämlich, Dr. Breit, hatte den bislang von ihm bekleideten Posten nur unter der Bedingung aufgegeben, daß er, falls die Umstände ihn dazu zwängen, notfalls für weitere zwei Jahre in seine Stellung zurückkehren dürfe.
Von dieser Vergünstigung machte Dr. Breit schon im Oktober des gleichen Jahres Gebrauch, so daß die erste Periode der Tätigkeit von Semmelweis an der Mutterstation sich nur auf einen Zeitraum von knapp acht Monaten erstreckte. Innerhalb dieser wenigen Monate hatte sich Semmelweis nicht nur mit einem das Uebliche weit übertreffenden Eifer, mit unermüdlicher Hingabe in die ihm zugefallenen ärztlichen Aufgaben gestürzt, sondern auch mit zähem Fleiß alles Material über das Kindbettfieber zusammengetragen, das nur irgend erreichbar war. Er hatte sich – teilweise unter Inanspruchnahme seiner Freunde und seines wachsenden Bekanntenkreises – Berichte aus gleichartigen Instituten des Auslandes einschicken lassen und sie mit seinen eigenen Feststellungen verglichen, ohne der Lösung der Frage, die ihn so sehr bewegte, damit wesentlich näher gekommen zu sein. Nur diese eine Ueberzeugung hatte alles, was er in Erfahrung gebracht hatte, nicht zu erschüttern vermocht: daß es sich beim Kindbettfieber auf keinen Fall um eine epidemische Krankheit handeln könne, daß sie andere – allerdings eben noch völlig rätselhafte – Ursachen haben müsse.
Von diesen Erkenntnissen, von diesem auf so mühsame Art erworbenen Wissen erfüllt, nutzte Semmelweis die unerwartete Befreiung von seinem anstrengenden Pflichtenkreis, um sein theoretisches Wissen zu vervollkommnen. Schon fünf Wochen nach Ausscheiden als Assistenzarzt erwarb er den Titel eines Magisters der Geburtshilfe, nur vier Tage später den eines Doktors der Chirurgie.
Seine Absicht war es nun eigentlich, nach Irland zu gehen und in der großen Klinik für werdende Mütter in Dublin seine Spezialstudien, die ja immer nur der Bekämpfung des auch dort grassierenden Kindbettfiebers galten und gelten konnten, in Zusammenhang mit praktischer ärztlicher Betätigung fortzusetzen. Er fing zu diesem Zweck auch bereits an, sich ernsthaft mit dem Erlernen der englischen Sprache zu beschäftigen. Aber ehe er diesen Plan noch in die Tat umzusetzen vermochte, trat ein Ereignis ein, das alle diese Absichten gegenstandslos machte. Der derzeitige Assistenzarzt Dr. Breit nämlich wurde, wohl auch für ihn selbst unerwartet, zum Professor der Geburtshilfe in Tübingen ernannt und verkündete, daß er Ende März 1847 erneut und nunmehr endgültig von seinem Posten zurücktreten werde, der dadurch wieder für Semmelweis frei wurde.
Semmelweis mochte dunkel ahnen, daß sein Leben und das, was er als den eigentlichen Inhalt seines Lebens anzusehen bereits gewohnt war, nunmehr der Entscheidung entgegenreifen würde. Noch einmal wollte er, für ein paar kurze Wochen, unbeschwert und heiter seine Jugend genießen, ehe die Aufgabe, der er sich innerlich schon verschrieben hatte, ihn ganz in ihren Bann schlug und völlig mit Beschlag belegte. Teils aus eigener Entschließung, teils beeinflußt durch den Rat wohlmeinender Freunde und guter Bekannter, entschloß er sich, die knappen drei Wochen, die ihm noch bis zum Ausscheiden Dr. Breits verblieben, unter dem heiteren, azurenen Himmel Italiens zu verleben.
So fuhr er nach Venedig, der Lagunenstadt, die er noch nie gesehen hatte, mit deren Namen sich für ihn wie für so viele Nordländer, Deutsche zumal, schöne und romantische und beglückende Vorstellungen verknüpften. Hier suchte und fand er jene Entspannung, deren er so sehr bedurfte, hier endlich gelang es ihm, »an den Kunstschätzen Geist und Gemüt zu erheitern, welche durch die Erlebnisse im Gebärhaus so übel affiziert wurden«.
Viel zu rasch freilich verflogen die leicht beschwingten, die sorglosen und glücklichen Tage, die ihn noch einmal vergessen ließen, was so viele Monate hindurch ihn in den Bann geschlagen, ihn mit Zweifeln, mit Schmerz und anteilnehmender Trauer, mit Erbitterung und Unruhe erfüllt hatte. Bald galt es schon wieder, dieser geliebten und glücklichen Landschaft den Rücken zu kehren. Und pünktlich am 20. März, wie es mit seinem Chef vereinbart worden war, betrat Semmelweis die ihm nun schon so vertraute Stätte seines zukünftigen Wirkens.
Er hatte kaum die ersten Förmlichkeiten erledigt, kaum das Personal freundlich und als nun schon gute alte Bekannte begrüßt und seinen ersten Gang durch die Abteilung gemacht, als er schon erfuhr, daß die medizinische Fakultät Wiens während seiner Abwesenheit leider einen herben Verlust erlitten habe.
»Wer ist's denn?« fragte Semmelweis neugierig.
»Herr Professor Kolletschka!« erhielt er zur Antwort.
Kolletschka? Semmelweis erschrak zutiefst. »Unmöglich«, stammelte er fassungslos. Es war ja auch wirklich nicht zu begreifen. Kolletschka – nie war der krank gewesen, er hatte eine Bärennatur, nichts an ihm deutete auf Hinfälligkeit oder auch nur auf eine zarte und gebrechliche Gesundheit. Es war völlig unfaßbar, es war auch schrecklich und tief traurig. Natürlich – es starb immer mal jemand, auch aus dem medizinischen Professoren-Kollegium der Universität Wien. Auch diese großen Aerzte und Wissenschaftler waren ja nicht unsterblich, waren nicht gefeit gegen den Zugriff des Todes.
Aber Kolletschka! Er war ihm, Semmelweis, mehr gewesen, viel mehr als nur ein gütiger, verständnisvoller und einsichtiger Lehrer – er hatte ihn, trotz des Altersunterschiedes, immer als einen Freund betrachtet.
Er fragte nach den Einzelheiten, die ihm nun brockenweise enthüllt wurden. »Ein Student ist schuld«, erklärte man ihm. »Wenn man dort von Schuld reden darf, wo doch nur eine Unachtsamkeit, ach, nicht einmal das, eine Unvorsichtigkeit vorliegt.«
Kolletschka hatte, wie üblich, vor einem Kreis lernbegieriger Schüler seziert. Dabei war ihm einer der Studenten aus Unachtsamkeit mit dem Skalpell zu nahe gekommen und hatte ihn an einem Finger der rechten Hand verletzt. Eine ganz leichte, eine lächerlich geringfügige Wunde eigentlich. Aber sie hatte genügt, um eine Spur von Leichengift in die Blutbahn Kolletschkas zu bringen. Sofortige ärztliche Hilfe, alle sogleich in Anwendung gebrachten Vorsichtsmaßnahmen hatten nicht verhindern können, daß Professor Kolletschka wenige Tage später an Blutvergiftung starb.
»So also war es«, schloß der Bericht, den man Semmelweis über den traurigen Vorgang gab.
»So also war es«, wiederholte er leise und starrte vor sich hin.
»Hat man die Leiche seziert?« wollte er wissen.
Natürlich. Selbstverständlich. Rokitansky hatte es sich nicht nehmen lassen, es selbst zu tun. Rokitansky, der eigentliche Schöpfer der neuen medizinischen Schule in Wien, der große Anatom, dessen Sektionen und Beschreibungen der Sektionsergebnisse durch ihre Klarheit und Sauberkeit und wunderbare Folgerichtigkeit berühmt waren.
Nie hätte Semmelweis später erklären können, was ihn wohl antrieb zu fragen, ob er in den Sektionsbefund Einsicht nehmen könne.
Gewiß, das machte keine Schwierigkeiten. Dagegen gab es keine Bedenken. Wenig später hielt Semmelweis das bedeutungsvolle Blatt in Händen. Sehr, sehr langsam, mit angespannter Aufmerksamkeit, Zeile für Zeile las er durch, was Rokitansky ins Protokoll diktiert hatte.
Plötzlich begann er zu zittern, das Blatt drohte seinen Händen zu entfallen.
Dabei war doch eigentlich alles ganz klar, beinahe selbstverständlich. Leise murmelte Semmelweis die Fachausdrücke, die sich in dem nüchternen Schriftsatz häuften, vor sich hin: Lymphangitis und Phlebitis, Pleuritis, Pericarditis, Peritonitis, Meningitis und die schrecklichen Auswirkungen eines metastatischen Prozesses, die das Auge zerstört hatten.
Das war Pyämie. Das war das typische Krankheitsbild, richtiger gesagt Sektionsbild eines an Blutvergiftung verstorbenen Menschen. Aber … aber … Lymphangitis, Phlebitis, Pericarditis und so weiter, hatte er, Semmelweis, nicht oft und oft dieselben Worte diktiert, wenn es sich um die Sektion einer an Kindbettfieber verstorbenen Frauensperson handelte? Allzu oft, leider.
Aber diese Frauen waren doch nicht an Blutvergiftung gestorben? Und Professor Kolletschka war doch nicht an Kindbettfieber eingegangen. Oder? …
Semmelweis taumelte vor Erregung.
»Wie ihn der Tod Kolletschkas mitnimmt«, dachten die andern, die ihn teilnehmend betrachteten …