Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nach dem Mittagessen am nächsten Tag nimmt Tredup seine Frau beim Arm und sie gehen zur Verhandlung. Es ist noch viel Zeit. Tredup hat gedacht, daß Elise schon viel schwerfälliger im Gehen sei, aber sie geht unbehindert, rasch wie ein junges Mädchen.
So spazieren die beiden noch ein Weilchen im Park. Sie kommen so selten dazu, miteinander auszugehen, und heute ist der Tag schön. Der Himmel ist noch einmal tiefblau, die Oktobersonne meint es gut, die Bäume sehen herrlich aus in ihrem bunten Laub.
Sie gehen auf und ab, eine Weile reden sie von den Kindern. Dann macht Tredup Pläne, was sie alles anfangen wollen, wenn er erst dreihundertfünfzig Mark hat. Vielleicht gibt man Hans auf ein Gymnasium, er hat den Kopf dazu. Aber vor allem muß eine Rücklage geschaffen werden.
»Jeden Monat fünfzig Mark auf die Sparkasse. Dann brauchen wir nicht so ängstlich zu sein, wenn Gebhardt mal was in den Kopf bekommt. Und ein Radio wollen wir uns endlich auch anschaffen.«
Elise lacht: »Was du alles mit den dreihundertfünfzig beschicken willst, Max! Vor allem brauchst du einen Anzug und neue Schuhe.«
Tredup druckst. Es stößt ihm das Herz ab. Nun es gut geht, muß er auch gut sein.
»Elise«, stößt er hervor. »Elise!«
»Ja, Max?« fragt sie und sieht ihn an.
Es ist eine Weile still, sie sehen sich nur an.
»Elise ...« fängt er wieder an und kann nicht weiter.
Aber sie hat schon verstanden: »Ich habe es immer gewußt, Max. Du brauchst nichts zu sagen.«
Plötzlich ist er ganz eifrig: »Elise, ich wollte ja nicht schlecht sein. Es war ja nur, daß ich solche Angst hatte vor der Zukunft. Ich dachte immer, wir verbrauchen die tausend Mark so mit, und wenn es mal schlecht geht, haben wir nichts. Ach, nein, das war es auch nicht ... Ich weiß nicht mehr ... Ich konnte und konnte einfach nicht ...«
»Es ist ja gut, Max. Es ist ja gut. Reg dich doch nur nicht so auf.« Sie streichelt seine Hand immerzu. »Du hast es mir ja jetzt gesagt. Es ist schon gut.«
Und er ganz eifrig: »Sobald ich Zeit habe, sobald der Prozeß vorbei ist, fahre ich und hole es dir. Du bekommst alles. Neunhundertneunzig Mark sind es. Denke dir!«
»Wir geben es auf die Sparkasse. Und dann sehen wir, daß wir ein nettes Geschäft kriegen, am besten nicht hier in Altholm. In Stargard oder Gollnow oder in Neustettin.«
»Aber ich kann doch nicht weg, wenn ich hier Redakteur bin.«
»Vielleicht gibst du es dann auf, wenn wir ein gutes Geschäft haben? Ich glaube Max, es ist dir nicht gut. Bitte, sei nicht bös.«
»Wieso nicht gut? Ach, Elise, das war ja nur, als ich Annoncenwerber war. Jetzt ...«
»Der Bürgermeister, Max!« stößt sie hervor.
Plötzlich kommt Gareis mit Stein um ein Gebüsch grade auf die beiden zu.
Tredup kann eben noch den Hut herunterreißen. Aber auf einen halben Meter Entfernung geht Gareis an den beiden vorüber, mit Stein sprechend, sieht sie nicht.
»Gott, was hat denn der Bürgermeister?« sagt Elise. »Man konnte ja ordentlich Angst kriegen, so sah er durch dich hindurch, Max!«
»Was soll er haben?« sagt Tredup. »Mucksch ist er wegen meines Artikels. Das gibt sich wieder. Heute nachmittag streich ich ihn ein bißchen raus, dann scheint wieder die Sonne.«
Aber er ist sehr blaß. Ihn friert.
Tredup hat seiner Frau einen guten Sitzplatz verschafft, in der dritten Stuhlreihe von vorne, gleich am Gang, so daß sie sofort weg kann, wenn ihr etwa übel wird. Dann hat er sich an den Pressetisch gesetzt und hantiert mit seinen Papieren. Er macht sich ein bißchen wichtig, aber das kann man schon, wenn so viele Leute hersehen.
Allmählich kommt dann das übliche Getriebe in Gang: der Gerichtsdiener packt Akten auf, zwei Justizwachtmeister bringen die in Haft befindlichen Angeklagten, der Verteidiger taucht auf, verschwindet aber wieder.
Tredup und Elise sehen sich von Zeit zu Zeit an, er macht sie mit den Augen auf jede Veränderung aufmerksam. Dann lächeln sie.
Überraschend wie immer erscheint der Vorsitzende mit dem Beisitzer und den Schöffen. Die Verteidigung folgt auf dem Fuße. Alles steht auf. Dann kommen die beiden Staatsanwälte gestürzt. Und nun werden die Türen geschlossen.
Der Vorsitzende sagt hastig und mit unmutig verzogenem Gesicht: »Ehe wir mit der Zeugenvernehmung fortfahren, erteile ich Herrn Bürgermeister Gareis das Wort zu einer persönlichen Erklärung.«
Tredups Herz beginnt zu klopfen.
Von der Tür her kommt der Bürgermeister, dunkel und massig, er stellt sich vor den Richtertisch, aber halb schräg, mit dem Gesicht zum Pressetisch.
Tredup senkt den Kopf. Etwas Unaufhaltsames geht auf ihn zu.
»Ich habe ...« beginnt der Bürgermeister. Er hat ein Zeitungsblatt in der Hand, das halb entfaltet ist, auf das er böse starrt –: »Ich habe mir das Wort zu einer persönlichen Bemerkung erbeten. In einer hiesigen Tageszeitung, ich nenne sie beim Namen, in der Pommerschen Chronik für Altholm und Umgebung, ist über die gestrige Verhandlung, speziell über meine Aussage, ein Bericht erschienen, gegen den protestiert werden muß.
In seitenbreiten Überschriften heißt es da: ›Sensationelle Wendung im Bauernprozeß – Bürgermeister Gareis verweigert die Aussage –‹.
Ich stelle fest, ich habe die Aussage nicht verweigert. Es besteht Meinungsverschiedenheit darüber, wie weit meine Aussageerlaubnis von der Regierung reicht. Ist dieser Punkt geklärt, werde ich aussagen oder nicht aussagen, gemäß den Anordnungen meiner Regierung. Aussageverweigerung ist glatt erlogen.«
Tredup sieht das dicke weiße Gesicht mit den böse funkelnden Augen grade auf sich gerichtet. Er sieht daneben, wie bei den letzten Worten der Vorsitzende den gesenkten Kopf bewegt.
»Da keine Aussageverweigerung vorliegt, liegt auch keine sensationelle Wendung im Prozeß vor. Das ist die zweite Lüge.
Ich erhebe Protest gegen eine derart unwahrhafte, unsachliche Art der Berichterstattung. Es liegt mir natürlich vollkommen fern, den anderen Herren von der Presse einen Vorwurf zu machen, ich weiß ihre exakte vorzügliche Arbeit zu schätzen.
Mit um so mehr Nachdruck verlange ich Schutz gegen das unkontrollierte Geschmier eines Außenseiters. Ich bitte das Gericht, mich dagegen in Schutz zu nehmen.«
Gareis sieht den Vorsitzenden an, aber dieser hält den Blick gesenkt, schreibt irgendwas. So macht Gareis eine Verbeugung und verläßt den Saal.
»Au Backe! Gib ihm Saures. Das hat gesessen«, sagt Pinkus von der Volkszeitung.
Es kommt Bewegung in den Saal. Alle haben während der Worte von Gareis wie angeklebt reglos auf ihren Stühlen gesessen. Nun rücken sie hin und her.
Tredup fühlt förmlich, wie ihre Blicke von ihm abnehmen, jetzt sehen sie sich untereinander an, tauschen leise Worte: »Ja, der Blasse, Dünne ist es. Den hat er gemeint.«
Aber noch immer wagt Tredup nicht hochzusehen, er fühlt, es ist zu Ende mit ihm. Erst die Schande wegen der Bilder, dann die Verhaftung in der Bombensache, nun dies – er kommt nicht wieder hoch.
Er sieht doch auf ... er muß aufsehen. Der Blick seiner Frau trifft ihn: Elise lächelt. Sie lächelt ihm zu mit den Augen, Mut machend, ich verlaß dich nicht. Sie hat, wie er früher sagte, alle Lichter angesteckt in den Augen, der ganze Weihnachtsbaum strahlt.
Tredup senkt den Blick. Ihm ist elend. Er fühlt, zehnmal lieber als dieser Blick von Elise wäre es ihm, wenn Stuff über den Tisch fort sagte: »Na, olles Kamel, mach dir nichts draus. Heute dir, morgen mir. Grinse, Affe.«
Aber Stuff schmiert.
Ganz hinten im Zuschauerraum hat Herr Heinsius, der große Heinsius von den Nachrichten, gesessen. Herr Heinsius ist inkognito hier, inoffiziell, vorne am Pressetisch sitzt ja Blöcker, schreibt den Bericht.
Herr Heinsius will nicht gern erkannt werden, er hat den breitkrempigen Filz tief ins Gesicht gezogen, den Kragen hoch. So sitzt er geduckt zwischen Altholmer Bürgern, hört, was die miteinander reden, lauscht auf die Stimme des Volkes, und formt seine Meinung nach ihr.
Tredup gehört nun einmal zu den Menschen, die kein Glück haben. Heinsius, der in der zwölftägigen Verhandlung gegen die Bauern nur zweimal da ist, erwischt gerade die Attacke von Gareis gegen die Chronik.
Heinsius kann gar nicht schnell genug aus dem Saal kommen, diesmal wartet er nicht einmal die Stimme des Volkes ab.
Während er die Straßen entlang zu den Nachrichten eilt, wiederholt er sich immer wieder: »Unwahre, unsachliche Berichterstattung. Geschmier eines Außenseiters.«
Seine Wut steigert sich, natürlich haben die beiden das Engagement von Tredup ohne ihn gemacht. Er wird es ihnen zeigen, dem Trautmann und dem Gebhardt, wohin sie kommen ohne ihn. So ist es, er wird vor vollendete Tatsachen gestellt: Herr Tredup macht vorläufig die Arbeit von Stuff.
Und Heinsius hat einen Neffen, einen netten schreibgewandten jungen Menschen. Auf dem Gymnasium hat er immer die Eins gehabt im Aufsatz. Gewissenloses Geschmier eines Außenseiters. Die sollen sehen, wohin sie kommen ohne ihn.
Er klopft nicht an, der untertänige Heinsius stürmt in das Büro des Chefs: »Herr Gebhardt! Ach Gott, Sie sind noch nicht angerufen worden? Sie wissen noch nichts? Gut, daß Sie auch hier sind, Herr Trautmann! Ich bin ganz atemlos, so bin ich gelaufen!«
Die beiden starren.
»Was in aller Welt ist los, Heinsius?« knurrt Trautmann.
Und der Chef: »Was ist denn das nun wieder?«
»Ja, am besten ist wohl, wir machen die Chronik sofort zu. Ich weiß ja nicht, was Sie Herrn Schabbelt dafür gezahlt haben, mir wird so was nicht erzählt. Aber das Geld ist hin. Herr Gebhardt, das Geld ist hin.«
Gebhardt ist aufgestanden, legt den Zeitungskatalog von rechts nach links, von links nach rechts. »Ich ersuche Sie, Herr Heinsius, mir geordnet zu erzählen ...«
Heinsius ist tief überrascht: »Aber hat Herr Tredup denn noch keine Meldung gemacht –? Das kommt davon, wenn man Außenseiter in solche Stellungen setzt. Ich gehe sonst wirklich nicht einig mit Gareis, aber diesmal hat er recht, wenn er dem Tredup gewissenloses, sensationslüsternes Außenseitertum vorwirft. Vor den Schranken des Gerichts, Herr Gebhardt! Vor ganz Altholm! Vor Richter, Verteidigung und Staatsanwaltschaft! Vor der Presse Deutschlands! Lügenhaftes, unsachliches Geschmier!«
Trautmann sagt knurrig: »Lassen Sie ihn schwätzen, Herr Gebhardt. Wenn wir nicht hinhören, erzählt er uns in fünf Minuten alles von allein.«
Aber Gebhardt, sehr erregt: »Tredup scheint ja wieder Mist gemacht zu haben. Ihr Rat war es, den Mann anzustellen, Herr Trautmann!«
»Mein Rat? Kommen Sie mir nicht so, Herr Gebhardt! Sie nicht! Wer hatte den Vertrag mit Stuff gemacht? Wer hat dann den Stuff weg haben wollen, um jeden Preis? Wer A sagt, muß B sagen. Und wir haben's dem Tredup auch nur versprochen, daß er den Posten von Stuff kriegt. Ich hätt ihn ihm nicht gegeben, Herr Gebhardt, ich nicht!«
»Wo ist die Ausgabe von der Chronik, um die es sich handelt? Zeigen Sie her, Heinsius.«
»Wenn ich mir einen Rat erlauben dürfte«, sagt besonders samten Heinsius nach dem Geknurr von Trautmann. »Ich würde einen Boten schicken in den Gerichtssaal und ließe den Tredup hierher rufen, daß den Leuten erst mal die Schande aus dem Gesicht kommt!«
»Ich weiß ja noch gar nicht, was los ist«, tückscht der Chef.
»Aber ich sage Ihnen doch, Gareis hat im Gerichtssaal Protest eingelegt gegen das Geschmier von Tredup. Unwahrhaftig, gewissenlos, unsachlich ...«
»Das wissen wir nun. Und wer schreibt für die Chronik, wenn wir den Tredup abberufen?«
»Die können doch auch mal Blöckers Bericht nehmen!«
»Meinethalben. Also schicken Sie.«
Als der Heinsius draußen ist, sagt Trautmann: »Warum sollen wir eigentlich tun, was Heinsius will? Der Gareis hat schon oft auf einen geschimpft, das zählt doch nicht.«
»Es ist eine gute Art, Tredup loszuwerden«, sagt versöhnlich der Chef.
»Meinethalben. Aber das sage ich Ihnen, Herr Gebhardt, wenn der Heinsius Ihnen den Schwestersohn seiner Frau andrehen will, den jungen Marquardt, daraus wird nichts. Der Bengel ist zweiundzwanzig und säuft in allen Kneipen rum.« Flüsternd: »Und syphilitisch soll er auch sein ...«
Heinsius ist schon wieder da.
»Und nun zeigen Sie mir einmal, über was sich Herr Gareis beschwert hat. Gar so wichtig ist Herr Gareis schließlich auch nicht. – Also. Sensationelle Wendung. Aussageverweigerung. Ist das alles? Und was hat Blöcker geschrieben? Geben Sie mal die Nachrichten her. ›Bürgermeister Gareis verweigert mehrfach die Aussagen‹.« Gebhardt hebt den Blick: »Na, wissen Sie, Heinsius! –«
Heinsius ist selbst etwas betreten: »Aber wir haben es lange nicht so sensationell aufgemacht! Bei Tredup geht die Überschrift über die ganze Seite, bei uns ist es nur eine Schlagzeile in der Spalte. Und bei Tredup ist alles gesperrt gesetzt, bei uns kompreß. Und überhaupt ...« seine Stimme wird ärgerlich, »entscheidet der Erfolg. Uns hat Gareis ausdrücklich sachliche Berichterstattung bescheinigt und Tredup hat er angegriffen. Das bleibt hängen. Glauben Sie, die Leute halten so die Zeitungsblätter gegeneinander?«
Der Chef knurrt: »Nun habe ich auf Ihren Rat den Tredup rufen lassen, und wenn der sich nun auf die Hinterbeine setzt?«
»Ja, Herr Gebhardt, das kann er doch gar nicht! Sagen Sie ihm doch nur, was Gareis gesagt hat ...«
»Ach was«, sagt Trautmann. »Sie haben mal wieder Quatsch gemacht, Heinsius. Sie haben Nerven wie 'ne olle Jungfer. Sie reiten ewig den Chef rein, und ich bin dann der einzige Mann, der den Kram wieder in Ordnung kriegt.«
Zum Chef gewendet: »Lassen Sie mich man machen, Herr Gebhardt, ich setze ihn schon an die Luft ...«
»Aber ich möchte selbst ...«
»Nein, nicht, Herr Gebhardt. Sie sind für so was nicht der Mann. Sie sind zu weich. Sie sind ja das reine Kind. Bei Ihnen braucht nur einer Tränen in den Augen zu haben, gleich legen Sie ihm fünf Mark zu. Ich mache die Sache schon ...«
»Na also, meinetwegen ...«
Es hat leise geklopft.
Nun steht in der Tür Tredup und sieht auf die drei Herren. Er ist rasch gelaufen, er keucht. Nicht schnell genug kann die Entscheidung kommen. Doch hat er Angst.
»Na, guten Tag, Tredup«, antwortet als einziger auf seinen leisen Gruß Trautmann und mustert ihn scharf. »Sie wissen ja schon, was Sie hier sollen. Das schlechte Gewissen im Gesicht, was?«
Pause. Der Chef steht und sieht vor sich auf den Schreibtisch. Heinsius sucht auf einem Bild an der Wand den Namenszug des Künstlers zu entziffern. Einzig Trautmann sieht Tredup an. Er bringt es sogar fertig, dem Sünder väterlich die Hand auf die Schulter zu legen.
»Na, Tredup, die Redakteur–Herrlichkeit ist alle, das wissen Sie ja selbst. Trösten Sie sich, Kaiser Friedrich hat auch nur neunundneunzig Tage regiert, und der war nicht mal selbst schuld. Sie sind ja noch jung, ich rate Ihnen, ziehen Sie weg von hier. Hier haben Sie zuviel Geschichten gemacht.«
Stille. Tredup starrt. Tredup bewegt krampfhaft die Lippen.
Schließlich hört man: »Wenn ich als Annoncenwerber ... Herr Gebhardt, wenn ich wenigstens wieder als Annoncenwerber ...«
Aber Trautmann greift ein: »Sie wissen doch selbst, Tredup, daß das nicht geht. Erst das Gerede wegen der Bilder, und dann die Untersuchungshaft. Gut, Sie waren unschuldig, aber etwas bleibt immer hängen. Die Leute mögen so was nicht. Und nun dies. Tredup, ich hab Ihnen immer hier das Wort geredet, Sie wissen, ich bin's gewesen, der dem Chef gesagt hat, er soll es mit Ihnen versuchen statt mit Stuff. Sie sind dabeigewesen. Wenn ich Ihnen sage, es geht nicht, verschwinden Sie, dann verschwinden Sie wirklich am besten ...«
Tredup schluckt. Er bewegt etwas die Schultern. Dann bittet er leise:
»Mein Gehalt ...«
Aber nun wird Trautmann böse: »Ihr Gehalt? Heute ist der Dritte, das sind zweieinhalb Tage. 220 kriegen Sie. Bei 25 Arbeitstagen macht das 8 Mark auf den Tag. Sind netto 20 Mark. – Und wenn wir nun Schadenersatz fordern? Wo Sie der Chronik solchen Schaden getan haben?! Nein, Tredup, unverschämt dürfen Sie nun nicht werden. Seien Sie froh, daß Herr Gebhardt so milde mit Ihnen verfährt. Andere Chefs würden klagen und klagen. Sie sollen ja noch das Geld von den Bildern haben. Wenn wir nun pfänden bei Ihnen –?«
Tredup steht einen Augenblick mit gesenktem Gesicht, hängenden Armen. Dann sagt er ganz überraschend, leise: »Guten Abend«, dreht sich um und ist fort.
Die drei Herren bewegen sich.
Der Chef sagt rasch und gepreßt: »Trautmann, gehen Sie ihm nach. Geben Sie ihm hundert Mark.« Nach einer Pause: »Fünfzig Mark.«
Trautmann sagt gemächlich: »I wo! Geld wegschmeißen? Haben wir grade nötig. Aber so sind Sie, Herr Gebhardt, wenn jemand auf die Tränendrüsen drückt, werden Sie weich. Der Tredup frißt sich schon durch. Unkraut vergeht nicht.«
Als Tredup aus der Tür der Nachrichten tritt, steht Elise auf der Straße. Sie nimmt ihn am Arm, sie wirft nur einen raschen Blick auf sein Gesicht, sie sagt: »Komm man, Max.«
Sie biegen in den Burstah ein, schweigend gehen sie ihn entlang, folgen dann der Stolper Straße. Langsam gehen sie weiter, er sieht vor sich hin, sie spricht nichts.
Nur, sie hat seine Hand durch ihren Arm gezogen, hält sie in der ihren, streichelt sie rasch und aufmunternd. Sie gehen langsam, man sieht der Frau schon gut an, daß sie schwanger ist.
Dann stößt Elise mit dem Fuß das Gatter auf, sie gehen über den Hof, er läßt mechanisch ihren Arm los, nimmt die Schlüssel aus der Tasche, schließt auf. Er geht grade auf den Tisch zu, setzt sich daran, wie er ist, in Hut und Mantel, und starrt vor sich hin.
Sie sagt: »Hans ist noch zum Turnspielen. Und Grete wird bei ihrer Freundin sein, die fangen jetzt schon an für Weihnachten zu arbeiten.«
Er schweigt.
Sie sagt: »Am besten ist es, wir ziehen nach Stargard. Dort habe ich meine Schwester Anna. Und die Eltern sind auch bei der Hand. Die können auch mal helfen. Wo wir sie all die Jahre um nichts gebeten haben.«
»Die Bauern!« sagt er böse. »Die Bauern werden uns grade helfen.«
»Dann sehen wir, daß wir ein Geschäft kriegen. Ich bin gar nicht so für Zigarren, die Leute rauchen immer weniger, wo das Geld so knapp ist. Ich habe an Lebensmittel gedacht.«
»Mit unsern paar Kröten!« höhnt er.
»Wir fangen eben ganz klein an. Die Grossisten geben auch ein bißchen Kredit. Es wird schon gehen. Man muß nur erst anfangen.«
»Nein. Nein. Nein«, schreit er. »Ich fange nicht wieder an. Hundertmal habe ich angefangen und bin nur tiefer in den Dreck gekommen. Wievielmal habe ich gehofft und hab mir Mühe gegeben, und immer nichts. Aus uns wird nichts, Elise. Es hat keinen Zweck, sich abzustrampeln.«
Sie streichelt sein Haar: »Natürlich bist du jetzt traurig. Und es ist gemein von denen, von denen allen, daß sie dich so im Stiche lassen, wo du ihnen immer gefällig gewesen bist.
Aber du mußt jetzt nicht übertreiben, Max. Wir haben doch die Kinder schön groß gekriegt, und Grete hilft mir schon viel und Hans ist auch ganz vernünftig. Und 'ne gute Kindheit haben sie auch gehabt. Die hast du ihnen doch verschafft, Max.«
»Nein, Elise, du ...«
»Du, Max! Denk doch an andre Familien, wo der Vater säuft oder liederlich ist und die Kinder schlägt und ängstigt. Du bist doch immer nett zu ihnen gewesen und hilfst ihnen bei den Schularbeiten und machst ihnen Spielzeug. Was bist du vor drei Wochen rumgelaufen, als Hans Fische für sein Aquarium haben wollte, bis du die vier geschenkt kriegtest. Kein Vater hätte das getan. Keiner. Wo du abends so müde bist!«
Er hört ihr zu. Sein Auge belebt sich.
»Und es ist auch nicht wahr, daß wir nicht vorwärtskommen. Wir haben ganz hübsch geschafft mit Wäsche und Kleidern in den letzten Monaten. Soviel Strümpfe haben wir überhaupt noch nicht gehabt, seit wir verheiratet sind. Und dreihundert Mark hab ich auch noch im Haus und dann die neunhundertneunzig draußen.«
»Siehst du, wie gut, daß ich die noch nicht geholt hatte?«
»Und ich denke, heute holst du noch das Geld. Und morgen früh fährst du mit dem ersten Zug nach Stargard. Ich geb dir einen Brief mit an Anna, bei der kannst du wohnen. Und die beköstigt dich auch. Das kostet nichts, das machen wir später mal wieder gut.
Und dann siehst du dich um nach einem Zimmer für uns, unmöbliert, und wenn ein bißchen Garten dabei wäre, wäre es schön. Und morgen abend schreibst du mir eine Karte mit der neuen Adresse, und ich packe und in drei Tagen sitzen wir schon wieder zusammen in Stargard.«
»Ja«, sagt er. »Ja.«
»Und du sollst sehen, wie umgänglich die Leute in Stargard sind. Das sind ganz andere wie diese Altholmer Michel.« Sie lacht: »Den Gottverhütefranz sollst du erst kennenlernen. Du lachst dich kaputt. Na, ich erzähle dir noch ...«
»Du, Elise«, sagt er eifrig, »wenn ich heute abend nach Stolpermünde will, das Geld holen, dann muß ich aber mit dem Zuge um vier Uhr zehn fahren. Da muß ich Trab laufen zur Bahn.«
»Also lauf, Max.«
»Oh, Elise«, sagt er und bleibt stehen. »Raus aus all dem Dreck und der Lüge. Wieder ehrlich sein. Kein schlechtes Gewissen haben.«
»Ist ja gut, Max, lauf schon.«
»Ja, es wird Zeit.«
»Wann kommst du wieder?«
»Zehn Uhr fünfzehn. Um halb elf bin ich hier.«
»Also mach's gut, Junge.«
»Winke, winke, Mädchen.«
Sie sieht ihn eilfertig die lange Stolper Straße hinuntertraben. Sie sieht ihm nach, bis er um die Ecke ist.
An diesem Nachmittag sollen im Gerichtssaal eine Reihe Zeugen von der Polizei Altholms vernommen werden.
Doch der Verteidiger bittet, einen von ihm benannten Zeugen, den Landmann Banz, aus Stolpermünde-Abbau, außer der Reihe zu vernehmen. Der Mann sei bei jener Demonstration schwer verletzt, heute noch sehr leidend, man könne ihm eine zweimalige Fahrt zur Gerichtsstätte nicht zumuten.
Der Staatsanwalt widerspricht erregt: »Dieser Zeuge Banz ist der Staatsanwaltschaft völlig unbekannt. In keinem Protokoll ist von einem schwerverletzten Landmann Banz die Rede. Soviel die Staatsanwaltschaft weiß, besteht auch kein Beschluß des Gerichtes, diesen aus dem Nichts aufgetauchten Zeugen zu laden. Ich beantrage, den Mann nicht zu hören.«
Die Verteidigung erklärt, daß eben darum von diesem Zeugen bisher nichts bekannt gewesen sei, weil er schwerverletzt in seinem verlorenen Abbau gelegen habe. Sie bittet um Anhörung dieses Zeugen, der wichtig sei.
Die Staatsanwaltschaft verlangt Gerichtsbeschluß.
Das Gericht zieht sich zurück und verkündet nach drei Minuten den Beschluß, daß der Zeuge gehört werden solle.
Die Tür tut sich auf und der Landmann Banz aus Stolpermünde-Abbau tritt ein.
Er ist ja ein großer trockener Mann, immer ein wenig hastig gewesen. Jetzt stürzt er so erregt auf den Richtertisch zu, daß er mehrmals stolpert. Einen Handstock schleift er nach, in der linken Hand hält er eine weiße Tüte. Kaum vor dem Richtertisch angekommen, beginnt er überstürzt zu reden:
»Herr Präsident, ich sage Ihnen ...«
Der bewegt die Hand: »Einen Augenblick. Einen Augenblick. Gleich dürfen Sie alles erzählen. Nur müssen wir erst einmal wissen, wer Sie sind. Sie heißen Banz?«
Knurrig: »Ja. Banz.«
»Vorname?«
»Albin.«
»Wie alt; Herr Banz?«
»Siebenundvierzig.«
»Und verheiratet?«
»Ja.«
»Kinder?«
»Neun.«
»Ihr Hof soll ganz abgelegen sein?«
»Bei mir, Herr Präsident, kommt das ganze Jahr kein Mensch. Bei mir gibt es nur Möwen und Karnickel.«
»Ich muß Sie nun vereidigen, Herr Banz. Sie müssen beschwören, was Sie sagen. Auf die Heiligkeit des Eides ... Herr Staatsanwalt, bitte.«
»Die Staatsanwaltschaft widerspricht der Vereidigung dieses Zeugen. Wie wir soeben von der Verteidigung gehört haben, behauptet der Zeuge, von der Polizei verletzt worden zu sein. Dies als wahr unterstellt, besteht der dringende Verdacht, daß der Zeuge sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, bei deren Verrichtung er die behauptete Verletzung empfing. Wir beantragen daher, diesen Zeugen vorläufig nicht zu beeidigen.«
Der Verteidiger hat sich schon näher an den Richtertisch gepirscht. »Es besteht nicht der geringste Grund, den Zeugen nicht zu vereidigen. Seine Verletzung empfing er, als er sich ein Glas Bier kaufen wollte, was unseres Erachtens keine strafbare Handlung darstellt.«
Der Vorsitzende lächelt verbindlich: »Meines Erachtens können wir die Vereidigung des Zeugen bis nach seiner Vernehmung verschieben. Die Herren sind einverstanden?«
Sie haben sich an ihre Tische zurückgezogen. Zwischen ihnen stand Banz, sah von einem zum andern, suchte zu begreifen, um was es ging.
»Also, Herr Banz, nun erzählen Sie uns einmal, was Sie in Altholm an jenem Montag erlebt haben. Können Sie übrigens stehen oder wollen Sie einen Stuhl haben?«
»Ich stehe, Herr Präsident. Ich werde mich doch nicht in Altholm setzen! – Ich kam also vom Bahnhof ...«
»Einen Augenblick noch. Warum kamen Sie nach Altholm? Hatten Sie von der Demonstration gehört oder gelesen?«
»Das war mir erzählt worden.«
»Wer hatte Ihnen das erzählt?«
»Das weiß ich nicht mehr. Alle haben das gesagt.«
»Aber Sie haben uns erzählt, daß Ihr Hof einsam liegt, daß da nie ein Mensch kommt?«
Banz steht einen Augenblick still. Dann läuft er rot an. Er beugt sich vornüber, er stützt seine Hände auf den Richtertisch, er schreit: »Herr Präsident! Herr Präsident! Was machen Sie mit mir! Herr Präsident, machen Sie mich nicht wahnsinnig! Recht will ich! Mein Recht will ich! Mein Recht will ich!«
Er reißt die Tüte auf, ein formloses, schmieriges Etwas kommt hervor. Er wirft es auf den Richtertisch.
»Das ist mein Hut, Herr Präsident, der hat auf meinem Kopf gesessen! Den haben sie mir zerschlagen auf meinem Kopf, mein Blut sitzt da drin, daß ich ein kranker Mann bin, das sitzt da drin. Das ist Altholm, Herr Präsident. Das ist Gastfreundschaft in Altholm, Herr Präsident! Als ich die dicken Polizeibullen draußen sitzen sah, rot ist es mir vor den Augen geworden, Herr Präsident. Und Sie fragen mich, Herr Präsident, wer mir das gesagt hat, mit der Demonstration. Ist das Recht? Ist das mein Recht, Herr Präsident? Mein Recht will ich haben ...«
Er hat Schaum vor dem Munde. Zwei Gerichtsdiener sind herbeigestürzt, der Verteidiger, die Staatsanwaltschaft nahen. Der halbe Saal steht auf den Zehenspitzen.
Der Vorsitzende winkt allen ab. Die Robe raffend, geht er um den Richtertisch zu dem Tobenden, drückt ihn auf einen Stuhl. Zum Gerichtsdiener: »Ein Glas Wasser.«
»Nein, Herr Präsident, ich danke der Meinung. Aber in Altholm trinke ich nichts. Eher will ich krepieren, ehe ich hier was trinke.«
Der Vorsitzende betrachtet ihn aufmerksam: »Waren Sie immer schon so leicht erregbar, Herr Banz?«
»Vor der Demonstration, Herr Präsident, war ich der ruhigste Mensch von der Welt.«
»Sie wünschen bitte, Herr Oberstaatsanwalt?«
»Der Zeuge hat soeben von dicken Polizeibullen gesprochen. Ich bitte, dem Zeugen derartige Redewendungen zu verweisen.«
Zum erstenmal ist der Vorsitzende wirklich erregt:
»Ich verbitte mir jeden Eingriff in meine Verhandlungsführung, Herr Staatsanwalt! Ja, bitte?«
»Dann bleibt uns nichts übrig, als Strafanträge zu stellen. Wir behalten uns Strafantrag gegen den Zeugen wegen Beleidigung vor.«
»Bitte!« Und schon wieder versöhnlich: »Die Zeugen müssen reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. – Also, Herr Banz, wenn Sie nun soweit sind, dann erzählen Sie uns mal, was Ihnen passiert ist. Sie kamen also vom Bahnhof, wann war denn das?«
»Sie wollen wissen, Herr Präsident, wer es mir gesagt hat. Ich war doch in Stolpe zum Finanzamt. Da haben sie alle schon in der Bahn davon geredet. Und im Finanzamt und im Krug auch.«
»Und da wollten Sie auch mit? Wußten Sie denn, wer der Franz Reimers war?«
»Das weiß man doch, Herr Präsident, das weiß doch jedes Kind.«
»Also – Sie fuhren nach Altholm?«
»Ich habe ja sieben Kilometer zur Bahn, Herr Präsident, und morgens will das Vieh auch erst seinen Schick haben. Ich bin erst mit dem Ein-Uhr-Zuge gefahren. Kurz nach drei war ich auf dem Bahnhof in Altholm. Ich habe da jemanden gefragt, ob die Bauern schon durch wären, keinen Polizisten. Polizisten waren keine zu sehen. Nein, die Bauern wären noch nicht durch. Da bin ich den Burstah runtergegangen. Und wie ich dann zu dem Platz kam, wo der nackte Kerl steht ...«
»Heldendenkmal«, sagt halblaut der Vorsitzende.
Ungeduldig wiederholt Banz: »Das sage ich ja, der nackte Kerl. Da sah ich dann die Bescherung. Herr Präsident, es war mörderisch. Herr Präsident, das ist über jeder Beschreibung. Wie da die Polizisten auf die Bauern eingedroschen haben, da blieben einem die fünf Sinne weg.«
Banz redet jetzt ganz ruhig und manierlich, er redet langsam und vorsichtig. Der Landgerichtsdirektor sieht ihn aufmerksam an.
»Na, und weiter?«
»Und plötzlich stürzt da so ein Blauer auf mich zu und schreit: ›Ihr Hunde, geht ihr auseinander!‹ Und ich sage ganz ruhig: ›Wir sind zwar keine Hunde, Herr Wachtmeister, aber gehorchen muß man seiner Obrigkeit. Ich gehe mir ein Glas Bier kaufen.‹ Und dreh mich um und geh schon zum Krug, und bin schon auf der Treppe vom Krug, da krieg ich einen Schlag über den Schädel. Acht Wochen hab ich gelegen, Herr Präsident, und Sie sehen ja, was ich heute bin. Ich war ein starker Mann, Herr Präsident!«
Pause. Lange Pause.
Banz tritt unruhig hin und her: »Das ist alles, Herr Präsident. So haben sie's getrieben mit mir.«
Wieder Pause.
»Ja, Herr Banz, nun muß ich Sie doch noch einiges fragen. Sie sind doch jetzt ruhig?«
»Ich bin ruhig, Herr Präsident. Das kommt jetzt manchmal so über mich. Aber hinterher bin ich wie ein Lamm.«
»Also, Herr Banz, als Sie nun den Burstah runterkamen und zuerst den Kampf sahen, wie weit waren Sie da wohl ab?«
»Wie weit, Herr Präsident? Ja Gott, sind das hundert Meter gewesen oder zweihundert?«
»Jedenfalls haben Sie beim Heldendenkmal gestanden. Bei dem nackten Mann. Und dann sind Sie nähergegangen?«
»Bin ich, Herr Präsident.«
»Warum wohl? Wenn man einen Kampf sieht, geht man doch besser weg. Oder wollten Sie Ihren Leuten helfen?«
»Nicht doch, Herr Präsident. Nicht doch. Ich wollte sehen, was los war. Da standen ja immer Leute dazwischen.«
»Wie nahe sind Sie nun wohl herangegangen? Zehn Meter, fünf Meter, drei Meter?«
»So nah nicht, Herr Präsident. Zehn Meter waren es gut und gerne.«
»Wie kämpften denn nun die Polizeibeamten? Ich ...«
»Grausam, Herr Präsident, einfach grausam.«
»Ich meine: standen die Polizisten mit dem Rücken gegen Sie oder mit dem Gesicht?«
Banz zögert. Dann: »Welche standen so und welche so.«
»Aber der Demonstrationszug stand doch grade mit dem Gesicht gegen Sie. Der war doch von der andern Seite gekommen. Da müssen Ihnen doch eigentlich die Polizeibeamten den Rücken zugekehrt haben?«
»Die meisten taten es auch.«
»Aber nicht alle?«
»Alle nicht, Herr Präsident.«
Einen Augenblick Pause. Der Landgerichtsdirektor denkt nach.
»Standen Sie nun allein, Herr Banz, oder standen Sie mit andern zusammen?«
»Ich war doch allein, Herr Präsident.«
»Standen andere in nächster Nähe?«
»Das kann man nicht sagen, Herr Präsident. In nächster Nähe nicht.«
»Warum ist nun wohl ein Polizist auf Sie zugekommen, da doch die Demonstranten auf der andern Seite standen?«
»Ja, das weiß ich nicht, Herr Präsident, warum der Mann grade zu mir kam.«
»So, das wissen Sie nicht, – Sie haben uns vorhin erzählt, Herr Banz, daß der Polizist zu Ihnen gerufen hat: ›Ihr Hunde, geht ihr auseinander!‹ Warum hat er wohl ihr Hunde gesagt?«
»Das kann ich nicht sagen, Herr Präsident, warum uns der Mann für Hunde estimiert hat.«
»Nein, ich meine, Sie standen allein. Warum hat er da ihr Hunde gesagt. Er hätte doch du Hund sagen müssen.«
»Das weiß ich doch nicht, Herr Präsident, warum er das gesagt hat. Aber so hat er es gesagt.«
»Sie können mir also nicht erklären, warum er das gesagt hat?«
»Nein, erklären kann ich das nicht, Herr Präsident. Aber gesagt hat er das.«
Wieder denkt der Vorsitzende nach.
»Wie sah denn der Polizeibeamte aus, der Ihnen das zugerufen hat?« fragt er dann.
Banz überlegt sich: »So ein Kleiner war das. Ein Dürrer, Kleiner. So ... mickrig war er man.«
»Aber wiedererkennen würden Sie den Mann doch?«
»Das kann man nicht vorher wissen, Herr Präsident. Mein Gedächtnis ist schlecht seitdem.«
Der Vorsitzende denkt nach. Dann geht er hinter den Richtertisch, sagt dem Assessor Bierla ein paar Worte. Der Assessor geht aus dem Saal.
Banz sieht ihm unruhig nach.
Der Vorsitzende fragt: »Sie hatten doch einen Stock, Herr Banz?«
»Ja, einen Handstock hab ich gehabt.«
»Haben Sie vielleicht mit dem Handstock gedroht?«
»Herr Präsident, wie werd ich!«
»Oder haben Sie ihn vielleicht nur ein bißchen fester angefaßt? Sie waren doch sicher sehr erregt –«
Die Tür der Halle öffnet sich. Von Assessor Bierla geführt treten ungefähr zwanzig Polizeibeamte in den Saal. Sie nehmen in zwei Gliedern neben dem Richtertisch Aufstellung.
»Ich habe«, erklärt der Präsident, »den Wunsch, diesen Fall Banz, der mir reichlich ungeklärt und für die Beurteilung der Polizei wichtig scheint, rasch aufzuklären. Dies sind die Altholmer Polizeibeamten, die für heute nachmittag als Zeugen geladen waren. Findet Herr Banz seinen nicht darunter, so laden wir für morgen die übrigen. – Gerichtsdiener, machen Sie Licht.«
Plötzlich ist die Turnhalle strahlend hell. Mit weißem Gesicht, auf seinen Stock gestützt, steht Banz vor der Doppelreihe der Polizeibeamten. Einmal wirft er einen raschen Blick hinter sich, aber nicht zum Verteidiger, sondern in jene Ecke, wo vereinsamt an seinem Tisch Stadtrat Röstel sitzt, denn Assessor Meier ist noch nicht wieder zurück aus Stolpe.
Der Landgerichtsdirektor kommt hinter seinem Tisch hervor.
»So, Herr Banz, nun gehen wir mal die Reihe gemeinsam ab. Sehen Sie sich jeden der Herren in Ruhe an. Der, den Sie meinen, braucht nicht dabei zu sein. Es sind nicht alle Polizeibeamten hier. Ich werd mit den einzelnen Herren ein paar Worte sprechen, damit Sie auch die Stimme hören ...«
»Herr Präsident, ich hab schon gesehn, Sie können sie rausschicken, meiner ist nicht dabei.«
»Herr Landgerichtsdirektor!« schreit aus dem zweiten Glied der Riese Soldin. »Herr Landgerichtsdirektor! Das ist er! Das ist der Mann, der mich niedergeschlagen hat mit der Stockkrücke. Halten Sie ...!«
Der Vorsitzende hat von Banz einen Stoß bekommen, der ihn in die Reihe der Polizeibeamten warf. Banz ist zurückgesprungen, rast auf den Tisch mit Stadtrat Röstel zu. Der will ihm entgegentreten, bekommt einen Schlag mit dem Stock. Hinter dem Tisch ist eine Tür auf den Schulhof, Banz reißt sie auf. Über den Hof, ins Schulhaus (am Hoftor steht ja Schupo) ... Der ganze Saal tobt, alles drängt zu den Türen, Zeugen stürzen fort. Der Staatsanwalt schreit: »Die Angeklagten! Justizwachtmeister, passen Sie auf die Angeklagten auf!«
Alles ist Chaos.
Einen Augenblick bleibt Banz schweratmend im weiten Treppenhaus der Schule stehen. Einladend führen die breiten Stufen nach oben, aber Banz weiß, das ist Falle. In zehn, fünfzehn Sekunden schon suchen sie das ganze Haus nach ihm ab.
Eine kleine Treppe seitlich führt in den Keller, Banz läuft sie hinab, an ihrem Schluß ist eine Eisentür, offen sogar. Und noch besser: der Schlüssel steckt. Banz zieht ihn aus, geht durch die Tür in den dunklen Keller, und schließt von innen wieder zu. Den Schlüssel läßt er stecken.
Der dunkle Gang führt mit vielen Türen rechts und links gradaus. Banz folgt ihm, geht der Wärme zu, die ihm entgegenströmt. Dann steht er im Zentralheizungsraum. Unter beiden großen Kesseln ist Feuer. Das Wasser summt. Richtig, die heizen schon, damit es in der Turnhalle warm ist. Daneben ist der Kohlenkeller, und auf der andern Seite, vom Holzkeller mit Brettern abgeteilt, ist eine Bude, wo der Hackklotz steht und das Beil an der Wand hängt.
Nicht nur das: Hier stehen Waschbecken, Krug und Seife, ein Spiegelstück ist an der Wand, und an einem Haken hängt der blaue, von Kohlenschmutz verfärbte Anzug des Heizers.
Banz zieht Jacke und Weste aus, über die eigenen Hosen streift er die blauen weiten, zieht den Kittel an. Dann durchsucht er seine Taschen, legt alles, was drinnen ist, bis auf die Uhr, Taschenmesser und Geld zu den Kleidern und macht daraus ein Bündel.
Am liebsten würde er es verbrennen, aber die Joppe jammert ihn, sie ist noch fast neu.
So steckt er das Ganze hinter die Kohlen. Vielleicht kommt er einmal wieder hierher oder es findet doch jemand, der es brauchen kann. Im Kohlenkeller gibt es Schmutz genug. Banz reibt sich Gesicht und Hände gut ein, sieht noch einmal in den Spiegel, grinst, greift sich eine Kohlenkiepe und macht vorsichtig das Fenster auf.
Es liegt ganz unter dem Straßenpflaster, über der Schachtöffnung ist ein Gitter, das aber nicht angeschlossen ist.
Das Schwierigste ist, unbemerkt auf die Straße zu kommen. Ist er erst draußen, ist er auch schon dreiviertel gerettet.
Aber das scheint ganz unmöglich. Fast pausenlos laufen die Füße über ihm. Banz wird das Warten langweilig, er geht den Gang zurück – hört Arbeiten an der eisernen Tür –, sieht in die einzelnen Räume und kommt so schließlich in den Fahrradkeller.
Hier hat er, was er sucht: hier geht eine Tür nach außen, eine Treppe führt in den Vorgarten, und was das Beste ist: ein einsames Rad steht im Keller. Es ist wohl das Rad vom Hausmann.
Die Kiepe läßt Banz stehen, das Rad nimmt er, schließt rasch auf, führt es die schräge Bahn zur Straße, und noch auf dem Bürgersteig hockt er schon darauf.
Auf der Straße laufen Leute genug herum, und überall sieht Banz Schupo und Stadtsoldaten, aber die müssen ja wohl rein mit Blindheit geschlagen sein. Die haben eben das Bild von dem Banz, der vor dem Richtertisch stand, im Kopf, und sehen sich diesen blauen Kohlenmann überhaupt nicht erst an.
Kurz darauf ist Banz auf der Stolper Chaussee. Er weiß, daß er seine Verkleidung und sein Rad nicht mehr lange benutzen kann. Bald merken die, daß die Sachen fehlen, und dann wissen alle Landjäger in einer Viertelstunde Bescheid, und sie schicken Autos und Motorräder auf die Jagd. Lange kann er sowieso nicht mehr radeln, die Flucht aus dem Saal war ein Gewaltstreich, nun läßt der kranke Körper nach, manchmal ist ihm schon ganz taumelig zumute, so daß er kaum die Lenkstange halten kann. Fünf Minuten weiter legt er das Rad hinter einen Busch und setzt sich daneben. Er ist noch gar nicht weit fort aus Altholm, grade erst durch Grünhof, aber er kann nicht mehr. Mögen sie ihn doch kriegen, die Hunde! Er wird das Messer nehmen und dann Schluß, adieu, fort damit.
Hinter seinem Busch drusselt er ein.
Nicht lange, ist er wieder wach. Die Kälte vom Boden hat ihn geweckt. Aber jetzt ist er frisch, nicht gesonnen, sich denen in die Hände zu geben. Er überlegt, welchen Bauern er hier in der Nähe kennt, aber es fällt ihm niemand ein als Vadder Benthin. Und ob der hülfe, ist sehr fraglich, der ist ein Weib in Hosen. Außerdem müßte Banz dann nach Altholm zurück, und für Altholm hat er keine Meinung mehr.
Die Straße, die er durch das lockere Gebüsch sieht, ist wenig belebt. Es mag vier sein, auch eine Viertelstunde später. Anderthalb Stunden ist er also ungefähr weg. Die suchen ihn nicht mehr hier, die erwarten ihn jetzt auf der Station in Stolpermünde oder auf seinem Hof. Na, mögen sie warten!
Ein Lastauto fährt im Sechzig-Kilometer-Tempo vorbei. Bis oben ist es vollgepackt mit leeren Fischkästen. Das ist eines von den Autos, die von den Heringskommunen an der Küste nach Stettin fahren. Vielleicht kommt das Stolpermünder auch?
Es ist jetzt die Zeit, wo die Autos vom Fischmarkt zurückkommen.
Eine ganze Reihe läßt Banz vorbei, weil er den Chauffeur nicht kennt. Dann fällt ihm ein, daß er mal wieder ein Kamel ist, ein unbekannter Chauffeur ist besser als ein bekannter.
Banz sticht nachdenklich mit seinem Messer in den Hinterschlauch, die Luft pfeift, als er das Messer auszieht. Dann steht er neben seiner Karre auf der Chaussee.
Als das nächste Fischauto kommt, winkt er recht tüchtig, und als der Chauffeur nicht halten will – denn die wollen alle bis sechs zu Haus sein –, tritt er ihm mitten in die Fahrbahn. Der bremst so scharf, daß es das Auto halb rumreißt, gerät dabei auf den Sommerweg und der ganze Kistenaufbau kommt ins Wanken.
Der Chauffeur, ein Dreißiger, fängt zu fluchen an: »Du gottverfluchter Hund, du, mit dir spielen sie wohl! Wenn ich dich über den Haufen fahre, ist das nicht mehr, wie recht ist!«
»Bis Stolpe kannst du mich mitnehmen«, sagt Banz gleichmütig. »Du siehst doch, ich mache Plattfuß.«
»Was geht mich deine Karre an«, flucht der Mann. »Lauf doch, Idiot, dämlicher.«
»Fünf Mark sollst du kriegen!« sagt Banz und hält sich immer direkt vor den Rädern des Autos.
»Ich pfeife auf deine fünf Mark«, flucht der Mann. »Das kennt man. Wenn wir in Stolpe sind, hältst du mir deinen Hintern hin: tritt mal rein, Bruder, Geld habe ich nicht.«
»Hier«, sagt Banz und hält den Silberfünfer hoch. Und erklärend: »Es ist doch, daß mein Kleiner die Rose hat, und ich muß die Pusteweiber bestellen.«
Der Mann brummt vor sich hin: »Wo sollen wir denn deine Karre lassen? Du siehst doch, ich habe voll.«
»Schmeißen wir oben rauf.«
»Dann mach schon. Aber den Fünfer spuckst du gleich aus.«
»Wenn ich neben dir sitze.«
»Was bist du denn für einer?« fragt der Chauffeur, als das Auto wieder die Straße entlangfegt. »Glaubst du denn wirklich noch an solchen Mist mit dem Bepusten? Das tun doch nur die dummen Bauern.«
»Da braucht es keinen Glauben«, sagt Banz. »Was man mit Augen sieht, das gibt es.«
»Es ist komisch«, sagt der Chauffeur. »Ich hab noch nie so was zu sehen gekriegt. Vor mir muß das richtig fortlaufen.«
»Mir«, sagt Banz, »haben sie die Gürtelrose weggepustet. Sie sitzen an deinem Bett, drei müssen es sein, und von Zeit zu Zeit pusten sie dir umschichtig ins Gesicht.«
»Reinweg kriegen möcht ich mal die Rose, bloß um das zu erleben!«
»Wünsch dir das lieber nicht!«
»Und jetzt, jetzt holst du die?«
»Nein, die hole ich nicht. Das wird ja viel zu teuer. Denen gebe ich ein Bild von meinem Kleinen und das bepusten sie heute abend und morgen ist die Rose weg.«
»Das hättest du auch schicken können. Hättest dir fünf Mark gespart.«
»Daß die nur eine halbe Stunde pusten. Nee, ich setze mich dazu und passe auf. Zwei Stunden müssen sie pusten, sonst kommt die Rose wieder.«
»Sachen habt ihr hier auf dem Lande«, sagt der Chauffeur. »Ich bin aus Stettin. Da weiß man von solchem Schnack nichts.«
»Nee, ihr habt die Krankenkasse. Da wißt ihr wenigstens, wer euch zu Tode bringt.«
»Recht hast du«, sagt der Chauffeur anerkennend. »Mit den Kassenärzten ist es auch Mist. Da hatte ich mal eine dicke Hand ...«
Eine halbe Stunde später sind sie in Stolpe.
»Wo soll ich dich denn absetzen?« fragt der Chauffeur.
»Wo fährst du lang? Gegen Fiddichow zu? Dann nimm mich man bis Horst mit. Eigentlich wohnen die Weiber in Horst.«
»Na denn gut.«
In Horst klettert Banz schwerfällig vom Auto: »Wenn du noch einen trinken willst mit mir?«
»Nee, laß man. Du hast Unkosten genug.«
Und das Auto entschwindet.
Banz hat von Horst bis Stolpermünde-Abbau noch gute drei Stunden zu laufen. Aber er denkt nicht daran, direkt auf den Hof zu gehen, er will sich nur das Geld aus den Kiefern holen. Dann will er weiter, entweder nach Dänemark rüber oder ins Holsteinsche. Da soll die Bauernschaft auch recht im Schwunge sein. Kriegen läßt er sich jedenfalls nicht.
Er geht sachte in den Abend hinein. Eine ganze Weile schiebt er noch seine Karre, dann fällt ihm ein, daß sie ihm nichts mehr nützt, und wirft sie in einen Graben. Aber er wartet nur das nächste Buchengehölz ab, sucht sich einen passenden Stämmling, zwei oder zweieinhalb Zoll stark, und schneidet ihn ab. Nun hat er wieder einen Stock und es geht sich besser.
Er ist längst von der Straße ab, er hält sich an Feldwege und Raine, oft geht er auch eine Viertelstunde durch gepflügtes Land. Aber er hat die rechte Richtung, man spürt es selbst einem Nachthimmel an, wo das Meer ist. Als Banz zum erstenmal die Brandung hört, ist es schon ganz dunkel. Genau kann er nicht sagen, wo er ist, aber er muß sich links halten, fühlt er. Hier stößt Heide an den Kiefernstreifen, er geht immer am Rande der Schonung entlang. Während er so mühsam vorwärtskommt, über Steine und Wurzeln sich tastet, stolpert und oft fällt, überkommt ihn von neuem die Wut über die Altholmschen. Die haben es ihm eingebrockt, daß er hier draußen rumkriechen muß.
Ganz überraschend hinter einer Waldecke taucht plötzlich ein Licht auf, Licht aus seinem Haus. Seit einer Viertelstunde ist er über die eigenen Kartoffeldämme gefallen und hat es nicht gemerkt.
Das Licht dort, das sagt schon was. Entweder sind die Gendarmen da oder die Frau hat es angesteckt als Zeichen für ihn, daß sie parat ist. Wozu brennt sonst um diese Stunde Licht? Aber er wird sich hüten hinzugehen, vielleicht danach versucht er es einmal. Denn er hat Hunger.
Langsam schiebt er sich in die Kiefern. Er geht ganz vorsichtig, kein Zweig darf knacken. Die können sich ja denken, daß er nicht direkt ins Haus reintrudelt, die haben sicher Spione aufgestellt an jeder Waldecke.
Hundert Schritte geht er. Und noch mal hundert. Und wieder hundert.
Dann bleibt er stehen und lauscht.
Irgend etwas ist nicht im Lote, das spürt er. Etwas hat geknackt, etwas hat gewühlt, etwas schnauft.
Er hat noch zwanzig Schritt, vielleicht noch zweiundzwanzig Schritt zum Versteck.
Im Stehen bünzelt er den einen Schuh los, dann den andern. Die Senkel verknotet er und hängt die Schuhe über die Schultern.
Nun geht er leise weiter, Schritt vor Schritt, mit angehaltenem Atem. Es ist dunkel, ja, aber die Stämme sind dunkler als die Luft. Der mit Kiefernnadeln bedeckte Boden ist wiederum noch schwärzer, hat aber weißgraue Flecke, wo die Karnickel den gelben Sand aus ihren Gängen auswarfen.
Er steht an einem Stamm und sieht vor sich. Er kennt den Stamm, an dem seine Schulter lehnt.
Vier Schritte sind es bis zum Versteck.
Der Boden ist dunkel, aber dort, wo das Versteck liegt, ist ein großer heller Fleck von aufgewühltem Sand. Das weiß er.
Und dieser Fleck – wie er da steht, sieht er das – ist manchmal da und manchmal ist er weg. Etwas Schwarzes, Massiges, bewegt sich darüber. Das knackt, das wühlt, das schnauft, das gräbt.
Wie ein Blitz schießt es durch sein Hirn: die Gendarmen sind dagewesen auf dem Hof. Die wissen jetzt dort Bescheid, daß der Vater nicht wiederkommen kann, und da macht sich der Franz, dieser Hund, auf in der ersten freien Stunde, nicht einmal zum Füttern hat er abgewartet, und stiehlt ... und wühlt ...
Schwarz ist die Nacht nicht. Ein ganzes Feuerwerk prasselt vor seinen Augen los, das tanzt alles und dazwischen ist der Nachthimmel da und zerreißt blendend hell ...
Na ja, na ja ...
Einen Augenblick ist es besser. Er steht und der Schwindel zieht langsam ab aus seinem Hirn und der Stamm liegt ruhig an seiner Schulter.
Aber da bohren die Gedanken schon wieder, wie Ameisen wimmeln sie durch sein Hirn, und er sieht den Franz, diesen Hurenbock, wie er mit seinem Geld sich die Weiber kirrt, und sieht die dicken Betten und die dicken, fetten, weißen Glieder. Gut rammeln hat der und der Vater geht hops und kommt ins Zuchthaus, weil der Sohn geil ist, viechsgeil.
Da ist die Röte wieder, eine ganze Feuersbrunst steckt es an, es schneidet mit Messern und bohrt mit Pfriemen.
Der Banz lehnt sich ganz zurück. In seinen Händen hat er ja einen guten derben Stock, einen langen Buchenstock, kernig ... Na ja, na ja ...
Er macht zwei Schritte, drei. Lange, unverhohlene Schritte. Die Kriechkröte am Boden fährt auf. Aber da ist der Schlag schon, mit der Länge des ganzen Stocks aus dem federnden Hebelwerk des Arms geführt. Das hat gut schreien, gurgeln: »Uaaah!«
Und dann muß Banz wieder auf den Boden. Neben seinem Opfer hockt er und ist nicht mehr bei sich.
Es ist immer noch Nacht. Kühle Nacht, sternenlose, ohne Mond.
Nahebei ist ein leiser Wind in den Kiefern und zur linken Schulter das ewig auf und ab wallende Geräusch der Brandung. Am Himmel müssen tiefgehende Regenwolken sein, er drückt so.
Banz ist wieder da, er weiß auch wieder, was geschehen ist.
Aber dem Franz wird es eine Lehre sein, Vaters Geld klauen für die Kuhmädchen, der läßt die Finger davon.
Immerhin liegt er jetzt lange genug.
Der Bauer beschreibt mit der Hand einen Tastkreis, bis er auf Stoff stößt, so nahe bei dem Geschlagenen hat es ihn niedergezwungen.
An dem Stoff gehen die Finger lang, suchende kluge Tiere. Und nun kommen sie auf Fleisch, eine Hand.
Und springen fort: die Hand ist kalt, steif.
Der Bauer ist mit einem Ruck über dem Liegenden. Tot? Es war ja nur ein Schlag mit einem Stöckchen. Ein Schädel hält ganz andere Schläge aus!
Aber als er die Hand zwischen den seinen hält, weiß er zwei Dinge: der ist tot, endgültig tot. Und: der ist nicht der Franz.
Es ist unmöglich, aber es ist nicht der Franz. Es ist eine weiche, lange Hand, und der Franz hat kurze, hornige Pranken. Es ist – ihm wird es klar – der wirkliche Eigentümer des Geldes. Der Bauer wiegt den Kopf hin und her. Er sitzt da neben jemanden, von dem er nicht weiß, wie er aussieht, den hat er also totgeschlagen. Immer tiefer in die Malesche.
»Welche sind, die haben kein Glück«, sagt Banz und meint sich.
Eine halbe Stunde darauf trifft er die Frau, die in einem Bogen das Haus umkreist.
»Sind die noch da?« fragt er.
»Seit zwei Stunden sind sie weg.«
»Wirklich weg?«
»Franz ist ihnen eine Stunde nachgeschlichen.«
»Franz! – Wieviel waren es?«
»Vier.«
»Und alle vier sind weg?«
»Die Kinder schlafen?«
»Schlafen.«
»Du bringst Essen, Trinken, Kleider und Wäsche, meinen Mantel, Mütze und –« er zögert – »einen Stock. Dann Spaten und Hacke. Eine Laterne.«
»Willst du nicht drin essen?«
»Nein. Ich gehe nicht wieder ins Haus.«
»Banz!«
»Mach, ehe es Morgen wird.«
Er steht und wartet. Die Pappeln, die er hört, hat der Vater gepflanzt. Der Wind steht vom Hof her, es riecht wieder nach Jauche. In diesem Winter wollte er ein Jauchenloch mauern, daß der Regen nicht immer den Stickstoff verwäscht. Das bleibt nun nach.
Der Zaun braucht auch ein paar Pfähle und in dem Obstgarten hätte er gerne noch ein paar Äpfel gepflanzt. Das bleibt nun nach.
Er belädt sich mit einem Teil von dem Zeug, und sie gehen gegen den Wald. Sie sprechen nichts.
Erst als sie unter den Bäumen sind, sagt er: »Du mußt nicht erschrecken, da liegt einer.«
»Liegt einer?«
»Ich habe ihn erschlagen. Ich wollte es nicht. Er war über dem Geld.«
»Wer ist es?«
»Ich weiß nicht. Ich will dann mit der Stallaterne sehen.«
»Warum hast du es getan?«
»Er war über dem Gelde. Ich dachte, es wäre der Franz. Ich hab's im jähen Zorn getan.«
»Ja«, sagt sie. »Ja. Immer der jähe Zorn. Seit dreißig Jahren. Vierzig Jahren.«
»Ja«, sagt er.
Sie gehen eine Weile schweigend. Dann fragt sie: »Wohin willst du?«
»Ich weiß nicht. Ich muß mal sehen.«
»Was wird mit dem Hof?«
»Der gehört dir!« sagt er wütend. »Dir allein! Jag die Brut weg, wenn sie aasig wird. Dir gehört er. Wir haben ihn bestellt.« Leiser: »Vielleicht lasse ich dich später einmal nachkommen.«
Er bleibt stehen, wirft seine Last hin.
»So«, sagt er. »Weiter gehst du nicht. Du suchst Äste und Steine. Er muß tief rein in den Boden wegen der Kaninchen. Dann packe ich die Steine und die Äste darauf.«
Er überzeugt sich, daß sie suchend fortgeht. Dann brennt er die Stallaterne an, nimmt Spaten und Hacke und geht an seine Arbeit.
Eine Stunde später ist alles getan. Er sitzt mit ihr am Waldrand und ißt.
Sie schweigen. Zwischen hinein fragt er: »Willst du von dem Geld?«
»Nein«, sagt sie. »Nicht.«
Eine Weile später: »Du mußt vor Winter noch die Rotbunte weggeben. Die gibt keine Milch bis zum Frühjahr.«
»Ja«, sagt sie. »Das tu ich dann.«
Wieder nach einer Weile fragt sie leise: »Wer war es denn?«
Und er, noch leiser: »Ich kenne ihn nicht. Ein junger Mensch.«
»Gott«, sagt sie.
»Du mußt Spaten und Hacke gut abkratzen, daß man nicht sieht, daß frisch damit gegraben ist. Und du gehst öfter raus und paßt auf, daß die Tiere nicht wühlen.«
»Ja«, sagt sie.
Er steht auf: »Dann gehe ich.«
Sie steht vor ihm.
Er wiederholt: »Ich gehe dann.«
Sie sagt nichts.
Er dreht sich langsam um und geht gegen die See.
Plötzlich schreit sie auf mit all ihrer Stimme: »Banz! O Banz!«
Er dreht sich um nach ihr. Fünf Schritte ab.
Sie sieht im Dunkeln, wie er langsam, bedachtsam mit dem Kopf nickt: »Ja«, sagt er trübe. »Ja.« Und nach einer Weile: »So ist das. Ja.«
Er geht gegen die See.
Um 11 Uhr 15 an diesem Abend klopft es an der Tür von Tredups.
Frau Tredup hat über dem Brief an ihre Schwester gesessen, nun wirft sie einen Blick auf die Uhr: »Er hat sich schön geeilt, der Max.«
Aber es ist Stuff, der draußen steht: »Ist Ihr Mann da, Frau Tredup?«
»Nein, Herr Stuff, aber er muß jeden Augenblick kommen.«
»Darf ich hier auf ihn warten?«
»Kommen Sie nur rein, wenn es Sie nicht geniert.«
Stuff setzt sich umständlich, betrachtet seine Zigarre, sieht auf die schlafenden Kinder und legt die Zigarre fort.
»Rauchen Sie ruhig, Herr Stuff. Die Kinder sind es gewohnt. Mein Mann raucht auch.«
»Nein, lieber nicht. – Wie ist denn Ihr Mann?«
»Erst war er ja ein bißchen niedergedrückt, aber seit wir wegziehen wollen, ist er wieder obenauf.«
»Sie ziehen weg?« Stuff fährt auf. »Doch nicht wegen diesem Gareis? Ich sage Ihnen, Frau Tredup, Ihr Mann wird glänzend rausgerissen. Morgen überreichen sämtliche Pressevertreter dem Vorsitzenden einen Protest gegen den gemeinen Angriff von Gareis. Sämtliche«, sagt Stuff und grinst. »Nur die Volkszeitung hat sich ausgeschlossen von wegen der allgemeinen Solidarität. Und dann natürlich die Nachrichten.«
»Es ist sehr nett von Ihnen, Herr Stuff, sehr nett Und es wird dem Max sicher guttun. Aber es ist zu spät. Herr Gebhardt hat Max sofort auf die Straße gesetzt.«
»Aber das geht nicht! Das ist ausgeschlossen. Das braucht sich Tredup nicht gefallen zu lassen. Auf die Straße gesetzt? Ohne Gehalt?«
»Ohne Gehalt.«
»Aber da müssen Sie klagen, Frau Tredup, so was muß an die große Glocke.«
»Nein, wir klagen nicht, Herr Stuff. Und eigentlich bin ich froh, daß es so gekommen ist ...«
»Auch noch! Ich danke.«
»Kommt der Max doch fort von hier. Es ist ihm nicht gut bekommen hier, Herr Stuff.«
»Jawohl, Frau Tredup, da haben Sie recht. Wer mit uns Schweinen umgeht, wird bald selbst ein Schwein.«
»Gott, Herr Stuff, bei Ihnen ist es ja ganz etwas anderes. Sie sind ein Mann. Sie können so was mal machen. Aber der Max ist ja so ein Junge, der schweinigelt sich gleich von oben bis unten ein, wenn er mal mit Dreck spielt.«
»Sie sind eine Frau«, sagt Stuff anerkennend. »Sie sind das richtige Muster.«
»Na, Herr Stuff, grade jetzt mal. Aber morgen auch?«
»Morgen auch«, erklärt Stuff.
»Es ist nach halb elf, jetzt muß er kommen.«
»Wo ist er denn eigentlich hin, jetzt in der Nacht?«
»Nach Stolpe zu.«
»Nach Stolpe? Jetzt in der Nacht?«
»Und weiter. Wissen Sie, Herr Stuff, Ihnen kann ich es ja sagen: Er holt das Geld.«
» Das Geld?«
»Ja, das Geld.«
»Wo hat er es denn?«
»Ja, ich weiß auch nicht. Er sagte was von Stolpermünde.«
»In den Dünen also. Das ist nicht schlecht.«
Nach einer Weile: »Ich weiß nicht, Frau Tredup, ich wär mitgefahren.«
»Wieso? Mitgefahren?«
»Wo er am Nachmittag den Puff gekriegt hat. Sie wissen doch, wie Tredup ist.«
»I wo, der war ganz fidel, als er losfuhr.«
»Und trifft irgendeinen, der ihn ankotzt, und traut sich nicht wieder her.«
»Oh, Herr Stuff!«
»Ich bin«, sagt Stuff langsam, »ein gottgeschlagenes Kamel. Ich bin ein Idiot. Natürlich ist alles Quatsch, was ich gesagt habe.«
»Jetzt müßte er aber hier sein. Es ist dreiviertel elf.«
»Vielleicht hat er den Zug verpaßt. Es ist stickeduster draußen. Vielleicht muß er suchen.«
Die Frau sagt bittend: »Warten Sie noch ein Weilchen.«
»Natürlich, Frau Tredup, ich versäume nichts.«
»Soll ich Ihnen Bier holen? Sie sind es doch gewöhnt, abends, Herr Stuff.«
»Nein, kein Bier. Keinesfalls. Ich werde viel zu dick.«
»Kurz vor eins kommt noch ein Zug, da können wir ja zur Bahn gehn.«
»Nein, seien Sie mir nicht bös. Ich gehe nicht aus dem Haus. Mir ist, als müßte ich hier auf ihn warten.«
»Selbstverständlich warten wir hier.«
Um halb zwei.
»Nein, mit dem Zug ist er auch nicht gekommen. Gehen Sie nach Haus, Herr Stuff.«
»Und Sie?«
»Ich warte noch.«
»Dann warte ich mit. Um 6 Uhr 10 kommt der Frühzug.«
»Aber Sie müssen schlafen, Herr Stuff.«
»Ich schlaf hier sehr gut in meiner Sofaecke, tun Sie das man auch.«
»Herr Stuff!«
Unbeugsam: »Ich warte mit.«
Um drei geht nach kurzem Flackern die Petroleumlampe aus. Die Frau stellt sie vor die Tür, sieht auf Stuff, der in seiner Sofaecke schnarcht.
Setzt sich wieder hin und wartet.
Um halb sieben reckt sich Stuff und gähnt.
Plötzlich erschrocken: »Was, schon halb sieben? Ist er denn nicht gekommen?«
Die Frau: »Nein, er ist nicht gekommen. Und ich weiß jetzt auch, er kommt nicht mehr. Er hat das Geld genommen und ist ausgerissen von uns. Er hat es schon immer gewollt.«
»Aber, Frau Tredup, er hat in Stolpe übernachtet. Kommt heute vormittag.«
»Nein«, sagt die Frau. »Er kommt nicht. Er hat uns verlassen.«
»Glauben Sie das nicht. Sofort, wenn heute die Verhandlung zu Ende ist, fahre ich nach Stolpe und Stolpermünde und erkundige mich nach ihm. – Aber bis dahin ist er längst hier.«
»Er kommt nicht wieder«, sagt die Frau.