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Zwanzigstes Kapitel.

Signor Salvioni liest.

 

Als wir uns am folgenden Tage nach Via Bigli begaben, war es uns allen ungefähr, wie wenn man zu einer heiteren Komödie geht: aber ich allein glaubte, den Inhalt des Stückes zu kennen: »Der Signor Bini hat eine Tochter vom feinsten Pariser Fabrikat gefunden und will sie nicht herausgeben ... um so mehr, da sich niemand meldet, um sie zurückzufordern. Wenn das alles in Ordnung ist, so klappt Signor Bini auseinander und zieht sein ›anderes Ich‹, den Signor Pasquali hervor; dieser, um mit seinem Gegner im Prozeß Frieden zu schließen, gibt ihm ›die Tochter des Signor Bini‹ zur Frau.«

Aber der alte Schelm machte mich gleich anfangs irre, indem er die Katastrophe, nämlich was ich dafür hielt, schon an den Eingang setzte; denn wir alle konnten am Thürschild in sehr deutlichen Buchstaben »Pasquali« lesen.

»Wie?« rief Valens aus, »es ist also nicht Signor Bini ...«

Da mich dünkte, dieser Name an der Thür ermächtige mich, alles zu sagen, was ich wußte – so erwiderte ich: »Es ist und ist auch nicht Signor Bini; denn wie du neulich ganz richtig sagtest, Signor Bini ist nicht Signor Bini. Um deutlicher zu sein: Dein Prozeßgegner, der geheimnisvolle Käufer deiner ›Venus‹, der ›vermeintliche‹ Vater Chiarinas, sind drei Personen in einer. Und nun laßt uns ihn mit einem fröhlichen Gelächter begrüßen!«

Und während es unsere Damen anmutig diesseits der Thür anstimmten, fiel der Glockenzug lärmend jenseits der Thür ein; dann öffnete sich diese und es erschien ... man wird es leicht erraten ... Marco, der feierliche Marco in der neuen Livree, würdevoll und jeder Erregung unzugänglich.

Auch unsere einander zugeworfenen Blicke, unsere laute Heiterkeit steckten ihn nicht an; er führte uns in einen »geräumigen, reich ausgestatteten, glänzend erleuchteten Saal«, wie im letzten Akt eines Lustspiels, wo die Hochzeit stattfindet. In der Mitte der einen Wand prangte Signor Nebulis »Schaum des Meeres«, mit zweien meiner Schöpfungen zur Seite, den letzten, welche die permanente Ausstellung verlassen hatten. Ich wendete mich zögernd um, mit großer Furcht, an der Wand gegenüber meiner »Fischerfamilie« zu begegnen, und freute mich, sie nicht zu finden. So hatte wenigstens mein Russe nicht zum Scherz gekauft! Eine schmerzliche Wahrheit verkündeten mir diese beiden Gemälde: daß sich Genrebilder in Mailand nicht so viel leichter verkaufen als in Turin, wie Annetta und ich uns eingebildet hatten.

Einen Augenblick darauf trat Signor Pasquali ein.

»Lieber Signor Bini,« redete ich ihn an.

»Signor Bini ...« wiederholte ein lachender Chor.

»Pasquali Bini, wenn es Ihnen beliebt,« antwortete er ohne jede Verlegenheit, »nehmen Sie Platz; Sie, mein Töchterchen in diesem Sessel neben dem Papa ... Denn Sie müssen wissen,« fuhr er fort, »daß ich eine Tochter gefunden habe ... hier ist sie ... wollen Sie in meine Arme kommen, Signora Chiarina? ... Nein? nun, Sie werden es später thun ...«

Wir suchten ihn zu unterbrechen; es war nicht möglich.

»Lassen Sie mich ausreden; Sie müssen wissen, daß ich ein wenig eigensinnig bin; ich mag gern, daß die Dinge nach meinem Sinne gehen, und gewöhnlich lassen Sie sich nicht allzu lange bitten. Jetzt möchte ich, daß Signora Chiarina meine Tochter sei, daß Sie mich ›Papa‹ und ›Du‹ nennt und mir jeden Morgen einen Kuß gibt.«

»Aber Sie sind doch nicht mein Vater!« bemerkte Chiarina.

»Was wissen Sie davon? ... Ich werde mich auf das Civilstandesamt begeben, um zu erklären, daß Sie meine Tochter sind, und alle werden es glauben; heißt es doch Civilstandesamt, weil es dort lauter civile Leute gibt, die nicht imstande sind, einen vom Rheumatismus und von Reue geplagten Greis Lügen zu strafen. Sobald ich Sie anerkannt habe, heißen Sie Chiarina Pasquali, verwitwete Salvioni ...«

»Verwitwete?!« rief Valens aus.

Aber der alte Herr fuhr unaufhaltsam fort: »Sie werden Chiarina Pasquali heißen, und um dem Gesetz des Blutes Genüge zu thun, werden Sie mir zuerst so gut sein (er berührte das erste Fingerglied), dann so gut (er berührte das zweite), dann noch ein bißchen mehr, und ich will fürs erste damit zufrieden sein; bekommen Sie mit der Zeit Lust, mich kindlich zu verehren, so werde ich mich gern verwöhnen lassen und Ihnen zulieb so lange wie möglich auf Erden weilen. Nein? es ist Ihnen alles nicht recht? nun, dann mache ich mich bald davon und lasse Sie als Erbin meiner Habe zurück ... Was Sie betrifft, Signor Ferdinando, so wissen Sie, daß wir Verwandte sind ...«

»Entfernte!« fiel ich ein.

»Jawohl, entfernte, und es ist ein Glück für mich, daß ich Sie nicht aus den Augen verloren habe; also thun Sie mir den Gefallen, die Schenkung anzunehmen, und sprechen wir nicht mehr davon.«

Nachdem Valens der allgemeinen Heiterkeit seinen Tribut gezollt hatte, wurde er wieder nachdenklich.

»Worüber sinnen Sie nach?«

»Ich denke, daß Ihr Scherz sehr liebenswürdig ist, daß ich aber nicht zugeben kann ...«

»Sie haben weder etwas zuzugeben noch zu verweigern; fragen Sie nur Ihren Advokaten; Sie müssen dazu schweigen; seiner Zeit werden Sie um die Hand meiner Tochter anhalten ... und wir werden ja sehen ...«

Hier seufzte Valens tief und Signora Chiarina ließ den Kopf auf die Brust sinken. Da erhob sich der Alte, und rief laut zu einer Thür hinaus: »Signor Salvioni, kommen Sie doch.« Bei diesem Namen blickten Valens und Chiarina zaghaft aus. Auch mir kam ein entsetzlicher Gedanke und blitzschnell that sich eine ungeheuerliche und grausame Komödie vor mir auf; aber der Signor Salvioni erschien und war die harmloseste Person von der Welt, es war der Schein-Salvioni, der mit der Kleinen, mit der Nähmaschine, mit dem großen Appetit, der Salvioni, dessen Brief uns jenen entsetzlichen Schrecken gemacht hatte ...

Signor Pasquali stellte ihn uns als seinen Sekretär vor.

»Ich errate!« rief Valens aus. »Er ist's, der das Briefchen von gestern geschrieben hat!?«

» Er ist's,« setzte ich hinzu, »der die › o‹ mit dem Zirkel zieht und die › g‹ mit einem Häkchen macht!? ... O es schadet ja nichts, Signor Salvioni, machen Sie sie nur weiter so ...«

»Er ist es,« antwortete der alte Herr, »und da er Ihnen solchen Kummer wegen seines Namensvetters verursacht hat, so soll er das jetzt sühnen. Lesen Sie, Signor Salvioni.«

Wie verändert war der Signor Salvioni! Das Glücksgefühl hatte seinen verwilderten Bart entfernt, seine unordentlichen Haare geglättet und ein schickliches Lächeln auf seine sekretariellen Lippen gerufen. Er las mit lauter Stimme ein kurzes Schriftstück vor, ein Juwel an Gedanken, Form und Sprache. Beim ersten Satz fielen Chiarina und Valens einander in die Arme; am Schluß ward das Umarmen allgemein; Signora Chiarina empfing Annettas, des alten Herrn und meine Küsse, das heißt meinen Kuß, einen einzigen. Und um gerecht gegen meine Frau zu sein, sie war es, welche mich zu dieser That spornte.

Signor Salvioni hatte sich bescheiden in eine Ecke gedrückt und begnügte sich, ein Lächeln zu dem Freudenfest beizusteuern; er begriff wohl nichts davon, als daß noch ein anderer Salvioni auf der Welt gewesen, der vor zwei Jahren in Kairo den glücklichen Einfall gehabt hatte, sie zu verlassen.

Wie hatte sich nun Signor Pasquali diese unschätzbare Nachricht verschafft?

»Dadurch, daß ich mich ernstlich damit beschäftigte,« antwortete er. »Valens Nebuli gab sich vielleicht in den ersten Tagen nach Giorgiones Tode einige Mühe, aber wahrscheinlich wurde er dann lauer; er wird seine Gründe gehabt haben ... Ich ließ es mich natürlich einiges Geld kosten, mir dieses Stückchen Papier zu verschaffen ... Der Himmel bewahre mich davor, die Beamten des Staats, diese braven, mageren und redlichen Leute zu verleumden, aber das Geld, das so vieles verdirbt – wenn man es richtig auszugeben versteht, so ebnet es auch vieles.«

»Und wie haben Sie es angefangen?« begann ich wieder (nachdem ich bemerkt hatte, daß Signor Salvioni verschwunden war), »wie sind Sie, am See von Lecco lebend, auf eine so glückliche Idee gekommen?«

»Wie ich es angefangen habe? Als ob ich das wüßte! Nach und nach sind mir die Gedanken gekommen. Das ist eine lange Geschichte ... wollte ich sie erzählen, so würden Sie Geduld und Appetit verlieren ...«

»Reden Sie, reden Sie ...«

Und nun sprach er: »Nein, die Geschichte ist kurz, ich mache sie in vier Worten ab,« und er erzählte etwa so: »Ich war allein, ich langweilte mich: seit vielen Wochen brachten mir die Zeitungen, auf die ich abonniert bin, keine merkwürdige Neuigkeit; mein Advokat wiederholte mir immer dasselbe: er behauptete so unaufhörlich, der alte Corvi sei schwachsinnig gewesen, daß mir endlich schien, die Zeitungen, die Welt, der Advokat und ich seien sämtlich schwachsinnig geworden ohne es zu ahnen, wie es wahrscheinlich dem seligen Corvi gegangen ist.

»Da kam zu rechter Zeit die Begeisterung für den ›Schaum des Meeres‹. Morgens, abends, nachts sprachen die Zeitungen mir von Valens Nebuli; der Schöpfer des ›Schaumes‹ war für alle ein großer Künstler, nur für meinen Advokaten blieb er die ›Gegenpartei‹.

»Mir kam die Lust, das Meisterwerk zu sehen; als ich es gesehen, wollte ich es kaufen; als man mir sagte, daß es nicht verkäuflich sei, wollte ich die ›Gegenpartei‹ kennen lernen, und als ich Nebulis Bekanntschaft gemacht, verliebte ich mich in seine Frau.

»Mir war, als fühle ich wieder ein wenig junges Blut in den Adern; ich wollte dies, das, jenes thun; was wollte ich nicht alles mit meinem Gelde beginnen, um den Schaden wieder gut zu machen, den es mir zugefügt hatte? Aber man hat nicht umsonst so viele Jahre mit den Gerichten zu thun, man verliert nicht umsonst einen Freund, die Gesundheit und den Gleichmut; erst mußte ich den Prozeß gewinnen. Ich wartete, unterdessen verwickelten sich die Dinge: solange ihr mich beargwöhntet, amüsierte mich das; als ihr mir euern Kummer offenbartet, da sorgte auch ich Mich um euch; endlich thaten die Gerichte ihren Ausspruch. Den letzten Akt der Komödie kennt ihr; hier ist die Lösung: Chiarina Pasquali, verwitwete Salvioni, liebt den Maler Nebuli – und umgekehrt; der Papa willigt ein, sorgt für die Mitgift; Hochzeit.«

Valens wollte sich dagegen auflehnen; wie gewöhnlich wollte er's nicht zugeben: aber der alte Pasquali schloß ihm mit diesen Worten den Mund: »Nehmt an, ich sei tot – mein Testament wird geöffnet, ihr seid als Erben eingesetzt; lehnt ihr es ab, so erbt der Staat, der sich keine Bedenken macht. Richten wir denn, anstatt eines Begräbnisses, ein Hochzeitsmahl her: Sie, Signor Valens, nehmen die Mitgift und lassen mich noch ein Weilchen leben ... Ich sehe nichts so gar Schlimmes dabei ...«

Marco trat ein: er blieb einen Augenblick in der Thür stehen, dann schlug er die Portiere zurück.

Und nun bot Signor Pasquali, seine lange Gestalt beugend, den Arm ritterlich der Signora Chiarina, die sich vor Lachen und Vergnügen nicht zu lassen wußte. Valens führte meine Frau, ich ging hinterdrein.

Bei Tische erfuhr ich noch eines: Salvionis Töchterchen war in einer Erziehungsanstalt untergebracht, wohl verstanden, mit ihrer Freundin, der Nähmaschine.

»Uebrigens, Signor Ferdinands, die Maschine hat hundertundzwanzig Lire gekostet,« sagte der Alte zu mir, »Sie sind mir sechzig Lire schuldig. Vergessen Sie das nicht: erinnern Sie ihn daran, Signora Annetta, denn Ihr Gatte ist so unordentlich!«


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