Gustav Theodor Fechner
Elemente der Psychophysik Teil 1
Gustav Theodor Fechner

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IV. Begriffliches über Empfindung und Reiz.

Bei der noch so großen Unvollständigkeit der bisherigen psychophysischen Untersuchungen würde eine Aufzählung, Begriffsbestimmung und Klassifikation aller psychischen Zuständlichkeiten, die einmal Gegenstand derselben werden können, wenig Nutzen haben. Zunächst und in der Hauptsache werden wir uns mit sinnlichen Empfindungen im gewöhnlichen Wortsinne der Empfindung beschäftigen, wobei ich mich folgender unterscheidenden Nomenklatur bedienen werde.

Ich werde intensive und extensive Empfindungen unterscheiden, je nachdem es die sinnliche Auffassung von etwas gilt, dessen Größe als intensive oder extensive faßbar ist, also z. B. zu den intensiven Empfindungen die Empfindung der Helligkeit, zu den extensiven Empfindungen die Auffassung einer räumlichen Ausdehnung mit Gesicht oder Getast rechnen, und werde demgemäß auch intensive und extensive Größe einer Empfindung unterscheiden. Wenn uns ein Gegenstand heller als der andere erscheint, heißt uns die Empfindung, die er gewährt, intensiv größer, wenn er uns größer als der andere erscheint, extensiv größer. Dies ist nur Sache der Definition, und setzt, so allgemein verstanden, noch kein bestimmtes Maß der Empfindung voraus.

Bei allen Empfindungen überhaupt, intensiven wie extensiven, können wir Größe und Form unterscheiden; nur daß bei den intensiven die Größe häufiger Stärke und die Form Qualität genannt wird. Bei den Tönen hat die Höhe, obwohl als Qualität des Tones faßbar, doch auch eine quantitative Seite, sofern wir eine größere und geringere Höhe unterscheiden können.

E. H. Weber unterscheidet, unstreitig sehr triftig, das Vermögen oder den Sinn, wodurch uns extensive Empfindungen nach dem hier angenommenen Sprachgebrauche zukommen, oder den Raumsinn als Generalsinn von den Sinnen, welche uns intensive Empfindungen gewähren, als Spezialsinnen, sofern erstere Empfindungen nicht wie letztere schon durch Eindruck auf einzelne, von einander unabhängige Nervenfasern oder deren respektive Verzweigungskreise (Empfindungskreise), sondern nur durch eine Koordination von Eindrücken auf mehrere hervorgehen können, wobei nicht sowohl die Stärke und Qualität der Eindrücke, als die Zahl und Anordnung derselben oder der Kreise von Nervenzweigen, auf welche dieselben geschehen, wesentlich für die Größe und Form der extensiven Empfindung ist. Seine Auseinandersetzungen hierüberBerichte der sächs. Soc. 1853. S. 83; im Auszuge in Fechner's Zentralbl. 1853. No. 31. sind sehr geeignet, zur Klarheit über die allgemeinen Verhältnisse der Sinne beizutragen; hier kann es jedoch zunächst genügen, auf den eben bemerkten Unterschied in den Umständen, wovon intensive und extensive Empfindungen abhängen, hingewiesen zu haben; wie denn überhaupt diese kurzen Vorerörterungen bloß bestimmt sind, die Erörterung über die an die Empfindlichkeit und Empfindung zu legenden Maße einzuleiten, und daher nicht weiter in die Lehre von den Empfindungen eingehen, als es dieser Zweck erfordert.

Bei der verschiedenen Natur und den verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen der extensiven und intensiven Empfindungen bedarf es einer besonderen Untersuchung ihrer Gesetze. Es ließe sich denken, daß die Größe der extensiven Empfindung oder extensive Größe der Empfindung in entsprechender Weise, nach gleichem Gesetze, von der Zahl gereizter Empfindungskreise abhinge, als die der intensiven Empfindung von der Intensität ihrer Reizung; aber weder läßt sich dies von vorn herein voraussetzen, noch ist es bis jetzt erwiesen. Unsere künftigen Untersuchungen und demgemäßen Angaben werden sich vorzugsweise, wenn schon nicht ausschließlich, auf die intensiven Empfindungen beziehen, und solche unter Empfindungen schlechthin zu verstehen sein, wo nicht das Gegenteil aus dem beigefügten Beiworte extensiv oder aus dem Zusammenhange von selbst erhellt.

Nächst der Unterscheidung der extensiven und intensiven Empfindungen ist der Unterscheidung der objektiven Empfindungen und der Gemeingefühle, der sogenannten positiven und negativen Empfindungen zu gedenken. Objektive Empfindungen, wie die Empfindungen von Licht und Schall, sind solche, welche auf das Dasein einer den Empfindungsorganen äußeren Quelle der Erregung bezogen werden, indes die Modifikationen des Gemeingefühles, wie Schmerz, Lust, Hunger, Durst nur als Zuständlichkeiten unseres eigenen Körpers selbst empfunden werden. Auch über dieses Verhältnis sind die klassischen Untersuchungen Weber's in seiner Abhandlung über Tastsinn und Gemeingefühl nachzusehen.

Als positive und negative Empfindungen pflegt man die Empfindungen von Wärme und Kälte, Lust und Schmerz sich entgegenzustellen, welche das Gemeinsame haben, daß die Weise ihrer Erregung oder der Bezug zu dem, was sie erregt, einen Gegensatz einschließt, indem das Gefühl der Kälte durch Entziehung der Wärme, wie das der Wärme durch vermehrte Aufnahme von Wärme, entsteht und wächst, die Empfindung der Lust mit einem Anstreben der sie erregenden Ursache, wie die Unlust mit einem Gegenstreben in Beziehung steht.

Indem man jene Benennung positiver und negativer Empfindungen als Sprachgebrauch gelten lassen kann, hat man aber dabei nicht außer Acht zu lassen, daß die sogenannten negativen Empfindungen psychisch genommen an sich nichts Negatives haben, nicht einen Mangel, ein Weniger von Empfindung, eine Entfernung von Empfindung repräsentieren, da sie vielmehr eben so heftig oder selbst heftiger als die sogenannten positiven sein, und eben so starke positive körperliche Wirkungen äußern oder mitführen können, wie denn die Empfindung des Frostes eine Erschütterung des ganzen Körpers, die des Schmerzes Geschrei und sonst andere lebhafte körperliche Äußerungen veranlassen kann.

Der Ausdruck Reiz ist in engerem Sinne nur auf die körperlichen Erweckungsmittel, Anregungsmittel intensiver Empfindungen zu beziehen. Insofern sie unserer körperlichen Außenwelt angehören, sind es äußere Reize; insofern sie unserer körperlichen Innenwelt angehören, sind es innere Reize. Der Begriff der ersteren ist durch Aufzeigung äußerer Reize, wie Licht, Schall, sächlich zu erläutern, der Begriff der letzteren wird erst noch genauer zu klären und vielleicht schließlich, bis zu gewissen Grenzen, zu eliminieren sein. Ein Rauschen im Ohre kann durch äußere Einwirkung der Luftschwingungen entstehen, die ein Wasserfall in unser Ohr sendet. Ein ähnliches Rauschen kann ohne äußere Einwirkung durch Ursachen in unserem Körper entstehen. Sie sind im Allgemeinen unbekannt; aber insofern sie das Äquivalent der Wirkung eines äußeren Reizes erzeugen, sind sie auch als Äquivalent eines solchen in Rechnung zu ziehen, und aus diesem Gesichtspunkte wird uns der Ausdruck innerer Reiz öfters bequem sein, die unbekannten, aber nach ihrer Wirkung als faktisch anzuerkennenden, inneren körperlichen Ursachen von Empfindungen mit den äußeren unter gemeinsame Begriffe, Gesichtspunkte, Formeln zu fassen.

Sollte die Seele von äußeren und inneren Anregungen nur nach Maßgabe gerührt werden, als deren Wirkungen bis zu einem bestimmten Punkte des Körpers gelangt sind, so würden alle Empfindungen, insoweit eine Abhängigkeit derselben vom Körper zugestanden wird, nur Folgewirkungen körperlicher Bewegungen sein, und hiernach selbst die innerlichsten körperlichen Bedingungen der Empfindungen unter den Begriff der Reize treten. Wogegen im Falle des Gebundenseins der Empfindungen an wesentlich mitgehende, in funktioneller Beziehung dazu stehende, körperliche Bewegungen es nicht statthaft sein würde, solche Simultanbedingungen der Empfindung, mit denen die Empfindung unmittelbar gesetzt ist, auch noch mit unter die Reize zu zählen, sondern nur solche, welche selbst erst zu deren Hervorrufung dienen, will man nicht Verschiedenes vermengen. Inzwischen brauchen wir uns zwischen beiden Ansichten hier noch nicht zu entscheiden, und es hat die danach sich verschieden stellende Auffassung innerer Reize auf unsere faktischen Betrachtungen keinen Einfluß, so lange wir das Dasein und den Größenwert der inneren Reize eben nur nach ihrer äquivalenten Wirkung mit äußeren Reizen annehmen und in Rechnung ziehen. Sie sind uns zunächst ein ihrem Orte und ihrer Qualität nach unbekanntes x, das aber doch mit einer bestimmten, der der äußeren Reize vergleichbaren, quantitativen Wirkung in den Erscheinungskreis eintritt, und seinen Namen und Wert nach dieser empfängt.

Manches, was man im gewöhnlichen Leben sich scheuen würde, unter dem Namen Reiz mit zu begreifen, werden wir doch kein Bedenken tragen, mit darunter zu fassen, als z. B. Gewichte, insofern sie drückend die Empfindung des Druckes oder gehoben die Empfindung der Schwere verursachen. Dagegen hätte eine Übertragung des Wortes Reiz auf die Ursachen, wodurch extensive Empfindungen in uns hervorgerufen werden, ihr Mißliches, zumal über diese Ursachen noch wenig Klarheit überhaupt vorhanden ist. Auch ohne Zutritt äußerer Ursachen haben wir im geschlossenen Auge ein mit Schwarz erfülltes Gesichtsfeld von gewisser Ausdehnung, und auch ohne Berührung mit Zirkelspitzen oder dergl. können wir uns bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit einer gewissen Ausdehnung unserer Körperoberfläche bewußt werden. Was äußerlich zutritt, markiert teils Grenzen in diesem von Natur schon gegebenen Empfindungsfelde, teils bestimmt es Formen, teils gibt es Anhalt zu verhältnismäßigen Größen- und Distanzschätzungen, ohne doch die Empfindung der Ausdehnung selbst erst zu erzeugen. Diese scheint in der Zusammenordnung und organischen Verknüpfung tätiger Nerven, respektiv ihrer zentralen Endigungen, angebornerweise begründet zu sein, obschon hierüber noch nichts Sicheres entschieden ist. Wenn man nun nach dieser Voraussetzung von Reiz hier überhaupt noch sprechen wollte, könnte wohl nur die Koordination der inneren Erregungen dieser Nerven in Anschlag zu bringen sein. Da es aber wahrscheinlich Simultanbedingungen der Empfindung sind, würde der Ausdruck hierdurch wieder uneigentlich werden. Auch kann, worauf Manche Gewicht legen, die Erfahrung unter Mithilfe von Bewegungen zu der Ausdehnungsschätzung mitwirken. Es wäre aber nicht am Orte, hier, wo es bloß sprachliche Bestimmungen gilt, in diesen noch ziemlich dunkeln Gegenstand weiter einzugehen.

Ohne Rücksicht auf diese Dunkelheit und auf die Frage, inwiefern das Wort Reiz hier irgendwie noch eine Stelle findet, kann man sagen, daß die Größe des Reizes bei intensiven Empfindungen insofern durch die Zahl der zwischen gegebenen Punkten enthaltenen tätigen Empfindungskreise bei extensiven vertreten wird, als die empfundene Extension in Abhängigkeit davon ab- und zunimmt, so daß betreffs quantitativer Abhängigkeitsverhältnisse diese Zahl mit der Größe des Reizes unter einen gemeinsamen, freilich nur sehr allgemeinen, Gesichtspunkt für beiderlei Empfindungen gefaßt werden kann; ohne daß jedoch damit behauptet werden kann, sei es, daß das Gesetz der Abhängigkeit beidesfalls ein gleiches sei, oder daß nicht die extensive Empfindungsgröße noch von anderen Umständen als jener Zahl mitabhängig sein könne, welche Punkte vielmehr selbst erst ein Gegenstand wichtiger psychophysischer Untersuchung sind.

Bei Einwirkung der meisten äußerlichen Potenzen, wovon Empfindung abhängt, steigt die Empfindung, nachdem sie überhaupt merklich geworden ist, mit Verstärkung der einwirkenden Potenz kontinuierlich in demselben Sinne und sinkt mit Schwächung derselben kontinuierlich bis ins Unmerkliche. In Betreff einiger aber, wie Wärme und Druck auf die Haut, ist der Organismus so eingerichtet, daß vielmehr nur nach Maßgabe der Differenz von einer gegebenen mittleren oder gewohnten Einwirkung, wie der gewöhnlichen Temperatur, dem gewöhnlichen Luftdrucke, Empfindung entsteht, und diese ebensowohl, aber mit verschiedenem Charakter, als Empfindung von Wärme oder Kälte, Druck oder Zug, wächst, je nachdem man die Einwirkung über diesen Grad steigert, oder unter diesen Grad erniedrigt. In diesem Falle wird man passend als Reiz nicht die absolute Größe des Wirkenden, sondern seine positive oder negative Differenz von dem Grade, welcher die Empfindungen mit entgegengesetztem Charakter scheidet, und bei welchem keine Empfindung stattfindet, anzusehen haben, und die erste als positiven, die letzte als negativen Reiz bezeichnen können.

Insofern im Folgenden die Wirkungsbeziehungen zwischen Reiz und Empfindung in Betracht gezogen werden, sind die Reize auch stets als wirklich einwirkende und zwar als unter vergleichbaren Umständen einwirkende vorausgesetzt, wenn nicht das Gegenteil ausdrücklich bemerkt ist oder aus dem Zusammenhange von selbst erhellt. Es kann aber die Vergleichbarkeit ebensowohl durch eine verschiedene Anbringungsweise der Reize, als einen verschiedenen Zustand des Subjektes oder Organes, worin der Reiz dasselbe trifft, aufgehoben werden, womit der Begriff einer verschiedenen Empfindlichkeit in Beziehung steht, von deren Begriff und Maß im sechsten Kapitel näher die Rede sein wird.

Der Kürze halber sagt man von einem Reize, der eine Empfindung anregt, sowie einem Reizunterschiede, der einen Empfindungsunterschied mitführt, er werde empfunden, stärker oder schwächer, je nachdem die Empfindung, der Empfindungsunterschied stärker oder schwächer ist, eine Ausdrucksweise, deren wir uns ebenfalls, ohne Mißverständnisse besorgen zu dürfen, bedienen können.

Äußere Psychophysik.

Die psychophysische Maßlehre.


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