Gustav Theodor Fechner
Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen
Gustav Theodor Fechner

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VI. Pflanzen-Tod und -Leid.

Hart ging mich anfangs der Gedanke an, wie von allen Gräsern und Blumen der Wiese, von allen Ähren des Feldes, von allen Bäumen des Waldes doch kaum eines eines natürlichen Todes stirbt, wie alles das unter der Sichel, der Sense, der Art fällt, und ich fragte mich: sollte die Natur so viele Geschöpfe mit Empfindung nur begabt haben, um alle einen grausamen Tod sterben zu lassen? Sind sie nicht doch bloß vielmehr zum Schmucke und Nutzen für anderes da, als sich selbst zu schmücken und zu eignem Zwecke zu wachsen? — Derselbe Einwand begegnete mir zuerst, als ich zu einem Freunde von meinem Glauben an die Pflanzenseele sprach. Nein, sagte er, das wäre doch zu schlimm, wenn die Pflanzen als beseelte Wesen sich alles das gefallen lassen müßten, und nicht einmal den Versuch machen könnten, davon zu laufen!

Inzwischen betrachtete ich dagegen, wie ja in denselben Ländern, wo kein Gras und Baum mehr eines natürlichen Todes stirbt, auch kein Hase, kein Reh, kein Schaf noch Rind, noch Pferd, ja fast kein Mensch mehr eines natürlichen Todes stirbt. Denn wer wird es einen solchen nennen, wenn der Mensch von Krankheit grausam zu Tode gequält wird. Man mag versuchen, diesen, mit dem Übergewicht der menschlichen Kultur eintretenden, Umstand sich zurecht zu legen, wie man will, aber einen Einwand gegen die Empfindung der Geschöpfe, die diesem Schicksal unterliegen, kann man nicht daraus ziehen. Die Natur hat unzählige Geschöpfe mit dem Vermögen unsäglich mannigfaltiger Lust geschaffen, aber an jedes Vermögen, mit Lust zu leben, knüpft sich auch die Gefahr, mit Unlust zu sterben.

Daß die Pflanze nicht einmal den Versuch machen kann, drohendem Unheil auszuweichen, scheint uns freilich schlimm, aber doch nur von unserm Standpunkt aus. Wenn der Soldat, in Reih und Glied gebannt, die Kanonenkugeln immer näher streichen und nach sich fortschreitend Mann um Mann fallen sieht, so muß ihn das freilich schlimm dünken. Er fühlt die Kugel eher, ja vielleicht noch mehr, als wenn sie ihn wirklich trifft. Aber wenn der Schnitter durch das Feld geht, so weiß die Ähre nichts von seinem Nahen und fühlt den Schnitt erst, wenn er sie wirklich trifft; nicht anders als auch der Mensch von so manchem durch ein höheres Wesen über ihn verhängten Schicksal plötzlich getroffen wird, ohne daß seine Lebensfreude auch nur einen Augenblick durch dessen Voraussicht getrübt worden wäre. Dieses Unbesorgtsein der Pflanze kann sogar selbst als eine schöne Seite ihres, der Gegenwart rein dahingegebenen, Lebens erscheinen, als Ersatz dafür, daß sie freilich auch höhere Genüsse, die am größern Vorblick und Umblick hängen, missen muß. Glaubt man denn, es sei der Maus besser zu Mute, wenn die Katze sie spielend mordet, so daß sie den Tod hundertmal schon fühlt, ehe sie ihn erleidet, als wenn sie von einem Schlage ihrer Tatze getötet wird? Und was ist unser Immerwieder davonlaufen aus den Gefahren des Todes viel anders als das immer wieder Weghuschen unter den Klauen einer großen schwarzen Katze, von der wir doch wissen, daß wir ihr endlich anheimfallen werden.

Auch sonst stellt man sich die Sachlage für die Pflanzen leicht zu schlimm vor. Wie unzählige Bäume und Kräuter sterben doch noch den natürlichen Tod in Wildnissen; wie sorgsam werden Fruchtbäume und Blumen von uns selber im Garten gepflegt. Und wenn alle Bäume unsrer Wälder endlich niedergeschlagen werden, ist es nach einer viel längern Lebensdauer, als im Mittel der Mensch hat. Alle Felder werden endlich abgemäht, aber was hat das schon zu Stroh gewordene Getreide noch zu verlieren? Gewonnen hat es doch vorher von uns Düngung und gute Pflege. Die Gräser der Wiese werden im Mähen vielmehr geschoren wie die Schafe, als geschlachtet, denn der Stock der Gräser geht ja nicht ein, wird nur zu neuem kräftigern Austriebe gereizt. Überhaupt, wenn wir Teile von der Pflanze abreißen, hat das gar nicht gleiche Bedeutung, als wenn wir Teile von uns losreißen, weil die Pflanzen anders als wir darauf eingerichtet sind, beim Abschneiden oder Abreißen einzelner Teile andere um so stärker zu treiben. Nimmt man einer Pflanze einige Blüten, werden die andern wie die daraus hervorgehenden Früchte nur um so völliger ausgebildet. Wie dienlich das Beschneiden für die Tragbarkeit von Früchten sein kann, ist bekannt. Also wird man sich das Pflücken einer Blume oder Brechen eines Zweiges gar nicht so sehr zu Herzen zu nehmen haben. Leidet auch die Pflanze zunächst etwas davon, wird es sein, wie mit dem Leiden des Menschen, welches dient, ihn zu größerer Tätigkeit heilsam anzutreiben, was ihm oft durch die Folgen mehr frommt, als das Leiden unmittelbar schadet. — Dazu muß man es noch für sehr fraglich halten, ob die Pflanze, wenn sie auch empfindet, den Schnitt und das Abbrechen ebenso mit Schmerz empfindet wie das Tier, da ganz andre Bedingungen der Organisation hier obwalten. Die Verhältnisse der Schmerzempfänglichkeit sind überhaupt noch nicht aufgeklärt. Sogar das Tier empfindet den Schnitt an manchen Teilen nicht, die doch gerade Hauptträger seiner Seelentätigkeiten sind. Man kann vom Gehirn große Stücke wegschneiden, ohne daß Schmerz entsteht, während die Sinnes- und sonstigen Seelentätigkeiten dabei leiden. Und selbst diese leiden nicht, wenn man nicht zu viel wegschneidet, indem die noch übrigen Teile dann die Funktion der weggenommenen vertreten. So kann man auch ein Auge zerstören, und der Mensch sieht noch vortrefflich mit dem andern. Und so wird man auch eine einzelne Blume von einer Pflanze abreißen können, ohne daß es wahrscheinlich die Pflanze sehr erheblich weder unmittelbar durch Schmerz noch sonstiges Leid spürt, wenn ihr nur noch andere gleich schöne Blumen bleiben; der Trieb in diese wird nur um so mehr zunehmen. Wollte man ihr freilich alle Blumen nehmen, so wäre es traurig. Aber dem Menschen geht es auch oft traurig, und man wird nicht verlangen, daß es die Pflanze besser habe als der Mensch.

Die Besorgnis, daß wir keinen Spaziergang durchs Grün mehr machen, das Mähen keiner Wiese mehr ansehen, keine Blume mehr pflücken könnten, ohne uns störend durch den Gedanken berührt zu finden, daß hierbei empfindenden Geschöpfen ein Leides getan werde, wird hierdurch schon sehr vermindert erscheinen. Wir sind aber auch in solcher Beziehung gar nicht so sentimental, als wir uns wohl manchmal einbilden möchten; und wäre es also nur, um uns selbst unangenehme Gefühle zu ersparen, daß wir der Pflanze keine Gefühle zuschreiben wollten, — im Grunde der ganze Sinn des Einwandes — so hätten wir dabei auf etwas gerechnet, was eigentlich gar nicht da ist.

Erinnern wir uns doch, wie es uns gar nicht anficht, zu wissen, daß wir auf jedem Spaziergang wohl taufend kleine Tierchen zertreten; wie wir ohne die geringste Anwandlung von schmerzlichen Gefühlen unsern Braten essen; große Töpfe Krebse kochen; Hirsche, Hasen, Rehe jagen; Vögel schießen oder in das Bauer sperren; Insekten um der Sammlung willen spießen; Frösche zum Experimente schinden; in die Luft mit dem Stocke nach Mücken schlagen; Ameisen mit kochendem Wasser übergießen; Maikäfer schütteln und zerstampfen; Fliegen an Stöcken mit Fliegenleim sich zu Tode zappeln lassen. Höchstens schilt doch jeder nur auf das, was er selber in dieser Beziehung nicht zu tun gewohnt ist. Hiernach werden wir nun wohl erwarten können, daß uns auch der Gedanke an das Weh, das wir den Pflanzen im Verfolgen unsrer Zwecke etwa zufügen möchten, keine große Unbequemlichkeit machen wird. Der Mensch weiß sich auf dergleichen einzurichten. Er verspart sein Mitleid für Tiere auf die Fälle, wo er eben keinen Nutzen davon hat, sie zu töten oder zu plagen, oder bloß einem andern als ihm selber dieser Nutzen zu Gute kommt. Da kann dies Mitleid manchmal lebendig genug werden. Und gerade ebenso würde sich’s auch bei den Pflanzen machen. Ob das eine löbliche Seite des Menschen ist, braucht hier nicht untersucht zu werden; genug, es ist so, und mag immerhin so notwendig in der natürlichen Verkettung der Dinge liegen. Sollte aber der Mensch wirklich lernen, die Pflanzen etwas schonender zu behandeln, da wo kein Zweck gebietet, sie zu verletzen, wäre es ein Nachteil? Ich meine, eher das Gegenteil!


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