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Zweites Kapitel

Es war ein herrliches Sonntagswetter, da hatte die Frau Meisterin ihren Buchbindermeister soweit bearbeitet, daß er sich in seine guten Kleider warf, um sie auf die Elbchaussee hinauszuführen. Das Wasser liebte Frau Behrens nicht. »Da passiert so viel Malör. Dies Gedrängel an Bord. Und wenn das Ding mal umkippt? Was denn?«

»Kippt nicht,« sagte der Meister.

»Wenn es aber kippt?«

Meister Behrens ließ seiner Gattin gern das letzte Wort. Er war etwas mundfaul. Aber nachgiebig war er deshalb nicht. Seine kleine lebhafte Ehehälfte mußte manchen Kampf mit seinem Eigensinn durchkämpfen. Und in der Regel geschah, was er wollte. Wenn er heute nachgab, so geschah das mit Rücksicht auf die neue Seidenmantille, die er seiner Frau zu Pfingsten geschenkt hatte. Diese Seidenmantille würde im Gedränge leiden. Und wenn es doch kippte – na ja, es konnte ja mal kippen – dann war die Mantille verdorben.

Ja, diese Mantille. Wie hatte sie sich zu diesem seidenen Umhang gefreut. Aber ordentlich vergällt war er ihr schon. »Mile, die Mantille! – Mile, ist die Bank auch rein? – Mile, nimm dich doch in acht!«

Das war lästig, diese ewigen Ermahnungen beim Spazierengehen. Sie mochte das hübsche Ding schon gar nicht mehr umhängen, aber Meister Behrens hätte auf seinen Willen bestanden. Am Sonntag ohne die Seidenmantille ausgehen? Mit ihm? Diese Seidenmantille sollten die Leute sehen, sollten sie bewundern.

So hatte denn Frau Mile auch diesmal die Mantille umgehängt, die ihr übrigens ganz gut stand, hatte ihren neuen Sommerhut mit dem blauen Flieder aufgesetzt, und hatte geduldig stillgehalten, als ihr Herr und Meister noch vorsichtig an ihr herumgebürstet hatte, während er besorgt daran dachte, wie sie heute abend nach dem Spaziergang aussehen würde. Staubig und vielleicht mit den Erinnerungsmalen unsauberer Gartenstuhle.

Christian, der Lehrling, der als Hauswächter zurückbleiben mußte, hatte Meister und Meisterin bis an die Tür gebracht, um da noch einmal die unausbleiblichen Ermahnungen Frau Miles zu empfangen.

»Und mach mir auch kein Undögt, hörst du? Kaffee und alles hab ich euch hingestellt. Und Hugo soll auch meine Schwägerin grüßen. Ich käme mal vor, nächste Woche.«

Jetzt schloß sich die Tür hinter ihrem redseligen Mund, und Christian schlurfte pfeifend, den rechten Fuß leicht nachziehend, über die Fliesen der Diele direkt in die Küche, wo der Kaffee brodelte, den die Meisterin für ihn und Hugo auf den Herd gestellt hatte.

Hugo besuchte Christian dann und wann. Frau Mile hatte nichts dagegen. Da kamen zwei »Sinnige« zusammen, die man schon gewähren lassen konnte.

Christian schob die große, braune Bunzlauer Kanne etwas vom Feuer, er liebte den allzu heißen brenzlichen Kaffee nicht.

Auf dem Küchentisch standen zwei Tassen, bei jeder lag ein Korinthenklöben. »So Jungens wollen auch wissen, daß Sonntag ist.« Christians musternder Blick vermißte aber den Zucker. Darin war Frau Mile nachlässig. Sie selbst trank ihren Kaffee lieber ohne Zucker. Aber Christian war sehr für süßen Kaffee. Er stieg auf den Küchenstuhl, um die weißen Tönnchen auf dem Bort zu untersuchen, ob nicht eine vielleicht Zucker enthielt, Die Meisterin war eine ordentliche Hausfrau. Die Etiketten auf den Tönnchen täuschten nicht. Das Korinthentönnchen enthielt Korinthen, Sago war Sago, und Gries, Gries. Das wußte Christian. Aber dennoch – einmal hatte die Frau Meisterin in dem Sagotönnchen Zucker gehabt, und diesen infolgedessen auch nicht verschlossen. Es könnte doch sein, daß sich das einmal wiederholte. Aber Christian fand keinen Zucker, so eifrig er auch mit seinen kurzsichtigen Augen in alle Tönnchen hineinsah, und er hatte keinen anderen Erfolg, als daß er in seiner Kurzsichtigkeit das letzte Tönnchen mit Korinthen vom Bort stieß. Da lag es in Scheiben, und die süßen kleinen Dingerchen kugelten durch die ganze Küche. Nicht allzu wenig zertrat er mit seinem lahmen Fuß, als er erschreckt vom Stuhl herabplumpte. Das würde einen Segen geben. Diese dumme Zuckersucherei!

Mühsam hatte er die Scherben und die zerstreuten Korinthen wieder zusammengesucht, als die Hausglocke gezogen wurde. Der helle, fast schreiende Laut ließ ihn zusammenfahren, trotzdem er den Klingelnden erwartete. Aber wenn es der nicht wäre? Wenn Meisters wieder zurückkämen, etwas vergessen hätten? Das kam zwar nie vor, wenn der Meister mit ausging, während sie allein oft eines vergessenen Schirmes oder Taschentuches oder Kleingeldes wegen wieder umkehren mußte. Schnell warf er die Scherben in den Ascheimer, und es mußte erst ein zweites Mal klingeln, bevor er zaghaft ging, zu öffnen. Aber es war wirklich Hugo Winsemann, der ihm gleich eine große Tüte unter die Nase schob, deren fettiges Aussehen verriet, daß sie Kuchen enthielt.

»Berliner!« sagte Hugo scherzend.

»Das ist famos!« rief Christian. »Der Kaffee ist schon fertig.«

Hugo zog schweigend noch eine kleine Tüte aus der Tasche. »Zucker,« sagte er kurz.

»Zu dumm!« rief Christian, worauf ihn Hugo verständnislos ansah.

Christian klärte ihn auf

»Ja so. Das hättest du nachlassen können,« meinte Hugo. »Nun gibts Wichse und war gar nicht mal nötig.«

»Wichse? Von wem?« fragte Christian gekränkt.

Hugo errötete. Er wüßte, daß Christian von Frau Mile nichts zu fürchten hatte und daß nur Frau Sophie mal imstande sein könnte, Wichse zu verabfolgen, und daß er sich's wahrscheinlich gefallen lassen würde. Und diese Erkenntnis beschämte ihn. Er war froh, daß Christian auf dieses Thema nicht weiter einging und anfing, die »Berliner« auszupacken, wobei er sich ein paarmal die Finger leckte.

»Sind doch gefüllt?« fragte er.

»Ich weiß nicht.«

Christian brach entschlossen einen der Pfannkuchen durch.

»Pflaumenmus.«

»Dann is in den andern auch was in,« sagte Hugo. Und die beiden großen Jungens waren glücklich, daß da »was in« war.

Sie saßen am Küchentisch und ließen sichs schmecken, schlürften ihren Kaffee und leckten sich ab und zu die von Fett und Zucker klebrigen Finger geräuschvoll ab.

»Hast auch wieder Kinder wiegen müssen?« fragte Christian.

»Ach, weißt du – wenn ich nicht will, hab ichs ja nicht nötig. Mutter sagt das auch. Aber wenn das nicht lange dauert.« »Kann doch das Mädchen machen.«

»Die Paula? Na, die hat auch genug auf n Hals, wenn die man lange bleibt.«

»Mußt du ihr noch immer Wasser tragen?«

»Müssen?« sagte Hugo überlegen. »Die hat mir auch was zu sagen.«

»Warum tust du es denn?«

»Warum? Ich hab es ein paarmal aus Gefälligkeit getan. Und dann reißt es immer gleich ein. Ich lach ihr jetzt auch was.«

»Wie ist denn der Alte?«

»Ach, der ist ganz nett. Du kennst ihn ja. Nur immer so grölich.«

»Na, sie ist auch nicht leise.«

»Die? Die hört man drei Häuser weit. Und immer hat sie was zu quäsen. Er schreit man nur so, er meint das nicht so. Aber sie ist n Aas.«

»Du sollst das Aas aber doch grüßen, soll ich dir sagen. Und unsere Alte würde diese Woche mal rumkommen. Vergiß nicht. Sonst krieg ich n Ler.«

Hugo schlürfte den letzten Tropfen seines Kaffees, indem er den Kopf ganz in den Nacken legte.

»Ich will schon dran denken,« sagte er und löffelte sorglich den klebrigen Zuckerrest aus der Tasse.

Nach dem Kaffee ging es in die Werkstatt, worauf sich Hugo schon die ganze Zeit gefreut hatte. Es war sonntäglich sauber hier. Christian hatte wie immer am Sonnabend alles aufpacken und die ganze Werkstatt ausfegen müssen. Kein Papierschnitzel lag umher. Und die Bücher, fertige und unfertige, lagen aufgestapelt, wie sie zusammengehörten, Leim- und Kleistertopf standen auf ihrem Bort, und die Gerätschaften lagen an ihrem Platz. Meister Behrens hielt auch in der Werkstatt pedantisch auf Ordnung.

Die Fenster standen offen, und die frische Sommerluft zog durch den Raum, konnte aber doch gegen den hartnäckigen Kleister- und Leimgeruch, der hier allem anhaftete, nicht recht aufkommen.

Hugo drehte mal an der Presse und befingerte eine kleine Stempelmaschine, aber sein Hauptinteresse galt doch den Bücherstapeln, die auf dem Werktisch lagen. Wie beneidete er Christian um diese kleister- und kalikogeschwängerte Atmosphäre, sie schien ihm köstlicher als die Holz- und Leimdüfte der Tischlerwerkstatt, wo man immer zwischen Hobelspänen und Sägemehl herumstapfte, zwischen langweiligen, schweren, toten Brettern lebte, die zu langweiligen, schweren, toten Schranken, Kommoden und Tischen zusammengenutet und geleimt wurden. Und war mal etwas Feineres, Interessanteres, dann machten es der Altgeselle und der Meister, und im übrigen war es alles Fabrikware und über einen Leisten. Hier war doch jedes Buch ein köstlich Ding für sich und war vor allem ein Buch, etwas was einen Inhalt hatte, der mit tausend Zauberstimmen lockte. Täglich mit Büchern umgehen zu dürfen, mit flinken Blicken von ihrem Inhalt erfassen, welches Glück.

Hugo konnte es nicht lassen, er mußte in einigen broschierten Büchern blättern, wobei Christian ihn mit besorgten Blicken beobachtete.

»Herrn Heinrich seine,« erklärte er. »Der läßt eine Masse bei uns binden. Das sind man Schulbücher. Aber hier, hier sind Bilder in. Das ist n Kunstgeschichte.«

Er bereute schon seinen Hinweis, denn Hugo hatte das Buch sogleich in Händen und war entzückt über die Bilder. »Du, das muß ich mal durchsehen. Nur die Bilder. Mensch, was ein feines Buch!«

Und er nahm das Buch auf den Schoß und besah Bild für Bild. Und auf einmal zierte ein fettiger Daumenabdruck den Rand der Madonna von Holbein. Hugo schlug schnell um und rieb sich die Finger hastig an den Hosen ab. Ob Christian es gesehen hatte? Nein, er hatte es nicht gesehen. Hugo blätterte ein paar Bilder weiter, mit spitzen Fingern, und mochte dann auf einmal nicht mehr. »Komm, laß uns hinaus gehen, es ist so schön im Garten heut.« Und Christian war froh, den Freund wieder aus der Werkstatt los zu sein. Er schnökerte ihm zu viel. Und wenn der Meister etwas in Unordnung fand, quäste er.

Draußen auf dem kleinen sommergrünen Hofplatz war es auch wirklich schöner als in der »Kleisterbude«. Es war kühl und schattig da, die Sonne lag nur noch auf den Dächern ringsherum. Ein Spatzenpaar flog, als die beiden Jungen kamen, aus dem alten Dornbusch auf und setzte sich auf die Dachtraufe des Nachbarhauses. Fast in allen Hinterhäusern waren die Fenster geöffnet. Weiße Gardinen bewegten sich ganz leise im lauen Zugwind. Ein Kanarienvogel sang noch irgendwo. Hin und wieder klang eine helle Stimme, ein Lachen aus irgend einem der offenen Fenster. In einem entfernteren lag ein Mann in Hemdsärmeln und ließ die lange Pfeife behaglich hinauspendeln. Es war ein Sonntagnachmittagsidyll hinter den Häusern, von dem die Straßenpassanten nichts merkten.

Auf der Bank unter dem Dornbusch saß es sich gut, namentlich wenn man so allein sitzen und sich ungestört aussprechen konnte. Und zum Aussprechen gab es genug zwischen zwei Lehrjungen, deren Meister Brüder waren und deren Meisterinnen in Haus und Werkstatt ihre Ansprüche machten.

Christian erkundigte sich grade, ob Hugo auch schon mal wieder was mit der »Alschen« gehabt hätte, als im ersten Stock ein Fenster aufgestoßen wurde und Herr Heinrich dort erschien. Er nickte freundlich herunter und trat wieder ins Zimmer zurück.

Die beiden Jungen erschraken ein wenig. Christian hatte nicht gewußt, daß Herr Heinrich zu Hause sei, oder war er grade erst gekommen? Und Hugo gedachte des Fettfleckes in der Kunstgeschichte.

Herr Heinrich erschien wieder am offenen Fenster und steckte sich eine Zigarre an. Dann lehnte er sich hinaus.

»Habt Ihr noch Platz für mich?«

»O Gott, du, er will runterkommen,« flüsterte Hugo.

Christian rief ein Ja hinauf.

»Mensch, laß ihn doch,« sagte er zu Hugo. »Der tut uns doch nichts.«

Herr Heinrich wollte ihnen aber doch zu Leibe gehen und zwar mit einem Vorschlag, dessen sich die Jungen nicht versahen. Er rückte zu ihnen auf die Bank und erzählte ihnen von Pastor Collasius. Sie hörten ihm mit großen Augen zu und mochten dort wohl mittun. Sie hatten aber beide eine Schüchternheit zu überwinden. Christian von wegen seines Buckels und seines Hinkens. Aber Herr Heinrich wußte alles so hübsch auszumalen, daß sie zuletzt sagten, sie hatten wohl Lust, wenn »ihre Alten«, damit meinten sie die Meister, einverstanden seien.

»Und eure Eltern?« ergänzte Herr Heinrich. »Ach, meine Mutter tut alles, was Sie wollen,« platzte Hugo heraus.

Herr Heinrich lachte.

»Dann hätten wir ja leichtes Spiel.«

Christian hatte keine Eltern mehr. Er war eine Waise und wie Kind im Hause bei seinem Meister. Jetzt wurde er rot, als Herr Heinrich von den Eltern sprach. Das gefiel diesem. Jungen, die rot werden, auch wo sie es gar nicht nötig haben, sind aus einem feineren Stoff.

»Der Anton Krautsch muß auch mitmachen,« sagte Lehrer Heinrich. »Du kennst ihn ja, Hugo, bearbeite ihn.«

Hugo machte ein bedenkliches Gesicht.

»Du meinst, er tuts nicht? Er hat freilich schon andere Sachen im Kopf, ich sah ihn –«. Herr Heinrich besann sich und brach ab. Er hatte Anton vor einer Stunde auf St. Pauli getroffen, die Zigarette im Munde, rücklings auf einem eiergelben Karussellöwen reitend. Und neben ihm, auf einem grasgrünen Drachen, hatte ein älterer Mensch, wahrscheinlich ein Geselle aus der Schlosserei, gesessen. Und der hatte Unsinn mit zwei Mädchen getrieben, die sich breit und frech in dem Schlitten rekelten. Das wollte er den beiden Jungen doch lieber nicht erzählen.

»Ich sehe Anton nur selten,« sagte Hugo.

»Ich sehe ihn täglich,« sagte Christian, »wenn er morgens in die Werkstatt geht, aber ich kenne ihn nicht.«

Und dabei errötete er wieder. Krischan Hink! riefen ihm die Straßenjungen nach. Und das hatte Anton einmal gehört. »Du Britt!« hatte er einen der Schreier angefahren und ihm einen Katzenkopf versetzt. Seitdem trug Christian eine heimliche Liebe zu Anton im Herzen. Aber Anton beachtete ihn nie, und er wagte nicht, den kräftigen Schlosserlehrling mit dem offenen, unbekümmerten Gesicht anzureden. So ein armer Junge mit einem Spitznamen wird schnell scheu.

»Ich werde selbst mit ihm sprechen,« sagte Herr Heinrich. »Er ist ein frischer Bengel. Den lassen wir nicht aus den Fingern.«

Das Herz des Buckligen glühte, als er so Antons Lob hörte. Ob er wohl einmal Freund mit ihm werden könnte? So wie mit Hugo?


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