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Es ist abends gegen elf. Stuff ist eben aus dem Kino gekommen und hat sich im »Tucher« zu Wenk an den Tisch gesetzt.
»Was trinkst du? Nur Bier? Nee, das genügt nicht, bei mir burren die trüben Fliegen heut wieder. – Franz, einen halben Liter Helles und eine Kömbuddel.«
»Wie war's im Kino?«
»Mist, verdammter. So was muß man morgen loben, bloß weil die Affen inserieren.«
»Was war's denn?«
»So ein erotischer Schmarren. Was Ausgezogenes.«
»Das ist doch was für dich?«
»Hau ab, Wenk! Was die heute schon Erotik nennen! Wozu ausziehen? Man weiß ja schon alles vorher.«
Stuff trinkt. Erst einen Schnaps. Dann einen langen Schluck Bier. Dann wieder einen Schnaps.
»Das ist das Richtige. Solltest du auch tun. Das macht Stimmung.«
»Geht nicht. Darf nicht. Mein Wachtmeister schimpft, wenn ich nach Schnaps stinke.«
»Gott ja, deine Olle. Komisch muß das sein, immer dieselbe. So gar keine Überraschung. Macht das denn noch Spaß?«
»Spaß? Ehe ist doch kein Spaß.«
»Eben. Hab ich mir immer schon gedacht. Und ohne Überraschungen. Nee, danke. Weißt du, das ist ja der Mist bei der modernen Frauenkleidung: man weiß alles schon vorher. Diese blöden Schlüpfer! Früher, die weiten weißen offenen Hosen!« Er versinkt in Schwärmerei.
»Wo sitzt eigentlich dein Mann?« stört ihn Wenk.
»Wieso? Mein Mann? Ach so, der Kalübbe! Dort. Der übernächste Tisch. Der Griese, der Skat spielt, so ein bißchen dick.«
»So, das ist Kalübbe«, sagt Wenk enttäuscht. »Den hart ich mir anders gedacht.«
»Anders gedacht. Der ist gut so, wie er ist. Schon die beiden Kerle, die mit ihm spielen. Das muß die reine Freude sein für den Herrn Finanzrat.«
»Wer ist denn das?«
»Na, den in der grauen Uniform mußt du doch kennen. Den kennt doch jedes Kind. Nicht? Das ist der Hilfswachtmeister Gruen aus dem Kittchen. Mall-Gruen nennen sie ihn, weil er verrückt ist, seit ihn die Muschkoten November 18 an die Wand gestellt haben.«
»Warum denn?«
»Weil er sie zu sehr gezwiebelt hat, wahrscheinlich. Sie haben nach ihm Scheibenschießen gemacht, und daß er dabei leben geblieben ist, das hat er, glaub ich, selber noch nicht kapiert. – Du mußt mal aufpassen, wenn die Rechten schwarzweißrot flaggen, dann kann er an keiner Flagge vorüber. Zieht den Hut und verkündet: ›Unter dieser Fahne haben wir nicht gehungert.‹ Die Kinder laufen ihm in Scharen nach.«
»Und so was ist Beamter?«
»Warum nicht? Zellen wird er wohl noch auf- und zuschließen können.«
»Und der Dritte?«
»Das ist der Lokomotivführer Thienelt. Dienstältester Lokomotivführer im Bezirk. Hinter dem ist schon die ganze Reichsbahndirektion hergewesen, er soll Dienstuniform anziehen. Er tut es nicht. Warum wohl?«
»Keine Ahnung. Sag schon.«
»Na, sehr einfach. Er tut es nicht, weil er dann die Dienstmütze aufsetzen müßte.«
»???«
»Du bist zu doof, Wenk. Saufen kannst du gut, aber zu doof bist du doch. – Weil an der Dienstuniform ein neumodischer Adler ist und er ist noch für die altmodischen ...«
»Und er tut's nicht?«
»Er tut's nicht. Nun haben sie ihn auf 'ne Rangierlokomotive gesetzt, aber er denkt: meine zwei Jahre bis zur Pension halt ich's noch aus. Die Oberen lassen ihn jetzt in Ruhe, aber die Kollegen. Kollegen sind immer das Schlimmste.«
Pause. Stuff trinkt ausgiebig.
»Mittlerweile könnte der Kalübbe endlich mal pinkeln gehen, daß ich ihn draußen unauffällig sprechen kann.«
»Glaubst du denn, er tut es?«
»Wenn man es richtig anpackt, tut er es.«
»Du riskierst was dabei.«
»Wieso? Wenn es rauskommt, bin ich besoffen gewesen.«
– – –
»Du, Stuff, der Einzeljüngling am Ecktisch fixiert dich immer.«
»Wenn's ihm Spaß macht. Nee, den kenne ich nicht. Ehemaliger Offizier taxiere ich. Reist jetzt in Ölen und technischen Fetten.«
»Sieht ganz so aus, als möcht er mit dir reden.«
»Vielleicht kennt er mich. – Prost! Prost!« schreit Stuff durch das ganze Lokal dem unbekannten jungen Mann zu, der das Bierglas grüßend gegen ihn erhob.
»Kennst du ihn doch?«
»Keine Ahnung. Der will was. Na, er wird schon kommen.«
»Komisch eigentlich, dir so zuzuprosten.«
»Warum komisch? Wenn ihm meine Kartoffelnase gefällt? Na, ich will erst noch mal einen Schnaps verlöten, Kalübbe sitzt ordentlich fest.«
»Du, Stuff«, fängt Wenk wieder an. »Der Tredup hat sich heute über dich beklagt. Du läßt ihn nichts verdienen.«
»Tredup kann mir. Mit Tredup rede ich schon vierzehn Tage nichts.«
»Wegen der Ochsen?«
»Wegen der Ochsen! Glaubt der Ochse, ich bringe seinen Artikel über die Ochsenpfändung, bloß damit er seine fünf Pfennig die Zeile kriegt?!«
»Geld hat er, glaube ich, nötig.«
»Haben wir alle. Ich will dir was sagen, Wenk, alle Leute, die zu wenig Geld haben, taugen nichts. Tredup ist scharf auf Geld wie die Katze auf Baldrian.«
»Vielleicht schiebt er Kohldampf mit seiner Familie.«
»Soll ich deswegen alle mit seinem blöden Bericht vor den Kopf stoßen? Bring ich was für die Bauern, dann freu dich für deinen Annoncenteil: Finanzamt, Polizei, Regierung mit ihren Bekanntmachungen, alles schnappt ab.«
»Aber er sagt, er hat dir einen zweiten Bericht gegen die Bauern geschrieben.«
»Und –? Soll ich gegen die Bauern sein? Nee, so ein bißchen Sympathie hat man doch noch. Säße ich sonst hier und lauerte auf den Kalübbe, der partout nicht aus den Hosen will? – Na, endlich! Wenn man den Esel nennt ... Bis nachher!«
Und Stuff geht schwerfällig dem Kalübbe nach.
Stuff stellt sich im Pissoir an das Becken neben Kalübbe. Der stiert tiefsinnig in das rinnende Wasser. Stuff sagt: »Nabend, Kalübbe!«
»Nabend! Ach so ja, du Stuff. Es geht so, nicht wahr?«
»So wie immer: beschissen.«
»Wie kann es auch anders gehen?«
»Na so was! Klagen jetzt auch schon die Beamten?«
»Beamter, na ja, Beamter ...«
»Etwa nicht? Wenn mein Schabbelt was in den Kopf kriegt, macht er die Bude zu und ich sitze auf der Straße.«
»Wer's glaubt. Wo dich die ganze Provinz kennt.«
»Eher schon dich. Seit den Ochsen ...«
»Entschuldige, Stuff, ich muß wieder zum Skat ...«
»Natürlich. – Ist es wahr, daß morgen Lokaltermin ist?«
»Möglich. – Der Thienelt und der Gruen warten.«
»Und daß du die Täter identifizieren sollst?«
»Ich muß jetzt zum Skat!«
»Und daß deine Hilfe, der Thiel, ohne Kündigung auf die Straße gesetzt ist?«
»Wenn du doch alles weißt, warum fragst du noch? Also Nabend, Stuff!«
»Ich will dir etwas verraten, Kalübbe. Du wirst strafversetzt. Aber halt's Maul.«
Kalübbe starrt ihn an, ohne zu reden. Das Wasser läuft und rinnt und gurgelt in dem Becken. Die beiden Männer stehen einander gegenüber.
»Ich? Du meinst mich? Ich und strafversetzt? Dir haben sie ja ins Gehirn geschissen! Laß mich zufrieden mit deinem Quatsch. Ich habe meinen Ochsen nach Haus gebracht.«
»Grade weil. In den Stall vom Gemeindevorsteher hättest du sie stellen sollen. Dann hätt's keinen Klamauk gegeben.«
»Der Finanzrat sagt, ich hätt's gut gemacht.«
»Der Finanzrat! In der Suppe rühren schon viel goldenere Löffel.«
»Ich werde nicht strafversetzt.«
»Doch wirst du. Höre zu, Kalübbe ...«
Drei Mann dringen in die Schifferade. Kalübbe dreht sich zum Spiegel und fängt umständlich an, sich die Hände zu waschen. Die drei Mann begrüßen Stuff lebhaft und lärmend. Er stellt sich an ein Becken und tut sehr beschäftigt, schielt dabei nach Kalübbe. Der aber macht keine Anläufe mehr, zu gehen. Stuff grinst vor sich hin.
Nach einer Weile ziehen die Leute ab und lassen Stuff und Kalübbe wieder allein.
Kalübbe sagt brüsk: »Ich will dir was sagen, Stuff. Ich habe es mir überlegt: vielleicht werde ich wirklich strafversetzt. Die machen das heute so. Verantwortung haben nur wir Untern. Aber dich geht das nichts an und wenn du in deiner gottverdammten Chronik ein Wort davon schreibst ...«
»Kein Wort. Du wirst strafversetzt. Da beißt keine Maus einen Faden ab. Fragt sich nur, ob du nun auch noch andere reinreißen willst?«
»Reinreißen? Ach so! – Es kommt darauf an, was für andere?«
»Da sind diese Bauern. Morgen ist Lokaltermin. Wenn du welche erkennst, schieben die Knast, Monate und Monate.«
»Ich hab keinen Grund, den Bauern grün zu sein.«
»Aber warum feind? Tätest du's nicht auch so, wenn du vom Hofe müßtest?«
»Sie haben es an dem Morgen zu schlimm getrieben.«
»Und du machst den Speckjägern oben die Geschäfte. Dein Finanzrat freut sich einen Ast, wenn er möglichst viel Bauern einspunden kann. Dann kann er doch wieder eine Weile drauflospfänden.«
»Das Aas! Höre, Stuff, ist das anständig? Er gibt mir telefonisch den Auftrag, die Ochsen unter allen Umständen nach Haselhorst zu bringen, und nun wird mir ein Strick daraus gedreht, daß ich meinen nach Lohstedt gebracht habe! Ist das anständig?«
»Das ist die Art heute.« Stuff spuckt in ein Becken. »Willst du dich strafversetzen lassen und doch erkennen?«
Kalübbe zögert: »Es war ja alles nur ein Augenblick. Wenn ich die Bauern nicht erkennen würde ... Aber da ist der Thiel!«
»Das laß meine Sorge sein! Glaubst du, der Thiel wird reden? In einen Graben gefallen, Ochse ausgerissen, Zeug verdorben, Knochen zerschunden, dafür auf die Straße gesetzt, fristlos, weil er den Ochsen laufenließ, glaubst du, der erkennt? Glaubst du, der ist so doof?«
»Man weiß es. Unter uns: der Thiel hat eine Stellung. Bei einer Zeitung. Ich sage nicht, wo.«
Die beiden Männer schweigen eine Weile, dann sagt Kalübbe: »Na, ich glaube, Stuff, das ging alles zu schnell. Ich weiß es wirklich nicht, welche Bauern ich im Krug und welche am Strohfeuer sah.«
»Siehst du, Kalübbe. Und wenn du einmal keine Lust mehr hast mit dem Vollstrecken, schreibst du mir eine Karte ...«
Sie wenden sich zur Tür –
Eine Stimme ertönt hinter ihnen: »Einen Augenblick, meine Herren. Es war sehr interessant.«
In der Tür zum Klosett steht der junge Mann, dem Stuff vor einer Viertelstunde zutrank.
»Wirklich. Fabelhaft interessant. – Ja, ich war dadrin beschäftigt, meine Herren. Und dann wollte ich nicht unterbrechen. Der hübscheste Fall von Zeugenbeeinflussung, den ich persönlich erlebt habe. Wirklich ganz reizend.«
Er steht in der Tür zum Lokus, vor der Brille, und knöpft ganz unnötig an seinen Hosenträgern herum. Um seine Augen spielen tausend Fältchen und in all seiner Malesche denkt Stuff: »Ein Junge? Uralt ist das Aas. Ausgekocht. Ein ganz gemeiner Hund!«
Laut knurrt er: »Bilden Sie sich nur nichts ein. Was Sie schon hören können! Wo ewig das Wasser läuft.«
Der junge Mann greift in seine Tasche und zieht einen Haufen Papier hervor. »Entschuldigen Sie das Material. Es ist Klopapier. Aber ich stenographiere. Ihre Unterhaltung schien mir des Festhaltens würdig.«
»Sie lügen ja. Das ist weißes Papier. Glauben Sie, Sie bluffen mich? Zeigen Sie doch mal her!«
Der dicke Stuff macht eine unglaublich rasche Bewegung, einen Griff nach dem linken Arm des Jünglings, der das Papier hält. Aber wie ein Hammer schlägt dessen rechte Faust auf Stuffs Arm. Stuff stößt links vor, stößt nach der Magengrube des Jünglings, der nach der Brille retiriert.
Stuff grunzt: »Los, Kalübbe, das Papier müssen wir haben!«
Und der Jüngling, völlig ruhig, jetzt auf dem Klosettdeckel stehend: »Es ist sehr amüsant, meine Herren ...«
Die Toilettentür geht auf und ein paar Herren erscheinen. Die drei Kämpfer nehmen unbeteiligte Posen ein. Kalübbe probiert den Seifenautomat. Stuff lehnt in der Klosettür und scheint dem Schlanken, der den Spülungskasten befingert, Ratschläge zu geben: »Es muß am Schwimmer liegen.«
Endlich sind die Herren fertig. Einer möchte noch eine Unterhaltung mit Stuff anspinnen, aber der grobst ihn an: »Laß mich zufrieden. Ich will hier kotzen!« Und der Herr entschwindet.
Noch schlägt die Tür nicht an, da macht Stuff einen blitzschnellen Vorstoß gegen ein Bein des Unbekannten, faßt es, reißt daran, und mit Getöse stürzt der Jüngling vom Klosettdeckel. Sein Kopf schlägt mehrmals gegen die Wand. Dann liegt er im Winkel, etwas blaß, etwas blutend, während Stuff ihm die Hand, die den Papierwust hält, aufzubrechen sucht.
»Die kriegen Sie nicht auf. Die hat schon manchen Handgranatenstiel festgehalten, Stuff ...«
»Das wußte ich, daß Sie mich kennen ...« Stuff läßt ihn los und betrachtet ihn prüfend.
Kalübbe schaut schweigend, noch immer schneeweiß, über seine Schulter.
Der Jüngling steht auf und verbeugt sich: »Gestatten Sie, Henning. Georg Henning. Und entschuldigen Sie den kleinen Scherz, ich bin noch etwas kindlich.«
»Wahrscheinlich«, sagt Stuff. Und zu Kalübbe gewendet: »Keine Angst mehr. Der schwatzt nicht.«
»Sehen Sie hier, das Stenogramm. Es wandere in den Orkus. Und nun spülen wir kräftig nach. Unwiederbringlich!«
»Und was möchten Sie nun?« fragt Stuff. »Denn daß Sie so ganz ohne ...?«
»Nein, natürlich nicht. Aber anders. Wie Sie sich's denken, geht es nicht. Wenigstens nicht so allein. Es gibt nämlich eine Fotografie von dem Strohfeuer und den ausbrechenden Ochsen.«
»Unmöglich!«
»Vielleicht gibt es sogar zwei Aufnahmen!«
»Ich sollte das nicht wissen?!« fragt Stuff empört.
»Warte!« ruft Kalübbe erregt. »Warte einmal! Er hat recht. Daß ich nie mehr daran gedacht habe! Da war ein Kerl von einer Zeitung, wollte schon die Auktion knipsen. Dann sah ich ihn wieder, hinter einem Baum, beim Strohfeuer nach Haselhorst zu. Und schließlich, grade als es durch die Flammen ging ... Ein Bauer, ein schwarzbärtiger Kerl, schlug ihm den Kasten aus der Hand.«
»Und dieser junge Mann«, sagt Herr Georg Henning, »dieser junge Mann ist Mitglied Ihrer Zeitung, Herr Stuff, und heißt Tredup.«
Stuff starrt Henning an, wendet sich dann zu Kalübbe, der bejahend mit dem Kopf nickt. Stuff senkt den seinen, greift in die Tasche, spielt mit Schlüsseln. Sieht sich um, fängt an, mit der Uhrkette zu spielen.
Alle drei schweigen.
»Ich will Ihnen etwas sagen, meine Herren. Ich kenne Sie nicht, Herr Henning, und brauche Sie auch nicht weiter zu kennen. Ich weiß Bescheid.
Also am Abend nach der Ochsenpfändung kommt der Tredup erregt zu mir, will einen Bericht schreiben. Eine halbe Spalte. Es werden zwei. Nun ist die Sache so, daß der Tredup kein Gehalt kriegt, nur Prozente von den Annoncen, und wenn er was schreibt, fünf Pfennig für die Zeile.
Ich sage zu ihm: ›Tredup, Ihr Bericht ist gut, aber er ist Mist. Ich weiß, es geht Ihnen dreckig, Sie haben Frau und Kinder, aber diesen Bericht nehme ich Ihnen nicht ab. Diesen Bericht stecke ich eigenhändig in den Bleiofen. Dies ist eine Bauernsache und eine Regierungssache und geht die Stadt Altholm und die Leser der Altholmschen Chronik einen Dreck an.‹«
»Und was tat Tredup? Schimpfte er?«
»Nein, das tat er grade nicht. Er sagte nur, immer, wenn er was Gutes täte, nähme ich es nicht. Und ging ab. Und spricht seitdem kein Wort mit mir, schreibt mir keine Zeile, hilft mir bei keiner Arbeit.«
Henning fragt: »Und er hat nichts gesagt, daß er geknipst hat?«
»Das ist es ja grade. Kein Wort.«
»Dann hat er was vor.«
»Oder die Fotos sind nichts geworden?«
»Warum hätte er dann davon geschwiegen? An dem Abend hatte er sie doch noch gar nicht entwickelt!«
Henning sagt: »Morgen ist der Lokaltermin, und bis dahin müssen wir wissen, ob es Fotografien gibt oder nicht. Sie, Kalübbe, sind außen vor. Der Zug fährt um halb zehn. Bis dahin haben Sie Bescheid wegen Ihrer Aussage. Sie gehen jetzt los, Stuff, und wir treffen uns dann Ecke Stolper Straße und Burstah. Der Tredup wohnt Stolper Straße 72. Gegen halb eins werden wir da sein. Da kommt er aus dem Schlaf und läßt sich leichter bluffen.«
»Der reine Feldherr! – Sie waren draußen? Natürlich.«
»Nur das letzte halbe Jahr. Ich war zu jung. Aber nachher noch: Baltikum, Ruhr, Oberschlesien, wo was los war.«
»Merkt man. Also denn vorläufig!«
Endlich wird die Toilette frei.
In der Stolper Straße brennen nachts nach zwölf kaum noch Laternen. Die beiden Männer gesellen sich schweigend zueinander und machen sich auf den Weg.
Dann fragt Stuff: »Was wurde übrigens mit dem Ochsen von Thiel?«
»Eingefangen und geschlachtet.«
»Natürlich. Aufstallen wäre zu gefährlich.«
»Natürlich. Es gibt immer Verräter.«
Sie gehen schweigend weiter.
Wieder fängt Stuff an: »Ich war nur ein halbes Jahr an der Front. Sonst die ganzen vier Jahre Etappenschwein. Aber ich habe nie etwas dazu getan, mich zu drücken. Es kam daher, weil ich Setzer gelernt habe und man Setzer brauchte.«
»Im Baltikum war es am besten«, sagt der andere nachdenklich. »Gott! So im fremden Land Herr sein! Keine Zivilbevölkerung, auf die man Rücksicht zu nehmen braucht. Und all die Mädchen!«
»Gehen Sie mir ab mit den Weibern! In solchen Geschichten und dabei Weiber!«
»Ich reise«, sprach Georg Henning ruhig, »für eine Berliner Firma in Melkmaschinen und Zentrifugen. Keine Frau weiß mehr von mir.«
»Trinken Sie nicht?«
»Dann geht es.«
Sie gehen schweigend weiter.
»Ich weiß nicht, was Sie für einen Plan haben«, fängt Georg Henning an, »aber ich habe hier einen echten Kripoausweis mit Lichtbild. Und ein Kriposchild.« Er schlägt den Aufschlag des Sommermantels zurück und zeigt das Blechschild der Kriminalpolizei.
»Nein, das geht nicht. Tredup wird unsere paar Kriminalbeamte wohl kennen. Und geht die Sache schief, gibt es einen Riesenkrach. So etwas ist für später gut. Dies geht so, mit Geld.«
»Wie Sie meinen, Kamerad«, sagt der Junge und berührt flüchtig seinen Hut.
Stuff tut das gut. Er geht rascher und sieht unternehmungslustig auf die kleinen, zweistöckigen Buden.
»Es ist die nächste Ecke«, sagt Henning. »Nach dem Hof hin. Wir brauchen nur über das Gatter zu klettern.«
»Sie wissen Bescheid.«
»Ich jage seit fünf Tagen nach ihm. Aber er ist vorsichtig. Geht nie in eine Schenke. Trinkt nichts, raucht nichts, hat nichts mit Mädchen.«
»Der Mann hat kein Geld.«
»Eben. Das sind die schwierigsten.«
»Oder die bequemsten.«
»Der nicht.«
Sie klettern leise über ein Torgatter, biegen um einen Schuppen und der kleine Hinterhof, an zwei Seiten von Gärten begrenzt, liegt vor ihnen.
In einem verhangenen Fenster ist Licht. »Da wohnt er. Lassen Sie sehen.«
Sie versuchen, Einblick zu bekommen. »Nein, nichts? Warum hat er noch Licht? Warum schläft er um eins noch nicht? – Warten Sie. Treten Sie an die Seite, daß er Sie nicht gleich sieht. Ich klopfe jetzt an die Scheibe.«
Stuff klopft leise.
Sein Klopfen ist kaum verhallt, so fällt schon ein Schatten auf die Gardine, als hätte der drin auf das Klopfen gewartet.
»Den überrumpeln wir nicht«, murmelt Stuff und sein Hintermann legt ihm die Hand bestätigend auf die Schulter.
Die Gardine geht zurück, das Fenster öffnet sich und ein dunkler Kopf fragt leise: »Ja? Wer ist da?«
»Ich. Stuff. Kann ich dich mal sprechen, Tredup?«
»Warum nicht? Wenn es dich drinnen nicht geniert? Komm nur rein. Ich mache auf.«
Das Fenster schließt sich wieder, die Gardine geht zu.
»Soll ich gleich mitkommen?« fragt Henning.
»Natürlich. Mit dem macht man doch keine Umstände.«
Eine Tür nach dem Hof geht leise auf. Tredup steht darin. »Komm nur rein, Stuff. Ach, Sie sind zwei? Bitte schön.«
Es ist kein großes Zimmer, in das sie direkt vom Hof kommen. Auf einem Spind brennt eine beschattete Petroleumlampe, beleuchtet Stöße von Briefumschlägen, ein Adreßbuch, Tinte und Feder. An der Wand zwei Betten, Gestalten darin. Tiefes, gleichmäßiges Atmen.
»Sie können ruhig halblaut sprechen. Die Kinder schlafen fest, und meine Frau hört nie, was sie nicht hören soll.«
»Was machst du noch so spät, Tredup?« Stuff deutet auf die Kommode. »Übrigens: Herr Henning – Herr Tredup.«
»Ich schreibe Adressen. Für einen Münchner Verlag. Fünf Mark das Tausend. Die Chronik bezahlt nicht sehr viel, nicht wahr, Stuff?«
»Es hat mir leid getan, Tredup, mit deinem Artikel. Aber ich habe hier etwas Besseres. Deshalb bringe ich den Herrn gleich zu dir, weil er hier nur auf der Durchreise ist. Der Herr kauft Bilder für eine Illustrierte und hat Interesse für deine Bilder von der Ochsenpfändung. Er würde fünfzig Mark für das Bild zahlen.«
Tredup hat den etwas gehemmten Vortrag Stuffs still lächelnd angehört. »Ich habe keine Bilder von der Ochsenpfändung.«
»Tredup! Ich weiß bestimmt. Es ist doch ein schönes Geld für dich!«
»Und ich würde es mitnehmen, wahrhaftig! Ich bin nicht wählerisch. Ja, ich habe geknipst. Aber es ist nichts geworden. So ein Aas von Bauer schlug mir den Apparat aus der Hand.«
»Ich weiß das, Herr Tredup«, sagt Henning. »Ich habe davon gehört. Aber Sie haben schon vorher fotografiert. Einmal. Vielleicht zweimal.«
»Einmal.«
»Gut, einmal. Ich zahle Ihnen für jede Aufnahme, wenn Sie den Film und sämtliche Abzüge mir verkaufen, einhundert Mark.«
Tredup grinst. »Das sind zwanzigtausend Adressen. Einhundertundsechzig Nachtstunden Arbeit. An uns Pechvögeln gehen alle guten Geschäfte vorbei. Die erste Aufnahme ist nur Qualm.«
Stuff sagt beschwörend: »Tredup ...!«
Tredup lächelt wieder. »Nun, Sie glauben mir nicht. Sie halten mich für einen Millionär, der aus Sport Adressen kliert. Das ist zu reparieren.«
Er zieht eine Schublade aus dem Spind und beginnt zu suchen. »Es war ein Rollfilm mit zwölf Aufnahmen. Drei Aufnahmen vom Kirchenneubau in Podejuch. Zwei innen, eine außen, bitte. Zwei Aufnahmen von der Ochsenpfändung. Hier die mit dem Qualm. Halt den Film ruhig gegen die Lampe, dann siehst du, daß es Rauch ist. Hier die mißlungene, als der Bauer mir hundert Mark aus der Hand schlug. Nun kommt eine, die du mir abgekauft hast, Stuff: das verunglückte Auto auf der Chaussee nach Stettin. Sechs. Sieben bis zehn: vier Bilder vom Wochenmarkt. Elf und zwölf die Einweihung der Großtankstelle. Stimmt es?«
»Gott, Tredup, wir glauben dir auch so.«
»Eben nicht.«
»Es tut mir leid«, sagt Henning. »Ich hätte Ihnen das Geschäft gegönnt. Aber vielleicht verkaufen Sie mir die drei Aufnahmen von der Podejucher Kirche. Ich kann sie für meine Illustrierte gebrauchen. Fünf Mark für den Film. Einverstanden?«
»Bitte sehr.«
»So, und nun wollen wir Sie nicht länger stören. Sie sollten auch ins Bett.«
»Ja, ich denke, ich darf heute Schluß machen. Ich bin höllisch müde. Fallen Sie nicht. Warten Sie, ich schließe Ihnen das Gatter auf. Gute Nacht und schönen Dank, die Herren.«
Die beiden gehen die Straße hinunter.
»Glauben Sie«, fragt Stuff zögernd, »daß es so stimmt?«
»Ich weiß nicht recht. Die zwölf Filme lagen ein bißchen sehr parat und abgezählt zurecht.«
»Oh, was das angeht, Tredup ist ein Muster an Pedanterie und Ordnung. Und bei hundert Mark –«
»Das ist auch mein Trost. Sie sagen dann morgen Kalübbe Bescheid, daß er niemanden zu erkennen braucht.«
»Ja. Also denn auf Wiedersehen, Herr Henning.«
»Wir sehen uns schon irgendwo wieder. Hier entlang komme ich zu meinem Hotel. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Tredup hat das Licht ausgemacht und legt sich zu seiner Frau. »Ich will dir etwas sagen, Elise. Wir haben hier zwei Bürgermeister. Der Ober ist rechts, der taugt nichts und hat nichts zu bestellen. Und der Bürgermeister ist links und Polizeichef. Zu dem gehe ich morgen.«
»Du mußt wissen, was du tust, Max«, sagt die Frau. »Sieh nur zu, daß ein bißchen Geld reinkommt. Der Hans braucht Schuhsohlen und die Grete muß unbedingt zwei Hemden haben.«
»Erst einmal haben wir fünfzehn Mark. Aber für fünfzehn Mark bin ich nicht zu kaufen. Auch nicht für hundert. Fünfhundert, das ginge eher.«
Und dann schlafen sie ein.
Tredup geht jeden Morgen gegen zehn auf das Rathaus, wo er beim Bürodirektor nachfragt, ob städtische Bekanntmachungen für den Anzeigenteil der Chronik da sind.
Heute steigt er, nachdem er zwei oder drei Blätter in seine Aktentasche geschoben hat, aus dem Erdgeschoß in den ersten Stock hinauf. Er geht durch eine Flügeltür, ein langer weißer Gang mit roten Türen liegt vor ihm. Er weiß, hier irgendwo residiert Bürgermeister Gareis, der Polizeiherr von Altholm.
Er beginnt die Schilder an den Türen zu lesen: Marktpolizei, Verkehrspolizei, Kriminalpolizei, Kriminalkommissar, Polizeioberinspektor. Da ist es: Bürgermeister. Aber ein roter Pfeil verweist auf die nächste Tür: »Vorzimmer des Bürgermeisters. Anmeldungen nur hier.«
An das Vorzimmer hat er nicht gedacht! Er wird dort sitzen und warten müssen, andere Leute sitzen auch dort, einer erkennt ihn, und Stuff erfährt, daß Tredup, der Werber der rechten Chronik, beim linken Bürgermeister war.
Zögernd macht er kehrt. Er darf seine Stellung, Basis der Existenz von vier Personen, nicht gefährden.
Schon auf der Treppe, kehrt er wieder um. In der Nacht sind aus fünfhundert tausend Mark geworden. Solche Belohnungen zahlen Polizei und Staatsanwaltschaft oft. Und tausend Mark scheinen Sicherheit zu verbürgen, gedeihliches Auskommen ... vielleicht ein kleiner Laden.
Aber das Vorzimmer kommt nicht in Frage. Er muß es wagen. Und mit einem plötzlichen Ruck öffnet er die Tür zum Allerheiligsten. Es ist aber eine Doppeltür und die zweite macht er viel sachter auf.
Er hat Glück. Der Bürgermeister ist allein, er sitzt an seinem Schreibtisch und telefoniert. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür wendet er den Kopf nach dem Besucher. Er kneift die Augen ein wenig zusammen, um ihn zu erkennen, und macht dann eine Geste nach dem Nebenzimmer.
Tredup zieht die Tür leise hinter sich zu und bleibt stehen an ihr, vorgebeugt, aufmerksam und beflissen.
Bürgermeister Gareis telefoniert weiter.
Tredup hat gehört, daß der Bürgermeister der längste Mann von Altholm ist. Aber dieser Mann ist nicht lang, dieser Mann ist ein Elefant, ein Koloß. Ungeheure Glieder, Fleischmassen, kaum vom Tuch zusammengehalten, ein Gesicht mit doppeltem Kinn, hängenden Wangen, dicke fleischige Hände.
Nach seiner ersten abwehrenden Gebärde beachtet der Bürgermeister den Besucher nicht mehr. Er telefoniert ruhig weiter, wann eine Sitzung stattfinden soll, ein uninteressantes Gespräch.
Tredup fängt an, sich im Zimmer umzusehen.
Plötzlich merkt er, daß auch ihn der Bürgermeister beschaut, und ein quälendes Gefühl beschleicht ihn, daß diese klaren hellen Augen – unter einem schwarzen glatten Scheitel – alles sehen: die ungebügelten Hosen, die schmutzigen Schuhe, die schlechtgewaschenen Hände, den fahlen Teint.
Aber nun ist es nicht mehr zu verkennen: über den Hörer weg lächelt ihm Bürgermeister Gareis zu. Und nun weist er auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch steht, macht eine einladende Geste, und jetzt, mitten im Gespräch, sagt er: »Einen Augenblick noch. Ich bin gleich für Sie frei.«
Tredup sitzt, der Bürgermeister legt den Hörer auf, lächelt wieder und fragt rasch: »Also, wo brennt es?«
Plötzlich hat Tredup das Gefühl, daß er diesem Mann alles sagen kann, daß der für alles Verständnis hat. Ein Gefühl wie Rührung, eine heiße begeisterte Bewunderung wallt in ihm auf. Er sagt: »Wo es brennt? In Gramzow, auf den Straßen nach Haselhorst und Lohstedt.«
Der Bürgermeister ist ernst, er nickt ein paarmal, sieht nachdenklich auf einen Mammutbleistift, mit dem seine Hände spielen und sagt: »Da hat's gebrannt.«
»Und die Polizei interessiert sich für die Brandstifter?«
»Vielleicht. Kennen Sie die?«
»Ein Freund von mir. Vielleicht.«
»Ein Freund ist mir zu weitläufig. Sagen wir: Sie. Ein Unbekannter. Größe X.«
»Also mein Freund X.«
Der Bürgermeister bewegt die Schultern. »Sie sind aus Gramzow?«
»Mein Freund? Nein. Aus der Stadt.«
»Dieser Stadt?«
»Wohl möglich.«
Der Bürgermeister steht auf. Tredup bekommt einen Schreck. Es ist, als bewege sich ein Berg. Er steht auf und ist immer noch nicht alle. Ganz von oben tönt die Stimme auf den im Sessel zusammengesunkenen Tredup: »Für alle Vernunft habe ich beliebig viel Zeit, für Unvernunft keine Minute. Wir spielen hier nicht Detektivroman. Sie wollen etwas von mir, wahrscheinlich Geld. Eine Nachricht verkaufen. Ich bin nicht interessiert.«
Tredup will Einspruch erheben. Die Stimme geht darüber fort. »Bitte, ich bin nicht interessiert. Gramzow ist nicht mein Bezirk. In Frage käme der Landrat in Lohstedt. Womöglich auch die Regierung.«
Der Bürgermeister setzt sich wieder. Plötzlich lächelt er: »Vielleicht aber kann ich Ihnen helfen. – Reden Sie also keinen Unsinn, Mann. Raus mit der Sprache. Ich habe in meinem Leben schweigen gelernt.«
Der zerschmetterte Tredup belebt sich wieder. Er sagt eifrig: »Ich war dort, an jenem Nachmittag. Ich habe alles gesehen: die Beamten, die Bauern, die Ochsen.«
»Sie würden sie wiedererkennen, bestimmt?«
Tredup nickt eifrig: »Mehr noch.«
»Sie wissen die Namen?«
»Nein, keine Namen. Aber –«
»Aber –?«
»Aber ich habe zwei Aufnahmen gemacht, die eine vom Feuer nach Haselhorst zu, die andere vom Feuer auf der Lohstedter Straße. Die Bauern sind darauf, die angesteckt haben, die Stroh gestreut haben, die dabei stehen, alle ...«
Der Bürgermeister, ganz Nachdenken, fragt: »Ich kenne die Vernehmungsprotokolle nicht. Aber soviel ich weiß, steht in keinem, daß ein Fremder mit einem Fotoapparat dabei war.«
Flüchtig denkt es in Tredup: »Es ist seine Sache nicht? Er kennt die Protokolle nicht? Und doch weiß er ...« Etwas warnt und darum sagt er nur: »Die Bilder gibt es.«
»Keine gestellten? Wir sehen es sofort.«
»Die andere Seite weiß von ihnen. Heute nacht um eins wurden mir fünfhundert Mark dafür geboten.«
»Ein guter Preis«, bestätigt der Bürgermeister. »Vielleicht sind sie zur Stunde das Zelluloid nicht mehr wert. Jetzt ist Lokaltermin in Gramzow. Wenn die Beamten die Bauern bestimmt erkennen, sind Ihre Bilder wertlos.«
»Wenn ... Der mir fünfhundert bot, wird auch an die Beamten gedacht haben.«
Der Bürgermeister betrachtet sein Gegenüber lange und nachdenklich. »Sie sind nicht unbrauchbar. Was kosten die Bilder?«
»Heute eintausend.«
»Und morgen? Nun, lassen wir das. Es wird nicht unmöglich sein. Sie haben die Bilder hier?«
Tredup weicht aus: »Die Bilder stehen jederzeit zur Verfügung.«
»Ich glaube schon, daß sie existieren. Und sie sind scharf, deutlich? Man erkennt die Leute?«
»Wie ich vor Ihnen sitze, Herr Bürgermeister.«
»Es ist gut, Herr X. Sie warten vielleicht draußen zehn Minuten. Wie gesagt, ich habe kein Interesse. Aber es mag sein, daß Stolpe will. Sie warten also. Und vorläufig besten Dank.«
Tredup ist kaum aus der Tür, schon klingelt der Bürgermeister. »Hören Sie, Piekbusch, Sie nehmen drei Akten in die Hand. Gehen unauffällig über den Gang. Da steht ein junger Mann, schwarzer Schlapphut, verbeulte Knie, Aktentasche, käsig, die Schuhbänder am rechten Schuh sind auf. Unauffällig ansehen, ob Sie ihn kennen. Gleich zurückkommen.«
Sekretär Piekbusch geht.
Der Bürgermeister am Apparat: »Verbinden Sie mich sofort mit dem Regierungspräsidenten. Persönlich und dringlich. Geben Sie mir, bis das Gespräch kommt, den Polizeioberinspektor. Und dann den Amtsrichter Grumbach. Sind Sie dort, Frerksen? Ja, kommen Sie bitte sofort zu mir. Und lassen Sie den Dienstwagen vorfahren. Sie müssen in einer Viertelstunde mit jemand nach Stolpe. Ja bitte, gleich. – Nun, wie ist es Piekbusch, kennen Sie ihn?«
»Gesehen habe ich ihn schon, Herr Bürgermeister, aber ...«
»Also Sie kennen ihn nicht. Gehen Sie zur Kripo herum. Die Beamten, die da sind, sollen unauffällig den Gang entlanggehen, nach verschiedenen Dienstzimmern, auf die Toilette. Sobald ihn einer erkannt hat, anrufen. Nein, besser persönliche Meldung.
Ja, wer ist dort? Herr Amtsrichter Grumbach? – Ja, Herr Amtsrichter, hier Bürgermeister Gareis. Ich wollte bitten, den Lokaltermin in Gramzow, wenn irgend möglich, um zwei Stunden zu verschieben. – Dickes neues Material. – Lokaltermin wahrscheinlich vollkommen überflüssig. – Wieso? Nun, Sie werden sehen. – Man hat auch so seine Quellen. – Ich kann noch nichts sagen, aber ich spreche sofort mit Stolpe. – Ja, meinethalben auf meine Verantwortung. – Das Finanzamt? Ach, was die Beamten schon aussagen! Das reicht doch nicht zu einer Verurteilung, vielleicht nicht einmal zu einer Anklageerhebung. – Entweder alles oder nichts. – Also, Sie hören von mir. Oder vom Regierungspräsidenten. – Was Temborius damit zu tun hat? Weil er Geld bezahlen soll. Geld kostet es. Geld, Geld und noch mal Geld. – Richtig, das laß ich ihm, ich begnüge mich mit dem Ruhm. Also, denn!«
Er hängt ab. Der Sekretär kommt ins Zimmer.
»Gehen Sie nur wieder, Piekbusch. Wenn er erkannt ist, habe ich gesagt.«
»Der junge Mann ist verschwunden, Herr Bürgermeister.«
»Verschwunden?! Das heißt: weggegangen?« Der Bürgermeister starrt. Er denkt: »Wenn mich irgendein Feind geblufft hat! Dann bin ich grenzenlos blamiert. Es kann ein Spion gewesen sein, der horchen wollte, was die Regierung vorhat. Dann bin ich erledigt. Ah bah, das war kein Spion. Er wird Angst bekommen haben.« Und laut: »Sehen Sie auf der Toilette nach, Piekbusch. Der Mann ist nur mal aus den Hosen.«
Piekbusch will gehen. »Halt! Und Frerksen soll kommen. Wo bleibt er denn? – Ach, da sind Sie ja, Frerksen. – Hallo, Piekbusch, was im Vorzimmer sitzt, soll zu Assessor Stein zur Abfertigung. Er soll vertrösten, aufschieben. Ganz Wichtiges zu mir in einer Viertelstunde. – Und nun setzen Sie sich, Frerksen, wir haben eine dicke Sache, wir werden uns in Stolpe bei dem Genossen Temborius endlich mal einen weißen Fuß machen.«