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Fünftes Kapitel
Es kracht zum zweiten Male

1

Thiel in seiner Dachkammer hat am Tage nicht schlafen können. Trotzdem er nackt auf seinen Woilachs im Winkel lag, brach der Schweiß bächeweise aus ihm. Dazu kamen die Gestänke vom Klosett nebenan, schlimmer als je.

Er war kaputt. Dieses Warten zermürbte. Niemand kam, aber Tausende hatte er kommen gehört, Zehntausende, in jeder Stunde viele. Durch das schlafende, unruhige, knackende, finstere Haus kamen sie heran, schlichen hier, schlichen dort, lachten mit großen weißen Gesichtern im Laternenschein, oder standen in dunklen Ecken, regungslos, das Gesicht im Winkel.

Diese Nächte hatten ihm den Schlaf weggezogen. Wenn jetzt die Spülung nebenan strömte, dann war er in der Versuchung aufzuspringen, gegen die Tür zu trommeln, das Dachfenster aufzureißen, auf die Straße zu blöken:

»Hier ist der Bombenschmeißer von Stolpe! Zehntausend für den ersten, der oben ist!«

Ganz gegen Abend – im Haus war es schon stiller geworden, und die Setzmaschinen klapperten nicht mehr – war er eingeschlafen, hastig und tot.

Nun ist ihm, als sei er plötzlich wach geworden von einem Geräusch. Er setzt sich auf und lauscht.

Es ist ganz dunkel und das Haus völlig still.

Er brennt ein Streichholz an und sieht auf die Uhr: fast zwölf.

Dann zieht er eine Hose über (und nichts mehr) und findet auf dem Stuhl an der Tür das von Padberg hingestellte Essen und eine Flasche Mosel.

Padberg ist also hier gewesen und hat ihn schlafen lassen, nicht geweckt, der Schuft, der elende. Neue vierundzwanzig Stunden, in denen er zu keinem Menschen ein Wort sprechen kann. Thiel ißt hastig und lauscht immer wieder. Ihm scheint das Haus unheilvoll, es wartet auf ihn mit all den leeren Zimmern, mit den Arbeitsräumen, die noch angefüllt sind mit den Bewegungen der Menschen, die leben dürfen, während er umhergeht wie ein Traum.

Dann tastet er sich die Treppe hinab in den Garten.

Zuerst in den Garten, in die Luft, unter Sterne, zwischen Grün. Er hat seinen Mosel mitgenommen, und hier, auf einem vermanschten Grasplatz, trinkt er ihn.

Dann steht er wieder auf, er erinnert sich später genau, daß er in dieser Stunde besonders froh und wach und aufgeräumt war, und geht zum Maschinenhaus. Dort, in einem Verschlag, sind zwei Brausen. Er stellt sich unter eine und duscht sich gründlich ab.

Nun ist ihm ganz wohl. Er nimmt einen Drahthaken von einem Nagel und tändelt damit das Schloß einer Schieblade auf. In der hat der Maschinenmeister allen möglichen Privatkram, auch Zigaretten, und von denen nimmt er sich eine und steckt sie sich an, trotzdem er selbst genug hat.

Aber der Maschinenmeister mag ruhig ein bißchen toben, wenn sein Bestand nie stimmt, das sind alles rote Genossen. Es ist gut, wenn die Verdacht aufeinander haben, Mißtrauen in der Partei hält den Meinungsaustausch frisch.

Doch eigentlich ist es ihm nicht um die Zigaretten zu tun. Darum macht er kein Schloß auf. Aber der Maschinenmeister hat auch immer ein Lager von allen möglichen Aktfotografien. Weiß der Teufel, was er damit tut, ob er sie auch zum Vertrieb hat an seine Kollegen, oder ob er sich, ein nicht befriedigend verheirateter Mann, daran ergötzt.

Jedenfalls ist heute abend eine ganze frische Partie da, sieht Thiel im Lichte eines Streichholzes. Und nun zieht er sich mit seinem Packen Bilder unter einen Tisch zurück, dessen deckende Platte den Lichtschein abfängt. –

Nach einer halben Stunde nimmt er seinen Rundgang neu auf, geht wieder durch den Garten, in den Setzersaal, zur Expedition. Er ist heute kein scharfer Wachhund, heute nacht macht er blau, heute nacht summt er sogar vor sich hin.

Er öffnet die Tür vom Flur zum Expeditionszimmer. Das ist jene Tür, die oben im Schornstein das Bimmelsignal gibt. Und richtig, er hört es ganz schwach bimmeln von dort.

Ihm fällt ein, daß er heute abend verschlafen hat, daß er vergaß, die Klingel abzustellen wie sonst jeden Abend.

Und steht erstarrt.

Oben hört er Schritte, deutlich rasche Männerschritte.

In demselben Augenblick rast er in Sätzen die dunkle Treppe hinauf. Er überlegt nicht in diesen Sekunden, es reißt ihn die Treppe hinauf, dem Spion entgegen. Im Laufen tastet die Hand nach dem Gummiknüppel, faßt ihn schlagbereit.

Der Vorplatz ist stichdunkel. Aber in den Ritzen der Tür zum Expeditionszimmer schimmert es schwach gelblich. Drinnen brennt Licht.

Sein Elan reißt ihn pausenlos weiter, er öffnet die Tür: und die stille helle Weite des Arbeitszimmers von Padberg tut sich vor ihm auf. Die fünf Lampen am Kronleuchter brennen, die Schreibtischlampe brennt, die Vorhänge sind zugezogen.

Aber das Zimmer ist leer.

Thiel sieht nach der andern Tür: sie ist geschlossen, schwingt nicht.

Das Hastige fällt ab von ihm, leise, auf Zehen, als dürfe er einen nicht stören, schleicht er ins Zimmer, dem Schreibtisch zu.

Die Mittellade steht auf und ist leer. Was darin lag, ist auf die Platte des Schreibtischs gestapelt, zur Durchsicht. Zwei Stöße, einer rechts, schon durchgesehen, mit den weißen Rückseiten nach oben, einer links, noch der Durchsicht harrend, ihm das Beschriebene zukehrend.

Mechanisch greift Thiel nach dem obersten Blatt, nimmt es, will es überfliegen – – –

Und ein Gefühl äußerster Gefahr überkommt ihn, eine Welle von Angst stürmt über ihn, sein Herz beginnt schmerzhaft zu trommeln und ist doch so schwach.

Er steht einen halben Meter ab vom Vorhang, der nun seinen Blick anzieht. So in nächster Nähe gesehen, hängt der Vorhang nicht glatt zur Erde, er bauscht und buckelt sich seltsam, fast könnte man denken, jemand stünde dahinter.

Thiels Blick geht zur Erde. Der Vorhang ist nicht ganz lang, es bleibt Raum über dem Boden. Und in diesem Raum stehen zwei Schuhe, zwei schwarze bestaubte Männerschuhe, mit den Spitzen zu ihm.

Thiel fängt an zu zittern, es ist alles so gespenstisch. Dies dunkle, verworrene Haus, der nächtige Garten, die schlafenden Schuppen, und in all dem, wie in der Kammer des Traums, ein erleuchtetes Zimmer, totenstill. Ein Mensch vor einem Vorhang, unter dem zwei Schuhe stehen. Die Hand des Menschen tastet sich gegen den Vorhang – braunrot ist er –, sie bebt so stark, daß er sie wieder zurückzieht.

Thiel starrt auf den gebeulten Vorhang.

Es ist unendlich viel in ihm in diesen Sekunden: glückliche Kindertage, das nüchtern klare Zimmer auf dem Finanzamt mit der verläßlich klappernden Rechenmaschine, ein Skatabend im Gasthof, die drei Gesichter der Freunde, doch vor allem der Fuß Kalübbes über einem braunbunten Falter im Straßenstaube – und der Fuß wurde zurückgezogen.

Thiel legt sachte den Gummiknüppel hinter sich auf den Schreibtisch. Mit der linken Hand faßt er die rechte ums Gelenk, führt die bebende gegen den Vorhang.

Seine Fingerspitzen berühren den Stoff, sein Herz erzittert stark.

Er hebt ihn, er zieht ihn langsam ab von dem Gesicht, das sich darbietet, ein weißes, faltiges Gesicht, schneeweiß, mit einem Wust dunkler Haare darüber. Trübe Augen sehen ihn an.

Hier steht ein Mann im blauen Setzerkittel. Leise dämmert es in Thiel, daß er ihn schon gesehen hat, damals in jenen Tagen direkt nach dem Bombenwurf, als er noch auf der Bauernschaft Dienst machte. Ein Setzer.

Die beiden sehen sich unverwandt an, sie bewegen nicht die Lippen, sie sehen sich nur an, Spion und Bombenwerfer.

Der Blick des andern ist dunkel und trübe ... und mählich geht Thiel alles ineinander wie ein Traum. Ihm ist es, als sei er es, der dort hinter dem Vorhang steht, und wieder er, der den Saum lüftet. Er sieht trübe, er greift dunkel, alles verschwimmt ...

Thiel läßt langsam – o so langsam! – die Vorhangfalten vor das Gesicht, er greift nach seinem Gummiknüppel. Rückwärts, das Gesicht gegen den bauschenden Vorhang gekehrt, verläßt er das Zimmer. An der Tür dreht er das Licht aus. Und nun steigt er schwer und trübe zur Dachkammer hinauf.

In seiner Abseite legt er den Kopf auf die Woilachs und versucht nachzudenken. Aber alles ist viel zu dunkel. Immer von neuem wiederholt es in ihm:

»Ich bin feige gewesen. Einfach feige bin ich gewesen. Mit dem Gummiknüppel hätte ich ihm in die Fresse schlagen sollen. Feige war ich.«

Und: »Hätte ich nur heute abend nicht die Aktfotos genommen! Schlapp war ich! Feige war ich!«

Plötzlich fährt er hoch. Er muß geschlafen haben. Aber es kommt ihm vor, als sei es nur ein Augenblick gewesen.

Jetzt hört er durch das ganze Haus, wie ein Schlüssel drunten im Erdgeschoß in das Schloß gestoßen wird, wie jemand schließt, der Jemand steigt die Treppe hinauf, und diesen Schritt kennt er.

»Na ja«, denkt er. »Na ja. Nun gibt es was.«

Aber es gibt nichts. Er hört Padberg in sein Arbeitszimmer gehen. Hört, wie er dort rumhantiert.

Gibt es nichts?

Aber der Mann ist doch unten, der Setzer mit dem dunklen Haar und den trüben Augen!

Nein, es gibt nichts.

Gibt es gar keinen Setzer?

Thiel steigt langsam die Treppe hinunter. Er ist grenzenlos müde und hat einen schlechten Geschmack im Munde.

Vor dem Schreibtisch sitzt Padberg, raucht eine Zigarre und steckt Papiere in eine Tasche. An der Tür steht ein Reisekoffer.

»'n Abend, oller Wachhund«, sagt Padberg in glänzender Stimmung. »Sie schliefen gestern abend so sanft, ich wollte Sie nicht stören.«

»Guten Abend«, sagt Thiel.

»Hören Sie«, fängt Padberg wieder an, »ich muß sofort nach Berlin. Die wollen da so irgendeine Einheitsfront gegen die Bauernschaft zusammenbringen. Das Gestell, der Temborius, rührt sich auch wieder. Möglich, daß es bald etwas Nettes für Sie zu tun gibt.«

Und er macht eine werfende Bewegung mit der Hand.

»Wollen Sie heute nacht noch fahren?« fragt Thiel.

»Jetzt. Sofort. Das Auto muß jede Minute kommen. Ich lasse mich bis Stettin fahren, dann kriege ich noch den Frühzug nach Berlin.«

»Ja, so«, sagt Thiel.

»Wann ich zurückkomme, weiß ich noch nicht. Und da wird es mit Ihrem Essen schlecht. Es ist mir überhaupt zu gefährlich, daß Sie hier sind, wenn ich nicht bei der Hand bin. Ich denke, es ist das beste, Sie gehen sofort zu Graf Bandekow auf Bandekow-Ausbau. Sie wissen ja den Weg, und der Graf kennt Sie auch. Hier, für alle Fälle fünfzig Mark. Aber Sie brauchen ja kein Geld.«

»Nein«, sagt Thiel. »Und hier?«

»Hier? Ach so, wegen des Aufpassens? – Da ist schon das Auto. Ich muß los. – Nein, hier ist nichts nötig. Alles, was an Papieren wichtig ist, habe ich mit. – Also, ich muß los. Auf Wiedersehen, Thiel. Heil Bauernschaft!«

»Heil Bauernschaft!«

»Gehen Sie dann auch gleich los!«

»Sofort«, sagt Thiel.

»Na also denn nochmals ...«

2

Im Sitzungssaal, beim Regierungspräsidenten Temborius, herrscht gute Stimmung. Sehr gute sogar.

An einem langen grünen Tisch sitzen die Vertreter der ländlichen und städtischen Bevölkerung des Regierungsbezirks Stolpe einträchtig beieinander und plaudern. An einem Quertisch thront der Präsident mit seinem Stabe. Er ist heute ein anderer Regierungspräsident, ein verbindlich lächelnder, Witze machender, Scherz verstehender Herr, er ist der Mann mit der glücklichen Hand, die alles glätten wird.

Es ist ihm gelungen, was aussichtslos schien, er hat die feindlichen Brüder von Stadt und Land an einen Tisch gebracht.

Zwar, die städtische Verwaltung Altholm selbst ist etwas schwach vertreten. Dort spielt man natürlich Schmollebock und hat nur den Assessor Stein entsandt, ein reiner Informationsakt, weil man wütend dort ist, daß das Regierungspräsidium eine glücklichere Hand hat als ein gewisser Gareis.

Nun gut, aber die Stadt ist doch da: das Handwerk mit seinen Innungsmeistern, der Einzelhandel mit dem gewichtigen Herrn Manzow, die Fabrikanten mit ihrem Syndikus.

Und nicht aufzuzählen ist, wer alles vom Lande kam. Da ist die Landwirtschaftskammer, vertreten durch einen Landwirtschaftsrat, zwei Ackerbauschuldirektoren, zwei Saatzuchtinspektoren.

Da ist der Landwirtschaftliche Hauptverein: zwei Vorstandsmitglieder.

Die Kreisbauernvereine gleich mit fünf Mann.

Da ist die Wiesen- und Wasserbaugenossenschaft: zwei Mann.

Die Landlehrer haben sich vertreten lassen, die Landgeistlichkeit, das Gastwirtsgewerbe auf dem Lande.

Oh, dieser Assessor Meier kann außerordentlich tüchtig sein, er hat in den entferntesten Ecken noch Organisationen erspäht, die man laden konnte. Wer hätte an den Verband Pommerscher Geflügelzüchter oder an die Ländlichen Hausfrauen gedacht? Er!

Und ein Musterbeispiel vorsichtigen Abwägens, glänzender Formulierung war sein Referat über die juristischen und gesetzlichen Grundlagen für das Vorgehen der Polizei am 26. Juli.

Fast noch besser, fast noch wirkungsvoller als die polizeitaktischen Erörterungen des Polizeiobersten Senkpiel.

Er selbst, Herr Regierungspräsident Temborius, hat die innenpolitischen Voraussetzungen und Auswirkungen jenes Tages behandelt, nicht ohne Wirkung, scheint ihm.

Alles ist in der loyalsten Weise besprochen, keine Gehässigkeit, keine Verbissenheit. Die bunten Glasfenster stehen offen im großen Sitzungssaal, Luft und Licht fluten herein, eigentlich sogar die ganze Welt, sozusagen, man steht hier der ganzen Welt gewissermaßen offen. Man hätte auch jede Frage gerne beantwortet, aber alles war so erschöpfend behandelt: es wurde nichts gefragt.

Nun hat man eine Pause eintreten lassen. Ehe man zum zweiten Hauptpunkt der Tagesordnung übergeht, der Bereinigung des Boykotts, gibt man den Herren, unter dem Vorwand einer Erholungspause, Gelegenheit sich auszusprechen.

So plaudern die Herren miteinander.

Beispielsweise ist Manzow auf Dr. Hüppchen gestoßen und, siehe da, heute ist Manzow ein ganz anderer Mensch. Er hat da eine knifflige Steuerfrage, er hätte gerne den Rat seines lieben Doktors, aber nein, er denkt natürlich nicht daran, hier zu schnorren, er weiß, auch ein Volkswirt will leben, haha!, er wird in den nächsten Tagen Herrn Doktor ganz offiziell konsultieren. Und – er läßt es in der Ferne sehen – der Syndikus des Einzelhandelbundes ist etwas überaltert –: »Ja, mein lieber Herr Doktor, davon sprechen wir noch.«

Es bleibt nicht aus, daß Dr. Hüppchen mit einer gewissen Rührung an Gareis denkt, dem diese Vorschläge zu danken sein dürften. Aber auf eine Erkundigung, wo denn Gareis steckt, hört er zu seiner Überraschung wegwerfend:

»Gareis? Der Dicke? Der ist doch längst tot!«

»Tot –?«

»Na, haben Sie denn nichts von dem Brief des Regierungspräsidenten gelesen? Wenn das nicht tot ist –!«

Der Ehrenobermeister der Bäckerinnung steht mit Superintendent Schwarz zusammen.

»Das sieht ja alles ganz versöhnlich aus, nicht wahr, Herr Superintendent?«

»Sicher. Der Friede siegt immer am Ende. Heute kommt es zu einem Abschluß.«

Und Assessor Meier erlebt das Erstaunliche: sein Chef, der Regierungspräsident Temborius, klopft ihm auf die Schulter.

»Gutgemacht, Meierchen, na, sehen Sie!«

Assessor Meier weiß nicht recht, was er sehen soll, aber er lächelt erfreut.

»Habe ich Ihnen nicht schon mal gesagt, es geht auch mit Ihnen in der Preußischen Verwaltung? Warum sollen denn alle jüdischen Juristen Rechtsanwälte werden? Auch in der Verwaltung können wir Sie brauchen.«

Assessor Meier stammelt etwas.

»Sehen Sie«, ruft Temborius etwas erregt, »was ist das? Geht das von Ihnen aus? Haben Sie das gestattet?«

»Nein, ich nicht. Ich weiß gar nicht ...«

»Inhibieren Sie! Inhibieren Sie sofort!«

An der Saaltür steht ein Bengel, ein gewöhnlicher Bengel von vierzehn, fünfzehn Jahren und verteilt Zeitungen.

Es sind sorgfältig dreimal gekniffte Zeitungen, Zeitungen, die ihren Titel keusch auf der Innenseite bergen. Aber der Assessor ahnt Schreckliches.

Er stürzt zu dem Jungen hin, durch die halbe Länge des Sitzungssaales läuft er im Trab. Und er ruft dabei: »Halt, Sie da! Wer hat Ihnen erlaubt, hier Zeitungen zu verteilen?«

Der Junge schaut auf. Die meisten Zeitungen hat er schon an die Versammlungsteilnehmer verteilt. Die er noch in den Händen hat, wirft er mit einem Schwung auf die Erde, stößt den Ruf aus: »Heil Bauernschaft!« und verschwindet.

Der Assessor bückt sich. Er kann nicht anders, die andern sehen ihn alle an, er öffnet so ein Päckchen. Und nun zeigt sich, daß nicht nur, um den Titel »Die Bauernschaft« zu verbergen, das Blatt so sorgfältig geknifft war. Auf der ersten Seite, in der Mittelspalte, mit Rotstift dick angestrichen, steht etwas, ein Offener Brief. Meier liest den Namen Temborius, er liest weiter, er zittert in seinen Schuhen. Er ist naß.

Ach, alle haben sie schon diesen unseligen Offenen Brief gelesen, nur sein Vorgesetzter, Regierungspräsident Temborius, steht allein da, etwas isoliert kann man sagen, und sieht mit gerunzelter Braue her.

Gleich wird er rufen.

Assessor Meier geht mit schweren Schritten zu seinem Chef. Er ist einmal, lange ist es her, in diesem Haus herumgelaufen, als eine Bombe platzen sollte. Jetzt zum Chef gehen, ihm die Zeitungen vor die Nase legen, ist schwerer.

Er legt sie hin.

»Was soll das? Zeitung lesen? Jetzt!«

Dann ist auch sein Blick gefangen und er liest.

Assessor Meier steht einen halben Schritt hinter seinem Chef, abwartend. Einmal hört er den auflachen, höhnisch, bitter: »Ich jüdisch? Na, das danke ich wieder mal Ihnen, Herr Assessor.«

Dann streicht der Regierungspräsident das Blatt sorgfältig glatt.

»Ich bitte die Herren, sich an Ihre Plätze zu bemühen. Wir setzen die Beratung fort.«

Die Herren folgen. Die meisten bergen die Zeitungen schämig in den Taschen, nur wenige legen sie offen vor sich auf den Tisch.

»Meine Herren! Hochverehrte Anwesende!

In unsere so erfreulich, im Geiste der Versöhnung verlaufene Verhandlung ist ein greller Mißklang gekommen. Von unberufener Seite, die noch ermittelt und streng bestraft werden wird, ist hier eine Tageszeitung verteilt worden, ein Blatt, das ... kurz die Bauernschaft!

Ich habe das Blatt in den Händen der meisten gesehen, aber, um den Geist zu illustrieren, der diese Gemeinschaft Bauernschaft beseelt, die sich gegen alle Staatsautorität auflehnt, um diesen Geist, der der Alleinschuldige am 26. Juli ist, anzuprangern, halte ich es doch für gut, wenn dieses bübische Machwerk hier öffentlich verlesen wird. – Herr Assessor, ich bitte!«

Der Assessor zittert. Stotternd beginnt er:

»Offener Brief.

Tapferer Volksgenosse Temborius!

Sie haben uns zu einer Besprechung der Vorgänge in Altholm eingeladen. Sie wollen den Polizeiskandal auf dem Wege der Verhandlung in das sanfte Fahrwasser des Redegefechtes umleiten, damit nach einigen wilden Wellenschlägen allgemeine Beruhigung eintritt.

Diese Kampfmethode des jüdischen Aussaugungssystems, dessen hervorragender Vertreter Sie sind, ist uns bekannt. Blutsgemäß sind Sie besonders befähigt, dies System zu vertreten. Ihre Diener haben den werteschaffenden Steuerzahlern mit dem Gummiknüppel den blauen Orden der freien Republik verliehen. Statt die wahren Schuldigen zu bestrafen, schicken Sie diese auf Erholungsreisen. Leider nicht für immer nach Jericho oder Jerusalem.

Was wollen Sie denn eigentlich? Sie existieren überhaupt nicht für uns mit Ihrer ganzen Clique! Das von Ihnen ausgesogene und mit Füßen getretene Volk lehnt es ab, sich mit seinen Feinden an einen Tisch zu setzen.

Sie, Herr Temborius, dienen uns nicht mit Verhandeln, sondern mit Verschwinden, je eher, desto besser, mitsamt Ihrem ganzen Verwaltungsapparat! Das bodenständige Volk wird sich selber helfen.

Die Ritter des Gummiknüppelordens zum blauen Fleck.

Die Bauernschaft.«

Assessor Meier hat geendet. Totenstille.

Temborius erhebt sich wieder. »Meine Herren, wir haben das angehört. Wir haben das wohl alle mit äußerstem Ekel angehört. Ich denke, wir fahren jetzt mit unsern Verhandlungen fort. Wir kommen nunmehr zu Punkt zwei der Tagesordnung: die Bereinigung des Boykotts.

Ehe die Regierung Vorschläge macht, möchte ich doch fragen, ob aus dem Schoße der Versammlung Anregungen kommen. – Sie bitte, Herr – ach so, ja richtig. Herr Landwirtschaftsrat Päplow!«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe im Moment keine Anregungen zu geben. Doch möchte ich im Anschluß an den eben verlesenen Brief die Frage stellen: sind hier Vertreter der Bauernschaft unter uns?«

Temborius lacht leise, etwas gereizt, auf: »Aber meine Herren, Sie sind alle Vertreter der Landwirtschaft! Ich sehe hier mindestens zwanzig Herren, die sich mit Fug und Recht als Vertreter der Landwirtschaft bezeichnen können.«

Doch Landwirtschaftsrat Päplow bleibt hartnäckig: »Herr Präsident verzeihen, das ist ganz etwas anderes: Bauernschaft und Landwirtschaft. Die Bauernschaft in diesem Sinne ist doch eine Bewegung. Sind hier Vertreter der Bauernschaft?«

Er fragt gar nicht den Präsidenten, er sieht die Reihe herum. Alle Köpfe sehen zu ihm auf, aber keiner nickt.

Landwirtschaftsrat Päplow macht eine Bewegung mit den Händen: »Ja, meine Herren, dann sehe ich aber wirklich nicht ein, was wir hier beschließen sollen. Verzeihen Sie, aber wir haben den Boykott nicht verhängt, wir können ihn auch nicht aufheben.«

»Meine Herren! Meine hochverehrten Herren!« ruft der Regierungspräsident. »Wir geraten ja auf ein ganz falsches Gleis. Natürlich haben Sie den Boykott nicht verhängt, das sind Leute, die ich wirklich nicht hier haben möchte. Aber Sie sind doch prominente Herren der Landwirtschaft, Sie sind Führer. Wenn Sie sagen: der Boykott fällt – dann hört das flache Land auf Sie. Dann fällt der Boykott eben. Das ist es, was wir wollen. Von so prominenten Herren wie Sie eine Entschließung gegen den Boykott.«

»Ich bedauere«, sagt der Landwirtschaftsrat. »Hierzu bin ich von meiner Kammer nicht beauftragt. Ich bin rein informatorisch hier.«

»Ich auch.«

»Ich auch.«

»Wir auch.«

»Ich«, sagt ein klobiger Mann und steht auf, »bin von der Bauernschaft.«

»Na also!«

»Warum denn nicht gleich?«

»Also doch Vertreter hier.«

»– Laßt mich doch reden, Leute! Ich bin hier geladen als Vorsitzender vom Kreisbauernverein Stolpe. Darum bin ich hier. Aber ich bin auch in der Bauernschaft. Ich bin der Bewegung sympathisch, ich meine, mir sagt sie zu, die Bewegung. Und da kann ich nur sagen, meine Herren, meinen Verein geht das einen Dreck was an, was die Bauernschaft mit der Stadt Altholm hat. Darüber haben wir gar nichts zu beraten. Und entschuldigen Sie, Herr Präsident, wenn ich da ungezogen bin, das geht auch den Herrn Präsidenten gar nichts an. Laß das doch die Bauernschaft mit den Altholmschen ausmachen. Wenn noch der Gareis da wäre, aber hier ist ja kein Mensch, den das was angeht.

Das ist meine Rede, entschuldigen Sie man.«

Der Präsident steht starr da.

»Ich danke dem Vorredner für seine Belehrung über meine Pflichten. Über meine Pflichten kann mich nur meine vorgesetzte Behörde, das Ministerium des Innern, und mein Gewissen belehren. Aber ich möchte den Vorredner doch noch etwas fragen. – Waren Sie auch am 26. Juli in Altholm?«

»Jawohl. Ich bin auch dort gewesen.«

»Und an der aufgelösten Versammlung haben Sie auch teilgenommen?«

»Das habe ich auch getan, Herr Präsident.«

»So. – Ja, was sagen Sie denn nun zu dem Brief, der da eben verlesen worden ist? Sind Sie denn nun mit dem einverstanden?«

»Ja, was soll ich da sagen, Herr Präsident –? Ich habe ja den Brief nicht geschrieben, nicht wahr? Ein bißchen scharf, nicht? Ich habe ja nun gesehen, Herr Präsident, daß Sie ein ganz umgänglicher Mann sind ...«

»Danke. Danke. Sehr geschmeichelt.«

»Ja, das ist so. Umgänglich. Aber, Herr Präsident, können Sie nicht vielleicht tun, was Sie hier zu tun haben? Ich weiß ja nicht, was das ist, aber hier so die Bücher, die Akten ...«

Er sieht sich etwas unsicher um.

(Manzow flüstert zu Dr. Hüppchen: »Der ist nicht dumm. Der holt ja den ollen Temborius gewaltig durch den Kakao.«

Und Hüppchen überrascht: »Glauben Sie? Ich dachte, das wäre naiv.«

»Naiv, Herr Doktor, ist hier nur einer.«)

»Ja so. Daß ich meine Rede nicht vergesse: Können Sie uns Bauern nicht allein lassen? Wir Bauern, wir morden doch nicht, wir stehlen nicht, wir treiben keine Unzucht – kann uns denn die Regierung nicht in Frieden lassen? Sie haben hier dies schöne Steinhaus ...«

»Danke! Danke! Nein, wirklich, mein Herr, danke!! Vielleicht setzen Sie sich wieder. Danke! Belehrungen ...«

»Dann will ich man gehen. Kommt ihr mit?«

Es sind drei, die aufstehen, Freunde wohl von ihm, Vereinskameraden. Und als sie aus der Tür gehen, sind es acht, sind es zehn, sind es zwölf.

Etwas hilflos sieht der Präsident ihnen nach. »Ich denke, wir nehmen jetzt unsere Verhandlungen ... Was ist denn noch, Herr Landwirtschaftsrat –?«

»Verzeihen Sie, daß ich noch einmal unterbreche, Herr Regierungspräsident. Ich wollte nicht ohne Dank gehen wie diese Bauern. Wir alle hier, Herr Präsident, verstehen und ehren Ihre lautere Absicht. Versöhnung gut. Aber die Stunde ist wohl noch zu früh. Es heißt warten. Noch liegen Verletzte im Krankenhaus in Altholm. Noch fühlt der Bauer den Schlag, der ihn getroffen. Vielleicht mit Recht getroffen hat, obwohl grade Ihre Entscheidung, Herr Präsident, daß der Leiter der Polizeiaktion des Amtes zu entheben war, nicht grade dafür spricht.

Jedenfalls, es ist zu früh. Herr Präsident, alle, die wir hier als Vertreter der Landwirtschaft um den Tisch sitzen, können kein Ja und können kein Nein sagen. Wir sehen mit tiefem Bedauern die neu gerissene Kluft zwischen Stadt und Land. Wir hoffen, die Zeit und Ihre Bemühungen werden sie überbrücken. Aber noch ist es zu früh.

Brechen Sie, Herr Präsident, diese aussichtslosen Verhandlungen ab.«

Der Präsident sagt langsam: »Meine Herren, ich verstehe nicht. Sie sind hierhergekommen, die Verhandlungen gingen gut, die Stimmung war vortrefflich. Die Verhandlungen standen vor einem glücklichen Abschluß. Da kommt dieser maßlose, häßliche Brief der Bauernschaft und panikartig flieht alles. Was heißt denn das? Wer ist denn diese Bauernschaft? Sie fürchten sich ja vor einem Phantom. Fassen Sie, zum Besten unserer Provinz, jenen Entschluß, dem Sie vor einer halben Stunde ohne weiteres zugestimmt hätten, daß die landwirtschaftlichen Organisationen den Boykott mißbilligen – und alles ist gut.«

Der Landwirtschaftsrat antwortet mit gesenktem Kopf: »Gut. Ich will ganz offen sein. Vor einer halben Stunde hätte ich vielleicht diesem Entschluß zugestimmt. Aber als ich den Brief der Bauernschaft las, sah ich mit Schrecken: worein mengst du dich? Ist dies deine Sache?

Hängen Sie sich doch nicht an den häßlichen Wortlaut des Briefes, den irgendein Journalist aufgesetzt hat. Aufgesetzt, sage ich, denn gedacht, gefühlt ist er im Herzen von tausend Bauern. Die sind erregt, die sind beleidigt, die sind verletzt. Da helfen keine Beschlüsse, da hilft nur Zeit. Und eine sehr vorsichtige, sehr sichere Hand.

Herr Regierungspräsident, wir hoffen, daß Sie diese Hand haben werden. Haben Sie auch die Geduld dazu.«

Der Landwirtschaftsrat Päplow, ein dicker, weißer Herr mit einem Rotweingesicht, steht einen Augenblick mit gesenktem Kopf. Dann verläßt er das Zimmer. Drei, vier Herren folgen ihm.

Der Regierungspräsident lächelt. Es ist ein hilfloses Lächeln. »Meine Herren, Sie sehen ...«

Er macht eine Handbewegung. »Ich hätte Ihnen, meine Herren von Altholm, gerne geholfen. Aber vorläufig sehe ich nun wirklich auch keinen Weg.«

Ganz rasch: »Ich schließe die Besprechung.«

3

Herr Zeitungsbesitzer Gebhardt wird vom Bürgermeister Gareis unter Umgehung des Vorzimmers empfangen. Er ist hoher Besuch. Er ist wichtiger Besuch. Piekbusch hat ihn auf dem Flur abfangen und direkt ins Allerheiligste führen müssen.

Und der Bürgermeister ist ja auch nicht ungeschickt: er bringt seinem Gast den körperlichen Gegensatz zwischen den beiden Verhandelnden gar nicht erst zu Bewußtsein. Es könnte den Zeitungskönig doch niederdrücken, irritieren, solch ein Gespräch eines Zwei-Meter-Mannes mit einem Eins-Achtundvierziger. Nein, Gareis scheint lieber unhöflich, taucht kaum aus seinem Stuhl, schaut einen Augenblick in den strubbligen Nackenwirbel und schon sind beide bequem installiert.

»Ich freue mich«, sagt Gareis lächelnd, »einem Zeitungsmanne auch einmal etwas Neues erzählen zu können. Herr Oberbürgermeister Niederdahl wird jetzt zurückkehren.«

»Jetzt«, wiederholt der Zeitungskönig. »Als er abreiste, sprach man, irre ich nicht, von einer Silberhochzeit.«

»Silberhochzeit ist manchmal das Abwarten, wo die stärkeren Armeen stehen.«

»Zu denen man sich dann schlägt.«

Der Bürgermeister bestätigt: »Zu denen man sich dann schlägt.«

Ein Anfang ist gemacht, ein günstiger Anfang. Die beiden Herren haben sich in ihren Antipathien getroffen, was meistens wichtiger ist, als daß die Sympathien übereinstimmen.

Gareis nimmt den Faden wieder auf: »Mittlerweile ist noch gar nicht ausgemacht, wo die stärkeren Armeen stehen. Ich fürchte, die Versöhnungssitzung heute beim Präsidenten wird ein Mißerfolg sein.«

»Ich habe bessere Hoffnung.«

»Warten wir ab. Vielleicht kommt in wenigen Minuten der Bescheid.« Und er deutet auf das Telefon.

»Sie, Herr Bürgermeister, nehmen an der Sitzung nicht teil?«

»Nein, ich bin hier.« Und um abzuschwächen: »Ich war nicht persönlich geladen.«

Aber Gebhardt ist geärgert: »Immerhin ist Frerksen endlich seines Amtes enthoben.«

»Irrtum«, sagt Gareis. »Irrtum. Er ist vorläufig von der Polizeiexekutive entbunden, was etwas wesentlich anderes ist.«

»Auch sein Urlaub ähnelt ein wenig dem Niederdahls.«

»Doppelter Irrtum. Ich habe ihn einfach fortgeschickt, damit er erst einmal den Leuten aus den Augen kommt.«

»Nun also!«

»Das ist weder Schwäche noch Geständnis. Aber, mein sehr verehrter Herr Gebhardt, es wird mir zuviel geredet. Was ist der 26. Juli? Was ist ein Boykott? Gar nichts. Luft, wenn nicht davon geredet wird. Groß geredet ist das alles. Nicht draußen in der Provinz, nicht von den Bauern, groß geredet ist es hier in der Stadt, auch von Ihnen, grade von Ihnen. Ein Vorschlag: machen wir Schluß mit dem ganzen Gerede über den 26. Juli. Ich werde die Volkszeitung instruieren, daß sie nichts mehr bringt. Gar nichts mehr. Versprechen Sie mir dasselbe für Chronik und Nachrichten.«

»Die Lage ist so unübersichtlich.«

Pause.

Der Bürgermeister beginnt neu: »Sie besorgen die Geschäfte des Oberbürgermeisters, kämpfen gegen mich. Seien wir doch offen, Sie wollen den Ober nicht, wie ich ihn nicht will. Sie bekommen ihn nur fort, wenn Sie mich stärken. Jetzt schwächen Sie mich. Was ist all das Gerede über den 26. Juli? Kritik an mir.«

»An Ihnen! Lieber Herr Gareis, wer spricht gegen Sie! Gegen Frerksen ja, aber gegen Sie ...«

»Sie irren auch darin. Frerksen ist ganz unerheblich. Um mich geht es. Weiter auf diesem Wege und eines Tages werden Sie rufen: fort mit Gareis!«

»Unmöglich.«

»Vielleicht erinnere ich Sie dann an diese Stunde. – Aber was läßt Sie denn den Kampf fortsetzen? Nur die Freude, den Lesern Sensationen zu geben? Es gibt so andere, so naheliegende. Enthüllungen ...«

»Beispielsweise?«

Der Bürgermeister sagt langsam: »Es ließe sich darüber reden. Es gibt einwandfreies Material. Ich sage nur ... nein, ich sage noch nichts. Ich möchte gerne Ihre Zusage, daß vorläufig abgeblasen wird. Alles spricht dafür.«

Gebhardt weicht aus: »Lieber Herr Gareis, was kann alles geschehen. Ich kann mich doch nicht festlegen.«

»Nein. Sie wollen es nicht. Schade.«

Der Bürgermeister denkt nach.

Das Telefon klingelt. Gareis hebt ab, meldet sich, hört lange, dankt und legt wieder auf.

»Eine zweite Neuigkeit für Sie«, wendet er sich an Gebhardt. »Die Versöhnungssitzung beim Präsidenten ist aufgeflogen. Die Bauernschaft hat den Präsidenten gröblich beleidigt. Die Vertreter der Landwirtschaft verließen unter Protest das Lokal.«

»Dies ist ... Das hatte ich nicht erwartet. So sind vorläufig alle Beziehungen abgebrochen.« Gebhardt erhebt sich hastig. »Ich will sofort sehen, Näheres zu erfahren. Wir hatten einen Herrn dort. Vielleicht kann es Stuff noch bringen. Wir in den Nachrichten jedenfalls. Das wird einschlagen.«

Er steht schon, abmarschbereit.

Der Bürgermeister steht auch. Er ist ganz groß. Er ist unglaublich massiv. Er denkt nicht mehr an Schonung.

»Es wird nicht einschlagen. Denn Sie werden nichts darüber bringen. Nein, sage ich.«

»Wer sollte mich hindern?«

»Ich beispielsweise. Nur ich, Herr Gebhardt, der rote Bürgermeister. Der Bonze. Ich will Ruhe, und kriege sie.«

Gebhardt sagt kühl: »Hier brechen wir lieber ab. Brutalisieren mag in Ihrer Partei Mode sein, mir gegenüber ...«

»Brutalisieren ist überall da gut, wo die einfachste Vernunft versagt. Verstehen Sie doch, Herr Gebhardt, fahren Sie nicht wie eine Ente auf den Köder jeder Sensation los. Das macht Stuff. Aber Sie ...«

»Auch ich. Wie kann ich solche Nachricht meiner Leserschaft unterschlagen? Meine Pflichten ...«

»Quatsch!« sagt der Bürgermeister. »Wollen Sie Burgfrieden geloben, nun, sagen wir, bis zur Gerichtsverhandlung?«

»Ich denke gar nicht daran. Guten Morgen.«

»Einen Augenblick. Ich kann Sie noch nicht entlassen. Ich muß Sie leider polizeilich vernehmen. Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor.«

»Eine Anzeige –?«

»Eine Strafanzeige. Richtig.«

Gebhardt überlegt: »Wenn mein Chauffeur etwas verbockt hat, schmeiße ich ihn raus.«

»Nicht Ihr Chauffeur. Aber nehmen wir doch wieder Platz. – Es ist eine Anzeige wegen Betruges.«

»Lächerlich!« Aber Gebhardt setzt sich. »Sie spielen ein gefährliches Spiel, Herr Gareis. Das kann Ihnen mehr als Ihre Bürgermeisterstellung kosten.«

»Richtig. Aber ich kenne meine Karten.« Er holt einen schmalen Aktenband aus dem Schreibtisch.

»Vor etwa zwei Wochen war der Textilhändler Hempel auf der Chronik, um wegen einer Beilage zu der Zeitung nachzufragen. Herr Hempel sprach mit Ihrem Geschäftsführer Wenk. Er wollte wissen, wie hoch die Auflage der Chronik sei, um über Druckauftrag und Wirkung seiner Beilage klar zu sein. Man nannte ihm die Zahl siebentausendeinhundertundsechzig.

Hempel bezweifelte diese Zahl. Er hatte von der stets sinkenden Auflage der Chronik gehört. Wo er auch bei Bekannten und Kunden vorfragte, er hörte, man las die Chronik nicht mehr.«

»Ein Wunder, daß er auf das Geschäft nicht verzichtete.«

»Sie finden das auch?« Der Bürgermeister lächelt. »Es gibt so Sonderlinge. Sie geben ihr Geld rein ohne Sinn und Verstand aus.«

»Eine Zwischenfrage, Herr Bürgermeister. Herr Hempel ist ja wohl eine Zierde des Reichsbanners?«

»Eine Zierde. Jawohl. Trotzdem das Fragerecht eigentlich mir zusteht. – Nun, Herr Hempel, bezweifelt, drängt, schließlich holt Wenk aus dem Geldschrank eine notarielle Bescheinigung, die die Ziffer siebentausendeinhundertundsechzig bestätigt. Hempel denkt: ein Notar, nun, dann ist alles in Butter. Er erteilt den Auftrag. Der Auftrag wird angenommen und ausgeführt. Faktur erteilt. Faktur bezahlt. Da hört Herr Hempel, daß die Chronik etwa dreitausendneunhundert Auflage hat ...«

»Lächerlich.«

»Nicht wahr? Wer gibt bei solcher Auflage denn Inseraten- oder Beilagenaufträge? – Hört also, daß die Auflage nur dreitausendneunhundert beträgt und daß man dreitausenddreihundert seiner gelieferten Prospekte zum Anheizen des Bleiofens benutzt hat. Herr Hempel fühlt sich geschädigt und erstattet Betrugsanzeige.«

Pause.

Dann lächelt Herr Gebhardt: »Lieber Herr Bürgermeister, ich wundere mich. Offengestanden, ich wundere mich sehr. Ich könnte jetzt wirklich auf die Nachricht von der aufgeflogenen Versammlung verzichten, ich habe eine sehr nette große Nachricht für die erste Seite.

Aber ich will doch auch einmal fragen: warum vernehmen Sie nicht den Geschäftsführer der Chronik? Und zweitens: Sie wissen doch, daß ich den Betrieb erst vor wenigen Wochen übernommen habe und Gründe besaß, mich nicht sehr um ihn zu kümmern. Wie können Sie voraussetzen, daß ich diese notarielle Bescheinigung überhaupt kenne? Und drittens: wenn diese Bescheinigung tatsächlich existieren sollte, woher nehmen Sie den Zweifel an ihrer Richtigkeit? Dreitausenddreihundert Prospekte unterm Bleiofen verbrannt! Ich glaube nicht, daß Ihr Gewährsmann sie nachgezählt hat. Vor Gericht wird sich herausstellen, daß es zweihundert waren.«

»Hübsch«, nickt Gareis. »Sehr hübsch. Aber Sie unterschätzen mich, Herr Gebhardt. Haben Sie einmal Aalstecher gesehen? Aale lassen sich schlecht greifen. Aale sticht man mit der Gabel!«

Gareis steht mit einem Ruck auf: »Man sticht, Herr Gebhardt, mit einer Gabel. Ich habe noch nicht alles erzählt und Sie haben ein sehr schlechtes Gedächtnis oder sehr viel Vertrauen in die Vergeßlichkeit Ihrer Mitmenschen. Ich muß noch einmal anfangen:

Als Herr Hempel von Ihrem Geschäftsführer Wenk nach Haus ging, da fiel ihm ein, daß er wohl eine notarielle Bescheinigung gesehen hatte, aber daß diese Bescheinigung kein Datum trug. Oder genauer gesagt, sie trug vielleicht eins, aber darüber hatte ein Daumen gesessen. Die Bescheinigung konnte uralt sein.

Herr Hempel ist ein komischer Mann. Er konnte ja nun zu Wenk gehen und sagen: ich habe das Datum nicht gesehen, zeig mir das mal! Und er konnte dann seinen Auftrag annullieren, wenn das Datum ihm etwas altbacken schien. Herr Hempel tat etwas anderes: er beschloß, seinen Auftrag zu vergrößern. Herr Hempel ging nicht zur Chronik. Herr Hempel ging zu den Nachrichten.

Dort traf er Ihren Geschäftsführer Trautmann. Er sagte ihm dasselbe, was er Wenk gesagt hatte, er fragte nach der Auflage der Nachrichten. Er hörte die Zahl Fünfzehntausend. Und wenn für beide Zeitungen –? Wieso für beide? Hier gab es nur eine! – Aber Herr Hempel zeigte sich orientiert, schließlich gab Herr Trautmann nach: nun gut, für beide Zeitungen dreiundzwanzigtausend.

Schön. Jetzt fingen sie an zu handeln. Hempel wollte einen Rabatt, wenn er in beiden Zeitungen beilegte, Trautmann war zäh, nichts von Rabatt, Sie hätten das verboten. Schließlich will Trautmann Sie noch mal fragen, Hempel geht nach.

Vielleicht erinnern Sie sich jetzt, Herr Gebhardt, daß dieser Mann mit Ihrem Prokuristen bei Ihnen war. Herr Hempel hat eidesstattlich erklärt, daß er Sie gefragt hat: ›Also für die Nachrichten fünfzehntausend?‹ – ›Ja‹, haben Sie gesagt. – ›Und für die Chronik siebentausendeinhundertundsechzig?‹ – ›Ja‹, haben Sie gesagt. – ›Reichen nicht zweiundzwanzigtausend?‹ hat Herr Hempel vorsichtshalber gefragt. – Sie, Herr Gebhardt, haben geantwortet: ›Nein, rund dreiundzwanzigtausend.‹

Das ist die eidesstattliche Aussage von Herrn Hempel. Und das ist das, Herr Gebhardt, was ich eine Aalgabel nenne.«

»Das ist eine gestellte Sache! Das ist eine Gemeinheit!« schreit Gebhardt wütend.

»Sicher ist das gemein«, sagt der Bürgermeister zufrieden. »Verdammt gemein für Sie.«

Pause.

Gebhardt kaut an seinen Lippen und starrt vor sich hin.

Ein Rascheln stört ihn in seinem Nachdenken. Herr Bürgermeister Gareis hält den schmalen Aktenband in der Schwebe über dem Papierkorb.

Er flötet dabei leise und verloren vor sich hin. Seine Flöte hat Schmalz, dieser dicke Kerl ist die verkörperte Bonhomie.

Hastig denkt Gebhardt: »Ich könnte so bequem von meinen Zinsen leben. Mit was für Leuten man sich alles einlassen muß.«

Der Akt liegt wieder auf dem Schreibtisch.

Gebhardt sagt hastig: »Ja. In Gottes Namen denn. Ja.«

»Lieber in Ihrem Namen.«

»Also gut denn. Ja.«

»Bis zur Verhandlung?«

»Bis zur Verhandlung. – Aber ich bekomme auch das versprochene Material?«

»Lieber Herr Gebhardt, das war für den Fall, daß Sie sich freiwillig entschlossen. Jetzt muß ich erst einmal die Entwicklung abwarten. Alles ist so unübersichtlich, mein lieber Herr Gebhardt. Aber nun bitte auch keine Eingesandt. Keine Offenen Briefe im Inseratenteil. Nichts.«

»Nichts.«

»Ich wüte gegen mich selbst!« sagt der Bürgermeister. »Bedenken Sie das auch. Diese Nachricht über den Reinfall von Temborius war meine Nachricht.«

»Sie werden ja wissen, warum. – Ich würde gerne diesen Akt mitnehmen, Herr Gareis.«

Gareis lacht herzlich: »Das glaube ich gerne. Was wäre das für eine Waffe gegen mich. – Aber ich will Ihnen etwas anderes schenken. Hier.«

Es ist ein Schriftstück, genauer eine Abschrift. Die Abschrift eben jener notariellen Bescheinigung.

»Das ist stark«, murmelt Gebhardt. »Wo das Dings immer im Geldschrank sein soll. Da muß doch ...«

»Richtig. Richtig. Darum schenke ich es Ihnen.«

»Nun sagen Sie mir auch den Namen.«

»Das möchten Sie. Drei sind zur Auswahl: Stuff, Wenk, Tredup.«

»Und Sie nennen den Namen nicht?«

»Lieber nicht. Sie werden es schon ausknobeln.«

Die Herren verabschieden sich.

Dann klingelt es auf der Chronik.

»Herr Tredup soll sofort zu Herrn Gebhardt kommen.«

Tredup hat ein schlechtes Gewissen, er brütet noch, was los ist.

Da klingelt wieder das Telefon.

»Herr Tredup möchte sofort zu Herrn Bürgermeister Gareis kommen. Aber sofort.«

Tredup glotzt.

4

Eine einfache Überlegung hat Tredup darüber belehrt, daß es richtiger ist, diesmal den Chef warten zu lassen und erst einmal zum Bürgermeister zu gehen. Handelt es sich um was er denkt, wird ihm Gareis wenigstens sagen können, was Gebhardt weiß.

Aber Gareis ist nur sehr kurz angebunden. »Sie sind doch schreibgewandt, Tredup?«

Und als Tredup ohne Verständnis blickt: »Ich meine, Sie können schreiben: und hat Herr Meier wieder mal seinen geschulten Baß-Bariton unter Beweis gestellt –? Oder: Herr Schulze, der Seelenforscher und Handschriftenpsychologe, ist bereits zum Stadtgespräch geworden und dürfte bestimmt niemand vergessen, diese seltene Gelegenheit wahrzunehmen, ihn zu besuchen –? – Können Sie so was schreiben?«

»Ja, ich denke.«

»Nun, dann ist Ihre Stunde und Ihre Stellung da. Herr Gebhardt wird Sie kommen lassen.«

»Er hat mich schon bestellt.«

»Und Sie sind noch hier? Sagen Sie zu allem, was er sagt: Stuff! Gradeheraus, hintenrum, gleichviel: alles Stuff. Und Sie sind ein gemachter Mann.«

Tredup bleibt zögernd: »Aber ich verstehe nicht ...«

»Gott, warum wollen Sie denn verstehen? Haben Sie verstanden, was Sie taten, als Sie die Bilder verkauften? Nun, Herr Gebhardt besitzt die Abschrift der notariellen Bescheinigung ...«

»Aber wie –?«

»Ja, nicht wahr, erzählen, berichten, kakeln? Das paßt euch so. Laufen Sie, sage ich. Stuff! Immer Stuff. Ewig Stuff.«

Aber Tredup läuft gar nicht. Eine ganze Weile bleibt er auf der Brücke über die Blosse stehen und sieht in das langsam ziehende Wasser. Er denkt tausenderlei, Belanglosigkeiten, Variationen über das Thema: Warum tue ich das?

Mal wieder möchte er gerne in den Wald auf den Dünen fahren, sein Geld holen, verschwinden, aber mal wieder ist es noch nicht soweit ...

Und er schleicht dem Nachrichtengebäude zu.

Dort ist er erwartet und der Prokurist Trautmann weiß auch, um was es sich handelt. Giftig blickt er: »Der Herr läßt warten. Hat es nötig. Na, der Chef ist schön böse.«

Er geleitet Tredup wie einen Gefangenen in das Chefbüro. Im Gang taucht der Kopf des Hauptschriftleiters Heinsius auf.

»Oller neugieriger Bock«, knurrt Trautmann.

Aber der Chef sagt: »Ich danke Ihnen, Herr Trautmann. Ich bitte Sie, lassen Sie uns jetzt allein.«

Trautmann protestiert: »Herr Gebhardt, darf ich nicht –?«

»Nein, bitte, Herr Trautmann, lassen Sie mich diesmal allein.«

Trautmann knurrt: »Er legt Sie ja doch rein«, und verschwindet. Aber Tredup hat das bestimmte Gefühl, daß er sofort auf der andern Seite der Tür lauschend stehengeblieben ist, und der Chef sieht aus, als hätte auch er dies Gefühl.

Um so entschiedener setzt er ein: »Herr Tredup, ich habe Sie damals auf die Fürsprache von Herrn Stuff engagiert, ich kannte Sie eigentlich nicht. Referenzen lagen nicht vor. Nun, Ihre Arbeitsleistung ist mäßig. Das Inseratengeschäft geht schlecht bei der Chronik. Das mag an der Zeiten Ungunst liegen, es wird aber wohl an Ihnen liegen. Denn die Nachrichten haben viel mehr Inserate.«

»Die Nachrichten haben fünfzehntausend Auflage.«

»Und die Chronik?«

»Hat etwa siebentausend Leser

Der Chef stutzt, möchte lächeln und denkt wohl an den Lauscher jenseits der Tür.

»Darauf fallen Ihnen nur Flachköpfe rein. Leser und Abonnenten. Ohne zu lügen, dürften Sie behaupten, daß die Chronik vierzehntausend Leser hat.«

»Würde ich das behaupten, würden auch nicht die Flachköpfe darauf reinfallen.«

»Na ja. Was tun Sie nun, wenn einer sagt: Leser! Ich will wissen, wieviel Abonnenten. Was tun Sie da?«

»Ich verweise auf eine notarielle Bescheinigung.«

»Und wenn man nicht daran glaubt?«

»Weise ich sie vor.«

»Geben Sie sie aus der Hand?«

»Nie.«

»Sie sind sicher?«

»Vollkommen sicher.«

»Trotzdem muß sie in dritte Hände gekommen sein. Heute gab man mir diese Abschrift, die in der Stadt zirkuliert. Eine vollständige Abschrift, sehen Sie, mit Datum.«

Aber Tredup sieht nicht hin. Sehr gleichgültig sagt er: »Ich weiß ...«

»Sie wissen? So, Sie wissen? Woher wissen Sie denn? Seit wann wissen Sie?« Der kleine große Mann ist sehr aufgeregt, richtig böse ist er. Er wagt es wahrhaftig und sieht seinem Angestellten grade und empört ins Gesicht.

Der sagt: »Ich dachte, auch Sie wüßten das ...«

»Sie dachten ... Bitte, was sollte ich wissen –? Reden Sie gefälligst!«

Tredup sagt langsam und unwillig: »Ich dachte, Sie wüßten, daß eine vorbereitende Versammlung stattgefunden hat ...«

»Was für eine! Gott, Mensch, können Sie denn den Mund nicht aufmachen? Eine Art haben meine Herren alle, mich auf die Folter zu spannen, das muß allgemeine Verabredung sein. Erzählen Sie gefälligst fortlaufend.«

Tredup sagt: »Es soll ein neues Rechtsblatt gegründet werden. Die Geschäftswelt ärgert sich über Ihre Monopolstellung für Inserate und die zweimalige Tariferhöhung. Außerdem finden die politischen Verbände, die Chronik ist unzuverlässig geworden. Darum soll eine neue Zeitung aufgemacht werden.«

Der Chef ungeduldig: »Was nöhlen Sie bloß. Das sind olle Kamellen! Das weiß ich alles. Weiter!«

Tredup bockig: »Da hat eben eine Versammlung, eine Besprechung stattgefunden.«

»Na ja – und? Wer war zur Besprechung?«

»Namen nenne ich nicht«, sagt Tredup entschieden.

»Was heißt das, Sie nennen keine Namen? Sie werden Ihrem Brotherrn doch Auskunft geben!«

»Namen nenne ich nicht.«

»Herrgott, alles erzählen Sie und Namen nennen Sie nicht! Was hat das alles überhaupt mit der Bescheinigung zu tun?«

Tredup lächelt listig: »An der Besprechung haben doch sechs Herren teilgenommen.« Er wartet, und als Herr Gebhardt genügend ungeduldig geworden ist: »Der sechste hat fünf Abschriften verteilt.«

»Sechs –? Fünf –? Ach, so, der sechste hat fünf verteilt. Na ja ... Wieso ist denn Herr Stuff so warm dafür eingetreten, daß ich Sie engagiere?«

Ein Spalt in der Tür tut sich auf und der Fuchskopf von Trautmann erscheint. »Fragen Sie ihn lieber, wo er die ganze Zeit gewesen ist. Er sollte doch gleich kommen.«

Der Chef errötet heftig, ruft: »Ich bitte doch sehr, Herr Trautmann ...«

Aber die Tür ist wieder zu.

Herr Gebhardt schluckt, dann sagt er: »Wo waren Sie also die ganze Zeit, Herr Tredup? Seit unserm Anrufe vergingen drei Viertelstunden und der Weg dauert nur fünf Minuten.«

»Ich dachte nicht, daß es so eilig wäre. Ich war noch mal beim Meisel vor wegen eines Inserates.«

Die Tür geht auf: »Ich rufe gleich den Meisel an.«

Die Tür geht zu.

Diese Eingriffe in seine Herrlichkeit machen den Chef sanfter gegen den Schuldigen: »Warum wollen Sie die Namen nicht nennen, Herr Tredup? Sie haben doch soviel gesagt.«

Tredup klopft das Herz. Gleich wird der Fuchs wiederkommen. Wird Meisel verquatscht haben, daß er schon am frühen Morgen den Besuch des Tredup hatte, nicht erst eben?

Er sagt: »Ich täte es gerne für Sie, Herr Gebhardt.« Und seine Stimme hat einen beteuernden Klang. »Aber ich weiß ja die Namen auch nicht bestimmt. Mir sagt man auch nicht alles. Und nachher wird eine große Sache daraus und ich falle rein und bin meine Stellung los.«

»Nun, nun«, begütigt der Chef, von soviel Bereitwilligkeit gerührt. »Da hätte ich ja auch ein Wort mitzusprechen. War es denn eine ernsthafte Besprechung? Nicht nur so Luftpläne?«

»Ein Bankdirektor war dabei«, erklärt Tredup.

»Das kann nur – Na ja, verzichten wir auf Namen. Und weiter?«

»Ein Buchdruckereibesitzer.«

»Sieh, sieh, beißt den kleinen Krauter der Ehrgeiz? Der soll mal sehen, wie schnell man bei einer Zeitung sein Geld los wird. Und –?«

»Zwei Geschäftsleute, Ladenbesitzer.«

»Und –?«

»Ein Grossist.«

»Da gibt es ja nur einen. Und –?«

»Ich möchte wirklich nicht ...«

»Na, sagen Sie schon. Wenn Sie fünf gesagt haben, werden Sie auch sechs sagen.«

Tredup gibt sich einen Ruck. Aber es wird ihm schwer. Nicht so sehr die Lüge, nein, es scheint ihm so plump. Der muß doch jetzt merken, warum er den ganzen Salat erzählt hat.

Er sagt leise: »Der sechste war ein Redakteur.«

»Das habe ich lange gewußt«, antwortet der Chef stolz.

Und durch die Tür fährt der Kopf von Trautmann: »Er ist wirklich beim Meisel gewesen.«

»Kommen Sie nur rein, Herr Trautmann«, sagt der Chef zufrieden. »Man hört hier schöne Dinge. Na, ich erzähle Ihnen nachher. Jedenfalls ist Herr Tredup makellos.«

Trautmann schielt zweiflerisch.

»Sagen Sie mal, lieber Trautmann«, fragt der Chef, »können wir nicht irgendwie aus dem Vertrage mit Stuff?«

»Na also! Na, nun wirklich! Wer hat's gesagt, Herr Gebhardt? Wer hat immer gesagt, warum muß mit dem Stuff ein Vertrag gemacht werden? Der denkt doch nie im Leben daran. Nein, da mußte ... Raus? Denkt nicht daran. Der Vertrag ist gut.«

»Wir müssen ihn loswerden. Jemand, der mit dem Feinde paktiert, muß raus aus meinem Betriebe.«

»Zeitungsleute sind immer so«, sagt Trautmann weise. »Der da«, und er weist mit dem Finger gegen die Tür, »der da ist auch nicht anders.«

Die Tür fliegt auf, der verzottelte Kopf von Heinsius erscheint. »Ich verbitte mir das, mich hier anzuschwärzen beim Chef, Herr Trautmann!«

Die Tür geht wieder zu und der Prokurist sagt befriedigt: »Na also: der Horcher an der Wand ...«

Der Chef blickt gallig: »Das muß geändert werden. Dieses Horchen ...«

Trautmann tröstet: »Das tun alle Zeitungsleute. Das ist nicht anders. Das ist ihr Beruf.«

Und der Chef: »Aber Sie selbst lauschen auch, Herr Trautmann!«

Der protestiert: »Ich? Nie! Ich informiere mich nur manchmal im Interesse der Firma, wenn Sie vergessen, mich reinzurufen.« Und mitleidig: »Sonst werden doch zuviel Böcke gemacht!«

»Ich verbitte mir, Herr Trautmann!«

Eine jener giftigen Szenen zwischen Chef und Prokuristen will ihren Anfang nehmen, bei denen Trautmann stets wegen seiner dickeren Nerven der Gewinner ist.

Tredup sagt dazwischen: »Ich wüßte einen Weg, wie Sie Stuff loswerden.«

Beide fahren herum. Sie haben den im Winkel ganz vergessen.

»Ohne Skandal?«

»Ohne Skandal.«

»Ohne Geldabfindung?«

»Ohne alles.«

»Und wie –?«

»Ich werde das allein machen. Ich weiß was von ihm.«

»Und ich habe nichts damit zu tun?« fragt der Chef ängstlich. »Um Gottes willen keinen Skandal!«

»Ich mache alles allein.«

»Und was wollen Sie dafür?« fragt Trautmann. »Umsonst machen Sie das doch auch nicht.«

»Ja. Geld könnte ich nicht ausgeben. Die Chronik ist schon so zu sehr belastet.«

»Kein Geld.« Dann zögert Tredup, und langsam: »Ich möchte den Posten von Stuff.«

Der Chef ruft: »Aber das ist doch ganz ausgeschlossen!«

Und Trautmann: »Aber wieso denn? Der Mann ist doch brauchbar.«

»Meinen Sie?« fragt der. »Na ja, es ließe sich ja überlegen.«

»Ich muß eine feste Zusage haben«, erklärt Tredup.

»Die können wir Ihnen geben«, verkündet Trautmann.

»Herr Gebhardt ist einverstanden?«

»Es ist so, wie Herr Trautmann sagt«, bestätigt der Chef.

Ganz befriedigt ist Tredup nicht. »Es ist doch sicher?« fragt er zögernd.

»Ganz sicher«, sagt Trautmann.

»Ich verlasse mich darauf«, sagt Tredup.

»Das dürfen Sie.«

»Es wird mit Stuff aber ein paar Wochen dauern.«

»Das ist Ihre Sache.«

»Und er darf natürlich nicht erfahren, daß Sie Verdacht haben.«

»Der erfährt nichts.«

Der Chef sitzt wieder am Schreibtisch, befaßt sich mit Zahlen, Statistik.

»Also, denn Adieu«, sagt Tredup. »Und vielen Dank.«

»Adieu«, sagen die beiden.

»Sicher«, denkt draußen Tredup, »wollen die mich anscheißen. Aber ich weiß zuviel. Schon die Auflagengeschichte. – Nun, denn los auf Stuff. – Und vielleicht mache ich doch gar nichts.«

5

Banz ist so weit, daß er aufstehen, an einem Stock aus dem Zimmer, über den Hof, auf ein Feldstück gehen kann, dorthin, wo Frau und Kinder arbeiten.

Er schickt die Frau am liebsten mit auf das Feld, daß doch eine Aufsicht da ist. Er selbst macht die Hausarbeit, das bißchen notdürftige Ausfegen, das Kartoffelschälen, das Kochen. Er macht es mit langen Pausen, in denen er sich schwindlig an eine Wand lehnt. Dann wird es ihm rot vor den Augen, alles dreht sich.

Nach einer Weile ist es vorbei. Und er tatert weiter, langsam, zu der Arbeit, zum Feldstück hinaus. »Zum Altenteil wäre ich gut«, höhnt er sich selbst. »Mit fünfundvierzig ein Greiser. Na, wartet nur, ihr in Altholm, wenn ich erst zu einem Rechtsanwalt kann.«

Denn mittlerweile sind Padberg und Bandekow bei ihm gewesen. Banz ist nicht in Verdacht. Niemand weiß, daß er jemanden niedergeschlagen hat, und er hütet sich, selbst den beiden davon zu sprechen. Er wird die Stadt Altholm verklagen, sie wird Schmerzensgeld zahlen müssen, eine Rente. Man hat ihn niedergeschlagen von hinten, als er die Stufen zu einer Gastwirtschaft hinaufstieg, ein Glas Bier zu trinken. Das können die Wirtsleute bezeugen, die ihn auf den Stufen bewußtlos fanden.

Banz humpelt an seinem Stock weiter. Die Kinder sind beim Hafermähen, er muß sehen, wie weit sie sind.

Natürlich erkennt er schon von weitem, daß sie nicht halb das geschafft haben, wie wenn er vormäht. Was die schon für einen Schwad nehmen, so schmal, die reinste Kinderei, und dabei steht der Hafer doch dünn genug. Und dann ewig machen sie Pausen, wetzen die Sensen, rein für nichts.

Schon dreihundert Meter ab überkommt ihn ein Wutanfall, einer jener Wutanfälle, die ihn jetzt so häufig schütteln. Er fängt an zu schreien, zu brüllen, droht mit dem Stock.

Dann kommt der Schwindel, und er kann nicht schnell genug auf die Erde, fällt halb hin. Und da liegt er nun, döst vor sich hin, das Hirn will nicht recht. Die drüben sind das schon gewöhnt, die kommen nicht her und helfen ihm. Mag der Vater nur liegen. Und der Vater wird wirklich erst richtig wütend, wenn sie ihm helfen wollen. Soll sich selber helfen, das Pack, das verdammte.

Er kommt langsam hoch. Es ist schwer hier, wo er nichts hat, woran sich anhalten. Aber mit dem Stock schafft er es schließlich.

Dann geht er weiter, vor sich hin schimpfend, immer die Augen auf diesen miserablen Mähern.

Eine Weile steht er bei ihnen, sieht zu ohne ein Wort, geht nebenher, direkt neben den Sensen. Die mähen wie der Deubel, langen möglichst weit aus, nach seiner Seite hin. Mag er doch aufpassen, der Alte, steht hier rum, tut nichts, frißt nur, schimpft, und tut schon wieder den ganzen Tag nichts.

Der Alte steht jetzt neben Franz, hält mit ihm Schritt. »Was ist das mit deiner Sense?« fragt er. »Die sitzt ja nicht richtig. Du mußt den Keil festschlagen.«

Der Junge brummelt was und mäht weiter.

»Zeig her die Sense!« befiehlt der Bauer.

Der Junge murrt: »Ich kann doch jetzt nicht aus der Reihe.«

»Die Sense her!«

Alle halten und Franz tritt aus.

»Ihr mäht weiter«, sagt der Bauer. »Jeder rückt einen vor! – Und ihr Weiber habt auch nichts zu stehen und zu glotzen!« Plötzlich wütend schreit er: »Gemäht wird nichts und doch liegt die Hälfte noch ungebunden! Ran mit euch! Es gibt nicht eher Feierabend, bis alles aufgebunden ist.«

Die Mutter und die Töchter arbeiten wortlos weiter.

Der Bauer befingert die Schneide der Sense. »Die ist doch nicht gedengelt. Hast du gestern abend gedengelt?«

Der Franz glotzt böse.

»Ob du gedengelt hast? Mach's Maul auf.«

»Ja«, sagt der Junge.

»Nein. Du hast nicht gedengelt. Du lügst. Wie siehst du aus um die Augen? Wo bist du letzte Nacht gewesen? Wo gehst du bocken hin?«

Der Junge schweigt, die Mädchen kichern, die Burschen grinsen.

»Wo du hingehst in der Nacht, frage ich!«

»Gar nicht gehe ich hin.«

»Wann hast du die Sense zum letztenmal gedengelt? Dienstag?«

»Gestern.«

»Du lügst, du Verdammter. Hurenbock du! Wo gehst du hin? – Die Nächte rummachen mit den Weibern und am Tage rumhangeln wie ein Hampelmann – füttere ich dich darum?«

Der Junge glotzt bösartig.

»Wo hast du das Geld her? Du gibst den Weibern doch Geld! Sonst nimmt dich doch keine, so wie du aussiehst, du Zwerg, du! Wo hast du das Geld her?«

»Wo soll ich es herhaben? Haben wir denn welches?«

»Warte«, sagt der Bauer. »Dir kommen wir schon auf deine Schliche. Hier, nimm die Sense. Geh zum Hasenfleck und mäh dort. Hier brauchen sie solche wie dich nicht. – Und daß du den ganzen Hasenfleck heute noch abmähst! Daß nicht ein Hälmchen steht, wenn du Feierabend hast!«

»Das kann man nicht.«

»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Abmähen! Abmähen! Alles ratze abmähen!« schreit der Bauer wütend und schlägt mit dem Stock auf die Erde. »Gehst du? Dir wollen wir zeigen, ob du nachts zu Weibern kannst! Alles Schmalz in den Betten lassen, was, wo wir's hier brauchen. Marsch. Los. Pack dich.«

»Geh schon, Franz«, sagt die Mutter.

»Ich kann doch nicht allein«, sagt der Junge zögernd. Der Alte liegt auf der Erde und ist nicht bei sich. »Gib mir die Minna mit, daß sie den Schwad abrechen kann.«

»Geh mit, Minna«, sagt die Mutter.

Die beiden gehen gegen die Waldecke zu. Der Bauer, wieder wach geworden, starrt ihnen nach.

»Komm her, Frau.«

Die Frau kommt.

»Hock dich neben mich.«

Die Frau tut es.

»Ist das Geld noch alles da?« flüstert er.

Sie sagt: »Alles.«

»Du lügst«, sagt er böse. »Es fehlen fünfzehn Mark. Ich bin dagewesen, heute morgen.«

»Die habe ich genommen für die Apotheke«, sagt die Frau rasch.

»Du lügst«, sagt der Bauer. »Der Franz hat sie gestohlen.«

»Der Franz stiehlt nicht«, sagt die Frau.

»Doch tut er das. Wenn ich ihn beim Versteck erwische, schlage ich ihm den Schädel ein.«

»Der Franz stiehlt nicht«, beharrt die Frau.

»Alle lügt ihr, alle«, sagt der Bauer. »Aber ich komme schon wieder auf meine Beine. Dann sollt ihr was erleben. Und die in Altholm auch. Wartet nur.«

Er rappelt sich hoch und humpelt gegen den Hof zu.

6

Der ewige Kriminalassistent Perduzke hat Auftrag zur Vernehmung des Untersuchungsgefangenen Henning.

»Daß die es nicht aufgeben«, sagt er und rüstet zum Abmarsch.

»Nimmst du keine Akten mit?« fragt sein Kollege, der Kriminalsekretär Bering.

»Nein, das tue ich nicht. – Wo sind denn wieder die Zigaretten?«

»Da im Schrank müssen noch welche sein. – Glaubst du, der fällt darauf rein?«

»Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft«, sagt Perduzke, zwängt eine Hundert-Stück-Schachtel in seine Tasche und geht los.

Im Krankenhaus findet er wieder einmal den Posten, der Henning bewachen soll, statt vor der Tür im Zimmer des Gefangenen. Aber ausnahmsweise rügt der Bluthund Perduzke das nicht, sondern sagt nur: »Marsch, raus mit dir, Gruen. Ich bin hier dienstlich.«

»Bilde dir nur nichts ein«, sagt Gruen und sein blondes Spitzbärtchen wackelt böse. »Was das schon für Dienst in dieser Republik gibt.«

»Es ist hier«, sagt Henning freundlich lächelnd zu Gruen, »eine blonde Krankenschwester namens Elli auf der Station, die Ihnen gefallen würde und mir schon lästig fällt. Das Mädchen ist verdammt hübsch.«

»Weiber!« zischt Gruen verächtlich. »Weiber hat wer im Kopf! Das sind Helden! Ein Stück Weiberfleisch und alle Gedanken sind futsch.«

»Erzähl das man der Elli«, sagt Perduzke und schiebt den Gruen aus der Tür. »Wir können dich hier nicht mehr brauchen.«

Die beiden sind allein und Henning setzt sich in einen Stuhl am Fenster. Er sieht wieder völlig wohl und munter aus und von dem viel besprochenen Krüppel sieht man vorderhand nur, daß er einen Arm in der Binde trägt.

»Setzen Sie sich man, Perduzke. Also wollen Sie mich wieder vernehmen?«

»Will ich. Muß ich. Hier sind Zigaretten.« Und er stellt brummig seine hundert Stück auf den Tisch.

Henning beschaut die Marke. »Ausschuß. Darf nicht verkauft werden. – Sagen Sie mal, wieso kommt eigentlich die Kriminalpolizei in allen deutschen Städten ewig mit diesen Ausschußzigaretten angezuckelt?«

»Also mit der Kripo in andern deutschen Städten haben Sie doch auch schon zu tun gehabt? – Na, lassen Sie man, ich weiß von nichts, das Verhör hat ja noch nicht angefangen. – Wieso der Ausschuß? Na Gott, irgendwo müssen doch die Zigarettenfabriken mit ihrem Ausschuß bleiben. Da stiften sie ihn der Polizei, daß die was zum Ganoven-Ködern hat.«

»Danke«, sagt Henning. »Aber stecken Sie man die Dinger wieder ein. Ich hab den ganzen Schrank voll Zigaretten.«

Perduzke bringt sein kriminalistisches Notizbuch aus der Tasche. »Das Verhör beginnt, Herr Henning.«

Und Henning: »Erst einmal das Übliche: Ich verlange, vor einen Untersuchungsrichter geführt zu werden.«

»Ich verweise Sie auf den Weg der Eingabe. – Ich habe heute den Auftrag, Sie zu vernehmen ...«

Henning leiert: »Ich erhebe Einspruch dagegen, daß die Voruntersuchung von der Polizei geführt wird. Aussagen mache ich nur vor einem Richter. Der Polizei verweigere ich meine Aussage.«

»Erledigt«, sagt Perduzke. »Daß es Ihnen nicht langweilig wird, Herr Henning.«

»Unsere Pflicht darf uns nie langweilig werden, Perduzke«, belehrt ihn Henning.

»Ich schreite nun zur Vernehmung«, sagt Perduzke und schaut in sein Taschenbuch.

»Ich mache darauf aufmerksam, daß ich nicht aussagen werde«, sagt Henning.

»Ist«, fragt Perduzke und blinzelt über einen schwarzgefaßten Klemmer, »der Name Georg Henning Ihr wirklicher Name?«

»Gott«, sagt Henning erfreut, »das ist doch mal eine neue Walze, nicht dieser ewige 26. Juli. – Im übrigen verweigere ich die Aussage.«

»Haben Sie früher nicht die Namen Georg Hansen, Leutnant Parsenow, Oberleutnant Hingst geführt?«

»Siehmalsieh«, sagt Henning, dessen Stirn sich verdunkelt, »das ist das. – Ich verweigere meine Aussage.«

»Waren Sie nicht im Baltikum bei der Abteilung Hamburg?«

»Ich verweigere die Aussage.«

»Haben Sie nicht der Brigade Ehrhardt angehört?«

»Ich verweigere ...«

»Gehörten Sie nicht der Garde-Kavallerie-Schützen-Division an und waren Sie nicht beim Stabe im Edenhotel?«

»Ich verweigere ...«

»Haben Sie sich nicht an einem Attentat auf die Reichswehrkaserne in Gemünden beteiligt?«

»Ich verweigere die Aussage.«

»Woher nehmen Sie die Mittel zu Ihrer Lebenshaltung?«

»Ich verweigere ...«

»Wollen Sie mir Bauern nennen, an die Sie im letzten halben Jahre Landmaschinen verkauften?«

»Ich verweigere die Aussage.«

»Wo haben Sie sich zur Zeit der Anfertigung der Bauernschaftsfahne aufgehalten?«

»Ich verweigere ...«

»Wer hat Ihnen das Material zur Herstellung der Fahne geliefert?«

»Wer? – Was? – Woher? – Warum? – Wann –? Ich verweigere ... ich verweigere ... ich verweigere ...«

»So, das wäre für heute alles. Wollen Sie ein Protokoll unterschreiben des Inhalts, daß Sie Ihre Aussage verweigern?«

»Ich verweigere meine Unterschrift.«

»Wir sind durch, Herr Henning.«

»Na ja. Na ja. Die Vernehmung ist abgeschlossen?«

»Die Vernehmung ist alle.«

»Das war ja heute alles mögliche?«

»Das schon. Aber nur – Rückzugsgefecht.«

»Rückzugsgefecht?«

»Ich denke, ich komme nicht wieder.«

»Und wer kommt statt Ihrer?«

»Keiner.«

»Das heißt –?«

»Was Sie sich denken.«

»Aber das ist doch nicht möglich!«

»Heute ist alles möglich.«

»Wann denn etwa?«

»Zwei, drei Tage noch.«

»Und bestimmt?«

»Soweit ein kleines Tier wie ich das von unten sehen kann: bestimmt.«

»Also dann sage ich Ihnen Lebewohl.«

»Leben Sie wohl, Herr Henning.«

»Auf Wiedersehen.«

»Ja. Bei der Verhandlung.«

»Die gibt es also doch?«

»Natürlich gibt es die. Warum soll es die nicht geben?«

»Freilich. Warum auch nicht? – Aber es ist sicher, Perduzke? Sonst nämlich ... die Bewachung ist hier nicht übermäßig scharf.«

»Sie können sich darauf verlassen, Herr Henning. Guten Tag.«

»Guten Tag. Und schicken Sie mir den Gruen rein.«

»Was ist denn?« fragt Gruen mürrisch.

»Anfang nächster Woche lassen die mich laufen, teurer Wachthund«, sagt Henning.

»Aufschübe! Aufschübe! Aufschübe! Ich an Ihrer Stelle würde nicht warten.«

»Natürlich warte ich. Grade warte ich. So ein bißchen warten bei so was, daß das Fieber noch steigt, ist das Schönste bei dem ganzen Mist.«

Gruen sieht ihn mißbilligend an: »Ich glaube wahrhaftig, Sie geilen sich sogar daran auf, wenn eine Bombe platzt. Was es doch für Schweine gibt auf der Welt!«

»Machen Sie, daß Sie rauskommen aus meinem Zimmer, Sie Waldesel, Sie!« brüllt Henning wütend.

7

In der Expedition der Chronik erscheint ein Mann in graugrüner Uniform mit Zickenbart.

Fräulein Heinze fragt: »Sie wollen wohl die Freizeitungen für die Gefangenen?«

»Ich will den Redakteur sprechen.«

Die Heinze ist bedenklich: »Ich glaub nicht, daß der jetzt zu sprechen ist.«

»Reden Sie nicht. Fragen Sie ihn.«

Das Fräulein erhebt sich entrüstet, wirft noch einen Blick auf ihre Fingernägel und verschwindet.

Sie erscheint wieder: »Sie sollen reinkommen.«

Sie setzt sich. Gruen sucht einen Weg durch die Barre, findet die eingelassene Tür nicht und springt mit viel Krach über das Geländer.

Die Heinze ruft empört: »Das sind Manieren?« Aber Gruen ist schon in der Redaktion.

Stuff begrüßt ihn: »Na, was willst du denn, olles Gefängnis?«

»Ich muß dich was fragen, Stuff.«

»Denn frag schon. Unter dieser Fahne haben wir nicht gehungert, was?«

Gruen kneift die Augen zusammen, hebt einen drohenden und sehr mageren Finger: »Bist du auch im Komplott?«

Stuff lacht: »Spielen sie wieder mit dir? Knallen sie nach deinen blonden Locken, olles Haus? – Natürlich bin ich im [Kompott]. Richtig im Süßen sitz ich hier.«

Gruen schüttelt den Kopf: »Alle wollen Geschäfte machen. Alle. Auch der Henning stinkt jetzt. Seit er gehört hat, er wird frei, heißt es Aufschieben. Aufschieben. Ich lasse mich nicht dumm machen.«

Stuff wird aufmerksam: »Der Henning wird frei? Du spinnst ja!«

»Spinnen tun ganz andere. Ich bin wach. Damals am 26. Juli habe ich auch als erster gemerkt, was los war. Und hätten die Bauern das getan, was ich wollte, und das Gefängnis gestürmt und den Reimers rausgeholt ...«

Stuff sagt bekümmert: »Du bist wieder mal anständig verrückt, Gruen. Der Reimers war doch damals gar nicht mehr bei euch im Kittchen.«

Gruen sagt geheimnisvoll: »Der Reimers ist noch immer bei uns. Er wird nur verborgen.«

»Du spinnst. Der Reimers ist seit Wochen frei.«

»Der Reimers hat viele Gestalten und Verkleidungen.«

»Du solltest doch mal zu einem Arzt gehen. Ernsthaft: du solltest es tun, Gruen.«

»Quatsch nicht. Sag mir lieber, warum hast du nichts gebracht über die Sitzung beim Regierungspräsidenten? Die Bauernschaft war voll davon. Und in allen Zeitungen hier hat kein Wort darüber gestanden.«

»Hat mir nicht gepaßt«, brummt Stuff. »Muß mal kühler werden.«

»Kühler? Heißer muß es werden. Siehst du, du bist auch im Komplott.«

»Man kann manchmal nicht so, wie man will, oller Gruen. Du möchtest auch manchen rauslassen aus deinem Roten Hotel und kannst nicht.«

»Keinen. Das sind doch alles gemeine Verbrecher und bei den andern ist es Prüfung. – Willst du was bringen von der Sitzung?«

»Hör doch schon auf. Nein, ich will nicht.«

»Aber du mußt, Stuff. Du darfst die Sache nicht verraten.«

»Oller Schwede, sieh es ein, es geht nicht. Die oben, die Bonzen und die dicken Speckjäger, haben die Köpfe zusammengesteckt, und da müssen wir Kleinen parieren.«

»Warum mußt du parieren?«

»Weil ich sonst rausfliege. Und wer nach mir kommt, macht es noch schlimmer.«

»Wer nach dir kommt, ist deine Sorge nicht. Du mußt was bringen.«

»Das versteh ich nun besser, Gruen. Laß mich man machen.«

»Im Komplott«, sagt Gruen. »Auch im Komplott Henning, Stuff, alle.«

»Was hat Henning damit zu tun?«

»Genug. Ist auch wie du. Aber der Blitz ist in der Wolke und fährt nieder zu seiner Stunde.«

»Gruen, ich sage dir ...«

Die Tür geht auf und Tredup kommt herein.

Er stutzt, als er Gruen sieht. Dann starren sich die beiden böse an.

»Wer ist das, Stuff?« fragt Gruen leise.

»Die Herren kennen sich nicht? Das ist unser Annoncenwerber, Herr Tredup. – Herr Strafanstaltshilfswachtmeister, Herr Gruen.«

»Doch, den kenn ich«, sagt Gruen leise. »Das ist der falsche Reimers, der mich verraten hat an den Direktor Greve.«

»Das ist der wahnsinnige Kerl aus dem Gefängnis, Stuff, von dem ich dir gesagt habe. Der Kerl hat mir was eingebrockt ...«

»Solche Leute hast du hier, Stuff?« fragt Gruen wieder. »Dann ist freilich der Blitz schon zu lange in der Wolke gewesen.« Plötzlich reckt er die dürren Arme: »Euch alle wird er vertilgen, alle, alle ...«

Er verschwindet plötzlich. Draußen hört man Fräulein Heinze schreien. Die beiden laufen hinaus.

»Was war denn?«

»Was ist denn los?«

»Warum schreien Sie denn so?«

»Der verrückte Mensch! Hat mich so erschreckt! Springt plötzlich über die Barriere.«

»Ja, ich glaube, verrückt ist der jetzt wirklich«, sagt Stuff nachdenklich. »Ich muß mal gleich einen eiligen Gang tun, sonst richtet er noch was an. Nimmst du Kino und Wochenmarkt, Tredup?«

»Was war denn im Kino?«

»Nichts wie der übliche Mist. Schreib man: Dina Mina hat ihr koboldhaftes Talent wieder mal unter Beweis gestellt. Wieso steht sicher im Inserat. Das kannst du doch?«

»Das fragen mich jetzt alle«, sagt Tredup mürrisch. »Natürlich werde ich mein Talent jetzt auch mal unter Beweis stellen.«

8

Als Stuff sich dem Krankenhaus von hinten nähert – er bevorzugt überhaupt die Gassen vor den Straßen –, sieht er, daß die sonst so stille Allee um diese frühe Abendstunde eine Art Korso geworden ist. Schülerinnen, Lyzeistinnen gehen dort Arm in Arm auf und ab, die Gymnasiasten fehlen nicht, und auch ältere Mädchen sind da, Mädchen von zwanzig, einundzwanzig Jahren.

Stuff weiß, daß seit undenklichen Zeiten der Burstah der Bummel von Altholm gewesen ist. Wurde er nun hierher verlegt, so muß das eine besondere Ursache haben. Die Ursache, nicht schwer zu finden, steht in einem Hochparterrefenster des Krankenhauses, lächelt, ruft ein Wort hinüber, winkt, wirft Kußhändchen, und ist ein strahlender Henning, Henning, der Volksheros.

Und so sehr Stuff geneigt ist, Henning hoch einzuschätzen, seit er, aus zwei Dutzend Wunden blutend, auf dem Straßenpflaster lag, dies scheint ihm ein bißchen reichlich. »Äffchen«, denkt er, als er weitergeht.

Er hat es sich schwierig gedacht, zu dem Untersuchungsgefangenen vorzudringen. Aber es ist grade die Stunde, da im Krankenhaus das Abendessen ausgegeben wird, keine von den Schwestern beachtet ihn, und einen Posten sieht er auch nicht.

»Hübsche Zustände das«, denkt Stuff. »Ein Wunder, daß der Henning noch da ist.«

Dann klopft er, wartet einen Augenblick und tritt ein.

Henning steht noch immer am Fenster und zeigt sich leutselig seinem Volk. Auf dem Tisch liegt ein dreiviertel Dutzend Sträuße, weiße Pakete, die Schokoladeninhalt verraten, Zigarettenschachteln, und ab und zu, halb ausgepackt und gleichgültig wieder fortgelegt, eine Handarbeit.

»Lassen Sie doch den Unsinn, Henning«, sagt Stuff ungeduldig. »Ich habe was Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.«

»Unsinn? Das kommt Ihnen bloß so vor. Das ist die Vorarbeit für den kommenden Prozeß.«

Und er winkt und grüßt und lächelt weiter zum Fenster hinaus.

»Quatsch! Die verstiegenen Gören werden Sie auch nicht rausreißen.«

»Aber ihren Vätern, Brüdern, Onkeln werden sie erzählen, was ich für ein netter, harmloser, offener Junge bin. Und die Väter, Onkel, Brüder sind Zeugen im Prozeß oder gar Schöffen oder wenigstens Skatfreunde von Zeugen.«

»Verknackt werden Sie ja doch.«

»Was noch nicht raus ist. Bei solcher Stimmung. Und dann halber Krüppel, der ich bin, das wirkt immer.«

»Können Sie wirklich den Arm in der Binde da nicht rühren?«

»I wo, keine Spur. Das kostet Altholm noch eine Stange Gold.«

»Äffchen«, und Stuff hat endlich den rechten Ton wieder. »Sie sind mall. Seien Sie froh, wenn Sie mit ein, zwei Jahren wegkommen. Geld noch dazukriegen, so ein Goldjunge!«

»Es ist noch nicht aller Tage Abend.«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Denn heute vor Abend muß ich noch was wissen: was Sie nämlich mit Gruen angefangen haben.«

»Mit Gruen? Mit Mall-Gruen? Wer kann denn mit dem was anfangen? Mit dem fängt die verdrehte Feder im Uhrwerk alles alleine an.«

»Reden Sie nicht rum, Henning. Natürlich haben Sie Gruen irgendwelchen Blödsinn in den Kopf gesetzt. Der Mann ist doch total verrückt, den schickt man doch nicht vor! Der Mann hat ein halbes Dutzend Kinder oder mehr, so ein verhungerter Hering. Den läßt man doch nicht die eigene Arbeit machen.«

Henning dreht sich brüsk um und schmettert das Fenster zu: »Wen schicke ich vor? Wen lasse ich die eigene Arbeit machen? Bei Ihnen piept's wohl, Stuff? Wenn der Affe, der Gruen, irgendwas gesagt hat ... dann hat er gesponnen. Das eine sollten Sie doch von mir wissen, Stuff, daß wenn einer in die Scheiße treten muß, ich mich nie davor gedrückt habe. – Aber wir werden ja gleich sehen.« Henning reißt die Tür auf. »Gruen, Hilfswachtmeister, komm mal her.«

»Da war kein Mensch auf Posten, als ich kam.«

»Nette Gefangenschaft, was? Aber wirklich, ich habe den Kerl seit fünf, sechs Stunden nicht gesehen. Und er hat doch hier bis acht Dienst.«

»Dafür war er bei mir. Hat blöd geschwätzt, mir Vorwürfe gemacht, daß ich nicht genug von den Bauern bringe ...«

»Da hat er auch recht.«

»Einen Dreck verstehen Sie davon. – Aber gedroht hat er, wir wären alle im Komplott, Sie und ich, die Sache zu verraten. Der Blitz wäre in der Wolke und führe nieder, bald, sofort ...«

»Gequatsch eines Mallen.«

»Ich hab so meine Gedanken. Es gibt ansteckende Scherze. Hat er nicht vielleicht so was gefragt – es ist nur so eine Idee von mir –, wie man an einem Wecker eine elektrische Zeitzündung anbringt? Oder etwa, wieviel Pfund Sprengstoff man zu einer rechtschaffenen Bombe braucht?«

Henning starrt.

Plötzlich wird sein Gesicht ganz spitz, die Nase sieht gelb und scharf daraus hervor. Er schlägt mit der Hand auf den Tisch.

»Oh, ich Esel! Ich verdammter Protz! Ich elendes Sauluder! Totschlagen hätten sie mich sollen, die Stadtsoldaten, die verdammten!«

»Fluchen Sie nicht. Sagen Sie!«

»Ich weiß selbst nicht mehr, wie es gekommen ist, aber irgendwie hat er aus mir die Adresse rausgequetscht, wo der Sprengstoff lagert. Ja, richtig, er hat sich angeboten zur Hilfe und meinte, sicherer als im Gefängnis gäbe es nichts. So haben wir hin und her gequatscht, und da habe ich denn geprotzt, wie sicher unser Platz ist.«

Stuff stöhnt, in ehrlicher Trauer glotzend: »Henning! Henning! Wie ein Säugling, der in die Windeln kackt! Kann die Weisheit nicht halten, das Kindchen, nein! Muß alles raus, ja?«

»Los, Stuff! Wir müssen ihn suchen. Das könnte ich brauchen, wo ich dieser Tage entlassen werden soll, so einen Klamauk.«

»Aber Sie können hier doch nicht weg!«

»Wieso nicht können? Wissen Sie keinen Weg, auf dem ich an diesen dämlichen Gänsen auf der Straße vorbeikomme?«

»Doch, das geht. Wir gehen durch den Kohlenkeller vom Kesselhaus. Legen Sie einen Zettel auf den Tisch, daß Sie sich Stadturlaub genommen haben und wiederkommen wollen. Dann tun die nichts. Die halten die Schnauze, wo ihr Posten nicht dagewesen ist.«

 

Eine Stunde später klingelt Stuff an der Gefängnispforte. Henning steht – es ist schon fast dunkel – im Hintergrunde.

Sie haben die Stadt abgeklappert, haben mit der Frau gesprochen, haben die Kinder befragt, niemand wußte, wo Gruen ist.

Doch er ist wirklich hier im Gefängnis.

»Macht Spätdienst. Vertretung für einen erkrankten Kollegen. Hat er sich freiwillig übernommen. Verdient sich gerne ein paar Groschen damit.«

»Könnten wir ihn nicht sprechen? Einen Augenblick nur.«

»Völlig ausgeschlossen, Herr Stuff. Um neun Uhr Unterhaltung im Gefängnis! Morgen wäre es beim Direktor. Aber lauern Sie ihm doch auf. In zwei Stunden kommt er bestimmt.«

»Durch dieses Tor?«

»Es gibt doch kein anderes Tor aus dem Gefängnis! Soviel sollten Sie doch auch wissen, Herr Stuff!«

»Haben Sie vielleicht gesehen, ob er ein Köfferchen bei sich hatte? Oder einen Karton?«

»Nein. Kann mich nicht erinnern. Glaube ich auch nicht.«

»Na, denn guten Abend. Schönen Dank. Hier nehmen Sie sich noch eine Zigarre.«

»Danke. Soll ich ihm was sagen, Herr Stuff?«

»Nein. Nichts. 'n Abend.«

»Das klingt eigentlich alles ganz ordentlich, was? Wozu wird er sich, um ein paar Groschen zu verdienen, nachts einen Dienst übernehmen, wenn er eine Bombe schmeißen will?«

»Bei Gruen? Alles möglich. Der ist ja auch von seinem Wachtdienst bei Ihnen weggelaufen und hat 'nen andern übernommen.«

»Jedenfalls erkläre ich Ihnen eins, Stuff. Wir haben noch zwei Stunden Zeit ...«

»Eine Stunde fünfzig Minuten.«

»Genügt auch vollkommen. In dieser Zeit muß ich ein Frauenzimmer haben.«

»Gibt es denn nicht Krankenschwestern genug?«

»Sie haben 'ne Ahnung. Wenn man was will, dann ist plötzlich der Wachtbeamte wirklich ein Wachtbeamter. Bomben hätte ich machen können, aber ein Mädel auf mein Zimmer, nee, das schickt sich nicht. Der reine Futterneid.«

»Also denn los! Wie soll sie denn sein? Dick? Dünn? Schwarz? Blond?«

»Alles Scheiße, Stuff. Wenn es nur ein Weib ist.«

9

Um neun Uhr klingelt es bei Bürgermeister Gareis an der Entreetür. Assessor Stein kommt, um seinen Freund und Meister zu einem Spaziergang abzuholen. Immer gehen sie erst fort, wenn es dunkel ist, und immer gehen sie einen fast unbetretenen Feldweg, der zwischen Äckern und Wiesen entlangläuft.

»Wissen Sie, Assessor«, sagt Gareis wohl. »Man muß sich den Leuten nicht zuviel zeigen. Je weniger sie einen sehen, um so mehr beschäftigt man sie. Vollends ich – wenn sie mich spazierengehen sähen, gleich hieße es: Gott, der fette Gareis versucht sich ein paar Pfund runterzulaufen.«

Sie gehen langsam die Vorstadtstraße hinauf, in deren letztem Haus der Bürgermeister wohnt. Dann biegen sie ein. Ein paar Lauben kommen noch mit ihren Gärtchen und dann die ersten Vorposten der Landwirtschaft gegen die Industrie: Kartoffeläcker.

»Kartoffeln«, sagt der Bürgermeister. »Mir sind sie lieber als Rosen. Kartoffeln. Zu Haus, immer wenn nichts Rechtes zu essen da war, Kartoffeln waren immer da. Und sie machten so herrlich satt.«

»Ein bißchen langweilig die Felder, nicht?«

»Finden Sie? Ich nicht.«

»Doch«, sagt der Assessor abwesend. »Sie wissen, die Bauern liefern jetzt auch nicht mehr in die Stadt. Fahren ihre Schweine, ihre Kartoffeln nur bis zur Stadtgrenze. – Da, ihr verfluchten Altholmschen, wenn ihr was wollt, holt es euch. – Der Boykott wird immer schärfer.«

»Ich bitte Sie, Assessor, reden Sie mal eine Stunde nicht vom Boykott. Als wenn es nichts anderes mehr zu tun gäbe auf der Welt. Die Arbeitslosigkeit wird immer schlimmer. Wir sind in der ganzen Provinz die Stadt mit der höchsten Arbeitslosenziffer. Und mein Fürsorgeetat ist seit zwei Monaten erschöpft.«

»Was machen Sie da?«

»Ich verbrauche weiter. Ich wollte den Rendanten sehen, der mir dafür das Geld verweigert. Und in diesem Punkt habe ich wenigstens die ganze Partei hinter mir.«

»Nur in diesem Punkt?«

»Gott, die finden ja in letzter Zeit, ich bin kein richtiger Roter. Bin zu bauernfreundlich. Soll die Bauern mit Feuer und Schwert vertilgen.«

»Aber wenn die Sie nicht halten, auf wen wollen Sie sich dann stützen im Kampf, der kommt?«

»Auf mich. Ich denke immer, am Ende werden die sehen, daß sie mich doch brauchen. Daß ich recht habe.«

»Ja, und die Niederlage von Temborius wird Ihnen auch helfen.«

Der Bürgermeister bleibt stehen: »Diese Niederlage ist das schwerste Unglück, das passieren konnte. Seit ich von der weiß, verliere auch ich fast die Hoffnung auf Einigung.«

»Aber wieso denn? Jetzt kommen sie doch alle wieder zu Ihnen gelaufen.«

»Kann ich was Endgültiges machen ohne die Regierung? Das ist doch nun einmal so, die müssen ihren Senf dazu geben, sonst geht es nicht. Und ab jetzt schmeißt der Temborius jeden Stecken ins Rad.

Das ist doch solch ein Bürokrat, dem blutet wirklich das Herz, wenn nicht alles glatt und genau geht. Das tut ihm wirklich weh.

Na, und da hat er denn gedacht: schön, ich will euch entgegenkommen, ich will einrenken, sollt ihr sehen, ich bin gar nicht so. Frerksen und Gareis sind euch mißliebig? Ich opfere sie euch!

Er tut's, und dann ruft er sie zu sich. Wie schnell er sie eingeladen hat nach dem großen Schlachtfest, Sie sehen's ja, er hat's gar nicht abwarten können mit der Aussöhnung. Daß er nur erst nach Berlin melden kann: Friede mit den Bauern. Sieg meiner Diplomatie.

Und da spucken die ihm so ins Gesicht. Sie haben doch wirklich ganz gemeinen Rotz gegen ihn gespritzt. Glauben Sie mir, der Mann sitzt auf seinem Sessel und weint blutige Tränen, daß er es einmal gegen alle seine Grundsätze auf die menschliche Weise versucht hat und denen die Hand hinhielt. Der züchtet jetzt einen Haß im Busen, und ich sage Ihnen, über so einen richtigen Bürokratenhaß geht gar nichts. Wenn Sie mit nichts auf der Welt rechnen können, auf den dürfen Sie Häuser bauen.

Und der wird jede Versöhnung unmöglich machen. Der hört nicht auf, und wenn alle Bauern am Verrecken sind. Der opfert besinnungslos Altholm mit seinen vierzigtausend Menschen, der opfert sogar die eigene Karriere. Und der schlägt mir meine ganze gute Arbeit hier endgültig entzwei.«

»Die bauen Sie sich überall wieder auf, Herr Bürgermeister.«

»Aber ich denke gar nicht daran, hier fortzugehen. Vielleicht gewinne ich doch. Ich habe doch wenigstens was aufzuweisen, was auch den Bauern gefällt, ich hab doch einiges für die getan! So die Ausstellung damals. Oder die Viehhalle, die habe ich denen doch auch finanziert. Oder besser zusammengeschnorrt. Und den Pferdemarkt beim Turnier. Und die Bauernkurse im Winter. Na ja, das wird ihnen eines Tages alles wieder einfallen, wenn sie ruhiger geworden sind. Und dann quatschen wir nicht lange von Versöhnung, dann machen wir irgendwas Nettes, was dem Bauern Geld einbringt – dann ist die Freundschaft gleich wieder da.«

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Herr Bürgermeister, daß Sie seit einer Viertelstunde vom Boykott reden?«

»Richtig. Ich bin ein schlappes Aas. Jetzt wird mindestens eine halbe Stunde stramm gegangen. Und ich schwöre Ihnen, ich werde an ganz andere Dinge denken als an den Boykott.«

Es wird nicht nur eine halbe Stunde geschwiegen, über eine Stunde geht es still geradeaus.

Dann kommt ein Wäldchen. Dort setzt sich der Bürgermeister und lauscht auf den Nachtwind in den Ästen.

»Sehr gut ist das. Eine sehr gute Einrichtung, der Wind. Für so was müßte man Zeit haben. Man kann immerzu über solche Geschichten nachdenken. Da ist auch so was ... haben Sie sich mal überlegt, Steinchen, woran man eigentlich die verschiedenen Baumarten erkennt?«

»Nun, ich denke, an den Blättern.«

»Aber im Winter sehen Sie auch, was ein Apfel und was eine Kirsche ist.«

»Ich allerdings nicht. Aber man wird es ja wohl an der Farbe des Stammes, an der Rinde erkennen, was weiß ich.«

»Und wenn Sie zweihundert Meter ab sind, wissen Sie auch Bescheid. Nein, ich denke mir, jede Baumart hat einen bestimmten Winkel, so und so viel Grad, in dem sie ihre Äste ansetzt. Oder Variationen zwischen verschiedenen bestimmten Winkeln. Es gibt sicher Leute, die so was wissen. Aber solche Leute lernt ja unsereins leider nicht kennen.«

»Damit kann ich freilich nicht dienen.«

»Beleidigt, Assessor? Seien Sie nicht albern. – Kehren wir um.«

Sie nähern sich schon wieder der Stadt, als plötzlich dem Dunkel ein Mann enttaucht. Nicht mehr als ein Schatten. Er fragt höflich nach der Zeit.

Die Leuchtuhr am Armband zeigt halb zwölf, und in dem gleichen Augenblick, da der Bürgermeister es sagt, schlagen die Turmuhren der Stadt, helle und dunkle, sieben verschiedene.

Der Mann dankt und geht weiter, von der Stadt fort. Dann bleibt er noch einmal stehen und fragt aus dem Dunkel heraus: »Sie sind doch der Bürgermeister Gareis?«

Der Mann ist schon eine ganze Ecke ab, und Gareis ruft zu ihm hin: »Nachts um halb zwölf nur Gareis. Den Bürgermeister lassen wir auf dem Rathaus.«

Der Mann scheint sich noch weiter zu entfernen, aber sein Fragedurst ist ungestillt: »Sind Sie eigentlich verheiratet?« fragt er.

Und der Bürgermeister echot: »Wieso wäre ich wohl sonst so dick, Mensch?«

»Und Kinder?«

»Nein, nicht. Sonst noch was?«

Wirklich, der Frager – nun ist er schon mindestens fünfzig Schritte ab – ruft wieder: »Warum haben Sie denn die Bauern niederschlagen lassen?«

»Haben die selbst getan«, antwortet Gareis sibyllinisch und hört einen lachen, höhnisch, frech, meckernd.

»Der hat doch einen in der Krone«, sagt der Assessor tadelnd. »Ich begreife Sie nicht, Herr Bürgermeister.«

Aber der Bürgermeister antwortet nicht.

»Das war sehr komisch«, sagt er schließlich, »und ein bißchen unheimlich. Na ja, ich glaube wirklich, mir tut es gut, wenn ich erst mal gründlich ausschlafe.«

»Wieso denn unheimlich? Ich fand gar nichts unheimlich. Nur frech.«

»Frech? Na ja, frech. Mir kam er vor wie einer, der nach mildernden Umständen sucht.«

»Das verstehe ich nun nicht.«

»Glaub ich ... Gehen wir weiter. Es wird schon nichts zu sagen haben. Und außerdem – wer ist dagegen geschützt?«

»Wogegen?«

»Daß einen Besoffene anquatschen, nicht wahr?«

Sie gehen weiter. Sie biegen in die Vorstadtstraße ein und sehen vor sich das Haus des Bürgermeisters. Vor dem Hause stehen zwei Männer und schauen ihnen entgegen.

Gareis hat den einen erkannt, er will ihn aber nicht kennen. Er geht stracks auf die Haustür zu, doch der spricht ihn an.

»Entschuldigen Sie, Herr Bürgermeister. Haben Sie vielleicht einen Mann mit Ziegenbart getroffen? Es ist sehr wichtig.«

Der Bürgermeister sagt kühl: »Ich hätte es vorgezogen, eine Weile nicht mit Ihnen zu reden, Herr Stuff. Sie riechen nicht gut in meiner Nase. Aber da es Ihnen wirklich wichtig scheint: auf dem Feldweg nach Lohstedt, fünf Minuten von hier, hat uns ein Mann angequasselt. Es war dunkel, aber seine Stimme hätte zu einem Ziegenbart gepaßt.«

»Darf ich auch fragen, Herr Bürgermeister, was der Mann wollte?«

»Nein, Sie dürfen nicht mehr fragen, Herr Stuff.« Der Bürgermeister wendet sich zu Stein. »Also denn gute Nacht, Herr Assessor ...«

Doch Stuff ist nicht abzuschütteln. »Seien Sie nicht kleinlich, Herr Bürgermeister. Ich schwöre Ihnen, morgen dürfen Sie mich schneiden, soviel Sie wollen, antworten Sie heute: was wollte der Mann?«

»Sie sind ein seltsames Gewächs, Stuff«, sagt der Bürgermeister nicht ohne Anerkennung. »Ich wollte, Sie wären kein Zeitungsmensch. – Der Assessor meinte ja, der Mann wäre besoffen, mir kam das nicht so vor.«

Stuff drängt: »Was fragte er?«

»Nach der Zeit. Halb zwölf schlug es grade. Ob ich der Bürgermeister sei? Ob ich Kinder habe? Ob ich verheiratet sei?«

Der Assessor ergänzt: »Warum Sie die Bauern haben niederschlagen lassen.«

»Haben Sie ihm vernünftig geantwortet?«

»Bis auf die letzte Frage: ja.«

»Das war er. Henning, ich sage Ihnen ...«

»Henning –?« fragt der Bürgermeister sehr hellhörig.

»Da kommt er!« brüllt Henning. »Lauft! Lauft!!«

Aus dem dunklen Laubenkolonieeingang schießt wie eine Rakete ein Mann. Über dem Kopf schwingt er, wurfbereit, etwas wie ein Paket.

Stuff versetzt dem Bürgermeister einen fürchterlichen Schlag in den Rücken. »Lauf! Lauf, Bürgermeister! Bombe!«

Und Stuff stürzt los. Stein läuft schon. Zwanzig Meter vor den andern Henning.

Die kaum bebaute, menschenleere Vorstadtstraße fliehen die vier entlang, der Bürgermeister als letzter, schon keuchend. Hinter ihm jagt schnellfüßig der verhungerte Hering Mall-Gruen, die geschwungene Bombe in der Hand. Im hellsten Ton schreit er: »Das Komplott ist entdeckt! Die Verräter sind beisammen. Alle vernichtet der Blitz aus der Wolke.«

Das Ergebnis des Wettrennens kann nicht zweifelhaft sein: in jeder Minute holt Gruen auf gegen den Bürgermeister.

Der hört den näherkommenden leichten Schritt, denkt: »Kaputt so und so. Alles kommt darauf an, daß ich die Bombe sofort zu halten kriege.«

Er dreht sich mit verblüffender Schnelligkeit um, stürzt in die Arme des Verfolgers, schmettert ihn mit dem ungeheuren Gewicht seines Körpers zu Boden, fällt über ihn, fühlt, daß er den Koffer fest in der Hand hat, spürt einen blödsinnigen Biß im Arm, brüllt:

»Komm her, Stuff! Hilfe, Stuff!«

Und tief über sich selbst erstaunt, hört er sich rufen: »Wackerer Stuff, Hilfe!«

Er ringt mit dem andern um die Bombe, die der gegen den Boden schlagen will. Der kämpft mit Zähnen und Händen, der Bürgermeister spürt, gleich ...

Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden.

Dann sagt Stuff, ein bißchen atemlos, aber ruhig über ihm: »Lassen Sie den Stadtkoffer ruhig los, Herr Bürgermeister. Ich habe ihn.«

Und nimmt ihn dem Gareis aus der Hand, hält ihn ans Ohr. »Er tickt«, sagt Stuff. »Soweit alles in bester Butter.«

Der Bürgermeister steht schwerfällig auf, sieht auf den Liegenden. »Besinnungslos. Das verdrehte Aas. Verrückt, nicht wahr?«

»Total.«

»Sagen Sie, Stuff, was fängt man eigentlich mit solcher Bombe an. Das Ding kann doch jeden Augenblick losgehen.«

»Dasselbe wollte ich Sie fragen, Herr Bürgermeister«, entgegnet Stuff und hält das Köfferchen weit ab von sich.

»Wenn wir es dahinten auf die Wiese legten?«

»Warum nicht? Wenn es nicht vorher explodiert?«

»Jetzt wäre das doch eigentlich sinnlos. Ich schlage vor, ich gehe.«

»Ich schlage vor, wir gehen zusammen.«

»Aber das ist wirklich unnötig«, sagt Stuff.

»Lassen Sie mir den Spaß«, sagt der Bürgermeister.

Und sie gehen zur Wiese.

Auf der Straße liegt, besinnungslos, Gruen. Irgendwo, sich raschestens dem Stadtzentrum nähernd, laufen Henning und Stein.

10

Es ist dieselbe Nacht, es ist dieselbe Stunde, da ist Thiel auf dem Wege von Bandekow-Ausbau nach Stolpe. Auch er hört die Uhr halb zwölf schlagen, und er rechnet: »Kurz vor zwölf bin ich auf der Bauernschaft.«

Es hat ihn nicht gelitten auf dem Hof.

Damals, vor rund einer Woche, als Padberg abreiste und er in seine Dachkammer hinaufstieg, hat er gedacht: »Warum soll ich den Hofhund spielen? Nichts ist mehr im Schreibtisch. Und diese Tage in der Dachkammer beim Klo ... nein, lieber nicht wieder. Ich geh aufs Land.«

Heute hat er dem Grafen Bandekow gesagt, daß er Kopfschmerzen hat, ist schlafen gegangen um neun. Um halb zehn war er fort durch den Gemüsegarten.

Es hat ihn nicht gelitten.

Da ist das große, ineinandergeschachtelte Haus in der Stadt, mit den dunklen Zimmern, den Gängen, den Treppen, den Sälen, dem Garten, mit der geheimen Klingel, mit dem Schreibtisch und einem geheimnisvollen Setzer. Den will er fassen.

Thiel schreitet gleichmäßig rasch aus. Es ist eine schöne Nacht, ohne Mond. Fußgänger oder Radfahrer sind so gut wie gar nicht mehr unterwegs, und selten nur stäubt ein Auto an ihm vorbei oder ein Motorrad zischt knatternd dahin.

Die ersten Vorstadthäuser. Am weitesten kommt ihm eine Gaslaterne entgegen, sie brennt da idiotisch für sich, beleuchtet Wiese, ein Stück Pflaster. Auf dem Pflaster liegt ein hübscher runder Stein, ein glattgeschliffener Feldstein von der Größe einer Faust. Thiel stößt mit dem Fuß daran, der Stein rollt zögernd ein Stückchen, torklig auf seiner ungleichmäßigen Rundung.

»Na komm schon«, sagt Thiel und steckt den Würfling in die Tasche. Während er das tut, hat er zwei Bilder im Hirn: eine Erinnerung an eine Bibelillustration, David mit der Schleuder im Kampfe mit Goliath. Und sich selbst sieht er stehen, hinter der Tür des Redaktionszimmers auf der Bauernschaft, drinnen ist Licht. Jemand ist über den Schreibtisch gebückt. Thiel hebt den Stein und wirft durch den Türspalt.

»Gut«, sagt er ungeduldig. »Machen wir alles.«

Er kommt in die Straßen von Stolpe, still und unbelebt ist es auch hier. Kaum noch ein beleuchtetes Fenster. Nur die Gastwirtschaften sind hell. Aus einer tönt Musik: Radio oder Grammophon.

Plötzlich verspürt Thiel das Bedürfnis nach einem Glas Bier und einem Schnaps. Am Ende, was riskiert er? Wer kennt ihn hier in Stolpe? Kein Aas! Und er tritt rasch ein.

Die Wirtschaft ist fast leer. Ein einsamer Gast lehnt an der Theke, ein dunkler, untersetzter Mann mit einem kleinen Bauch. Der Krüger quatscht was mit ihm.

Als Thiel bestellt, mustern ihn die beiden. Der Bauchmensch hat eine unangenehme Art zu starren. Trotzdem bleibt Thiel an der Theke stehen.

Er nimmt den ersten Schluck. Der Krüger sagt: »Wohl bekomm's!«

»Vom Lande?« fragt der Dunkle.

»Ja«, sagt Thiel. Und etwas verlegen auflachend: »Seh ich so aus?«

Der Mann deutet mit den Augen auf Thiels Schuhe, die dick bestäubt sind.

»Natürlich«, lacht Thiel. »Das war nicht schwer.« Und betrachtet die Schuhe des andern. Irgendein ungemütliches Gefühl überkommt ihn. Der andere hat schwarze Schnürschuhe. »Na ja, so 'ne gibt's mehr. Immerhin, schnell austrinken.«

»Lehrer?« fragt der Mann.

»Warum meinen Sie?« fragt Thiel ausweichend.

»Nein, Sie sind kein Lehrer«, sagt der Mann, ohne sich auf weitere Erklärungen einzulassen, und fährt fort, Thiel anzustarren.

Der nimmt hastig einen Schluck, bestellt noch einen zweistöckigen Schnaps und fragt den Krüger unmotiviert nach dem Wege zum Bahnhof.

Als der umständlich Thiel längst Bekanntes geschildert hat, sagt der Dunkle kurz: »Es fährt aber kein Zug mehr.«

»Das weiß ich«, sagt Thiel. »Ich will noch mal zur Gepäckaufbewahrung.«

»Die ist auch zu«, sagt der andere.

»Verdammt noch mal«, denkt Thiel. »Wäre ich doch nie in diesen Ausschank gegangen!« Und sucht nach seinem Portemonnaie.

Natürlich ist es in der Tasche, in der oben der Feldstein liegt. Wie er das Portemonnaie herausziehen will, poltert der Stein auf die Erde.

Thiel und der Dicke bücken sich gleichzeitig danach. Thiel ist schneller und verstaut hastig und verlegen den Stein.

»Sammeln Sie Steine?« fragt der andere.

»Ich will mir ein Haus bauen«, antwortet Thiel in einem Ton, der weitere Fragen abschneidet. Und zum Krüger: »Bitte zahlen!«

Er zahlt und geht. Im Rücken hat er das Gefühl, daß die beiden ihm scharf nach glotzen. »Diese Kuhdörfler! Dummheit von mir, da reinzugehen«, denkt er noch einmal und schreitet rasch aus, um die verlorene Zeit einzubringen.

Er kommt von hinten an das Grundstück der Bauernschaft, macht einen Klimmzug über die Planke und steht im Garten.

Alles still, alles dunkel.

»Ob ich erst in das Maschinenhaus gehe und dem Meister ein paar Zigaretten klaue?«

Aber er ist down. Der Dunkle an der Theke liegt ihm im Magen.

So klettert er denn die Außentreppe am Hauptgebäude hoch, und als er das erste Stockwerk erreicht hat, geht er nicht hinein, sondern klimmt an der Wand weiter, unter Benutzung von Mauervorsprüngen, Simsen. Bis in den zweiten Stock.

Er hat sich alles gut überlegt. Aus seiner Erinnerung hat er sich die Fassade rekonstruiert, es klappt alles. So kommt er nicht, wie sonst immer, von außen oder aus dem Erdgeschoß auf die Redaktion, sondern vom zweiten Stock aus. Wenn der da ist, darauf ist er nicht vorbereitet: von oben kommt kein Klingelsignal.

Er hat Glück: im zweiten Stock steht gleich in der Buchbinderei ein Fenster offen, er schwingt sich hinein und steht, langsamer atmend, im stillen Raum.

Nichts rührt sich, das Haus schläft.

Aber Thiel weiß, das Haus schläft nicht. Er weiß, heute kommt er ans Ziel.

Er zieht leise seine Schuhe aus und stellt sie beiseite. Dann öffnet er unendlich behutsam die Tür zum Korrektorzimmer und schleicht hinein.

Er steht in der Mitte des dunklen Raumes. Mit der Hüfte lehnt er gegen einen Tisch, beide Hände hat er auf ein Stehpult gelegt.

So steht er da und lauscht. Er ist jetzt direkt über der Redaktion.

Alles ist still. Ganz still.

Und langsam kommt aus der tiefen Stille ein ganz leiser Klang zu ihm, ein Garnichts von Schall, ein verwehender Ton. Unendlich langsam läßt sich Thiel auf die Knie nieder, dann lauscht er, mit dem Ohr auf der Erde, lange.

Weit ab, gespensterhaft, hört er Schritte, Hin- und Hergehen, unter sich.

Der ist da.

Er überlegt, während er sich aufrichtet, fieberhaft. Zuerst muß er das Fenster vom Korrektorzimmer schließen, damit, wenn er die Tür zum Gang aufmacht, kein Luftzug entsteht. Auch die Tür zum Buchbinder muß zu. Man weiß nicht, hat der unten die Tür zum Gang auf, kann der Luftzug ihn warnen.

Er erledigt alles und öffnet die Tür zum Gang. Richtig, die Tür unten muß aufstehen, er hört jetzt den Schritt deutlicher.

»Der fühlt sich hübsch sicher«, denkt Thiel. »Na, warte!«

Er tastet sich den oberen Flur entlang bis zur Treppe. Über die Stufen darf er natürlich nicht hinab, ein Knarren kann alles verderben. Aber es ist ja ein altes Bürgerhaus, die Treppe hat ein schönes breites Geländer, und auf dem rutscht er hinunter, ganz im Stil seiner Jugendjahre, nur heftig abbremsend.

Er steht unten auf dem Flur, zwei Meter von der Tür ab, die angelehnt, aber nicht eingeklinkt ist. Der Weg bis zur Tür ist endlos. Das Herz klopft so lästig, die Glieder flattern ewig. Dann ist er an der Tür. Thiel schiebt drei Finger in ihren Spalt und bewegt sie langsam auf. Er sieht ein gebeugtes, weiß beleuchtetes Gesicht über dem Schreibtisch im Lichtkegel einer Taschenlampe ...

Da knarrt die Tür.

Das Gesicht fährt aus dem Licht. Thiel sieht einen Arm gegen sich erhoben. Er greift in die Tasche.

Das Licht geht aus.

Thiel schleudert den Stein. Es klatscht dumpf. Jemand schreit, brüllt: »Uaah! Uaah!«

Schwächer: »Uaah!«

Thiel macht einen Schritt ins Dunkle, tastet nach dem Schalter, und es wird schmerzend hell.

Auf dem Teppich vor dem Schreibtisch liegt der Mann im blauen Setzerkittel. Die Schreibtischlade ist offen. Auf dem Schreibtisch liegen Schriftstücke, ganz viele.

Plötzlich ist Thiel hilflos.

Der Mann blutet, liegt reglos.

»Was soll denn das alles? Was habe ich nun zu tun? Was mache ich jetzt bloß mit dem Mann? Nie habe ich weiter gedacht als bis zu diesem Moment.«

Ein feines blechernes Raspeln tönt in der Wand. Jemand ist unten, jemand, der auch nicht auf legalem Wege das Haus betreten.

Langsam kommen Schritte die Treppe hinauf.

Noch könnte Thiel fliehen, aber er starrt weiter den Mann an auf dem Teppich, der sich zögernd bewegt, die Augen aufschlägt, Thiel fest anschaut.

Nun sind die Schritte ganz nah.

Ist es Padberg?

In der Tür steht der dunkle Bauchige aus der Kneipe. Hinter ihm zwei Polizisten. Er blickt schweigend in das Zimmer.

Dann: »Kriminalpolizei. Kommissar Tunk. Sie sind verhaftet, Herr Thiel. Machen Sie keine Geschichten, sonst ...« Und er läßt eine Pistole halb aus der Tasche tauchen.

Erleichtert denkt Thiel: »Gott sei Dank, nun bin ich den ganzen Kram los. Irgendwie regelt sich alles.« Und laut: »Nehmen Sie lieber den Einbrecher da fest.«

»Erst einmal«, sagt der Kommissar, »wollen wir Sie ein bißchen schmücken, mein Junge. Hände her. So, nebeneinander.«

Die Handfessel schnappt zu.

»Und was machen Sie hier?« fragt der Kommissar den Setzer.

»Ich habe doch für Herrn Padberg Manuskript holen müssen. Und da kam der aus dem Dunkeln und schmiß einen Stein auf mich.«

Der Kommissar betrachtet den Stein, der harmlos auf dem Teppich liegt.

»Nette Häuser bauen Sie sich, Thiel. Werden Sie so bald nicht rauskommen aus den Häusern.«

Und zum Setzer: »Was für Manuskript sollten Sie denn Herrn Padberg bringen?«

»Das da auf dem Schreibtisch«, sagt der Setzer und deutet.

Plötzlich fällt Thiel etwas ein. Die Lade war doch leer, als Padberg abreiste! Und jetzt ...

»Oh, wir Ochsen!« denkt er. »Wir haben immer nur an Stehlen gedacht, aber Belastendes einschmuggeln ... armer Padberg!«

Der Kommissar blättert ein bißchen: »Hübsch. Sehr hübsch. Schwarzer Tag für die Bauernschaft. Finden Sie nicht, Thiel?«

»Das sind alles verdammte Lügen«, sagt Thiel wütend. »Padberg kannte seinen Einbrecher schon. Der hat seinen Schreibtisch aufgeräumt, als er nach Berlin fuhr. Was hier ist, das haben die eingeschmuggelt, die roten Fälscher.«

»Interessant«, sagt Tunk. »Hübsch«, sagt Tunk.

»Also ausgeräumt? Na, wir unterhalten uns über all das noch. Ist Herr Padberg in seiner Wohnung?«

»Er hat mich doch geschickt, als er heute nacht aus Berlin kam.«

»Schicken. Kommen«, nörgelt der große politische Kriminalist. »Holen wäre besser gewesen. Selber holen. Na, holen wir ihn jetzt. Wird uns ja nicht durch die Binsen gehen. Holen die große Bauernschaft ein bißchen durch den Kakao, was, Herr Thiel?«

»Holen Sie man!« sagt Thiel böse. »Wir kommen auch wieder dran.«


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