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Neuntes Kapitel

Ostern wurden Anton Krautsch und Hugo Winsemann bei Pastor Brügge, demselben, der mit dem Klingelbeutel für die innere Mission herumgegangen war, in der St. Michaelskirche konfirmiert. Sie waren jetzt beide im fünfzehnten Jahre und wollten die Schule verlassen und ein Handwerk lernen. Anton sollte zu Schlosser Sichelmann, Hugo hatte durch Lehrer Heinrich eine Stelle bei Tischler Behrens im Herrengraben gefunden. Lehrer Heinrich hatte sein Interesse für Hugo Winsemann nach dessen Vaters Tode verdoppelt. Er glaubte erkannt zu haben, daß in diesem stillen, etwas latschigen Jungen eine feinere Begabung schlummere, vom Vater her natürlich. Er hatte auch bei Hugo den Hang entdeckt, sich vom Alltag ab und einem Leben in Illusionen zuzuwenden und er wollte ihn vor dem Schicksal seines Vaters bewahren. Er hatte das der Mutter versprochen. »Der Junge muß ein Handwerk lernen, das ihn ausfüllt und ihn tüchtig herankriegt und ihm zeigt, was Arbeit heißt und gilt. Und eines, worin er das bißchen Künstlerische, das in ihm zu stecken scheint, verwerten kann. Im Kunsthandwerk kann er einen guten Boden finden.«

»Wenn er man bloß keine Verse macht, ist ja alles gut,« sagte Frau Winsemann. »Sie kennen ihn ja alle die Jahre her, Sie werden schon das Rechte wissen. Er hat ja keinen Vater mehr. Und was soll ich schwache Frau tun. Aber wenn Sie ihn man nicht verlassen, wird ja alles gut werden.«

Durch dieses zuversichtliche Vertrauen der Mutter fühlte sich Herr Heinrich noch mehr verpflichtet, auf Hugo Winsemanns Wege achtzugeben. Tischler Behrens war ein Bruder von Buchbinder Behrens, bei dem Herr Heinrich ein Zimmer im ersten Stock, nach vorne, bewohnte. Und so lief Hugo Winsemanns Weg noch eine Weile fast unter seinen Augen weiter. Denn die beiden Frauen Behrens waren Schwestern wie ihre Männer Brüder, und das eine Haus wußte immer was im andern vorging, woraus denn in diesem Fall auch Herr Heinrich und sein Schützling Nutzen ziehen sollten.

Heute, am Palmarum, steckte dieser noch in seinem schwarzen Konfirmandenanzug, wie Anton Krautsch auch, und saß, den Hut in der Hand, auf einer Stuhlkante in Schiffshändler Ohlsens bestem Zimmer. Und neben ihm auf einer andern Stuhlkante saß Anton Krautsch, auch den Hut in der Hand. Und vor ihnen saßen Schiffshändler Ohlsen und Frau Melitta und ermahnten Anton, der ja nun ihr Mündel war, zur Tugend und einem christlichen Lebenswandel. Hugo nahm andächtig teil daran und sagte treulich mit ja und nein, wie's grade erforderlich war, wenn auch Frau Melitta ihn nur so mit einem viertel Blick christlicher Fürsorge streifte. Er hatte ja auch eigentlich kein Anrecht auf irgendein Stück Ohlsenschen Segens. Er war nur Anton zum Gefallen mit hineingegangen, der sich allein genierte. Und etwas Neugier war auch dabei gewesen. Er bekam nun doch auch mal zu sehen, wie es bei dem reichen Ohlsen aussah. Auch hatte seine Mutter gemeint, es dürfe sich wohl schicken, daß er seinen Besuch da mache. Im stillen hoffte sie, Schiffshändler Ohlsen würde irgendeinen guten Eindruck von ihrem Jungen bekommen und sich vielleicht auch für ihn interessieren. Ach, ihre mütterlichen Illusionen waren ebenso phantastisch, wie die des seligen Herrn Arno Winsemann gewesen waren, der die rauhe Wirklichkeit so wenig kannte.

Hier repräsentierte Frau Melitta Ohlsen die rauhe Wirklichkeit, und in der war für Hugo Winsemann nichts vorgesehen als Abfälle vom Tische Antons. Nur sein Glas Malaga bekam er genau so voll geschenkt, wie der, ein reichliches Maß. Das hatte aber Schiffshändler Ohlsen selbst gefüllt. Frau Melitta hätte auch da einen etwas moralischeren Maßstab angelegt. Er aber wußte, was so Jungens wohl mögen, und daß Malaga nichts mit der Moral zu tun hat. Bei Sherry und Rum ist das ja schon etwas anderes.

Das war die Konfirmationsvisite bei Schiffshändler Ohlsen und das letzte hervorragende Ereignis ihrer Knabenzeit. Oder war es das erste eines neuen Abschnittes? Der war dann feierlich genug eingeleitet worden. Malaga und Moral. Sie hatten beides bis zur Neige genossen.

Draußen aber sagte Anton: »Junge, schmeckte der fein, was? Das war n echten.« Wie auf Kommando fuhren sie beide noch mal mit spitzem Zünglein über die Lippen und waren im übrigen glücklich, daß sie wieder draußen waren.

Sie waren nicht ohne Neid auf Leute, die solchen Malaga öfter genießen mochten, aber Anton sagte, mehr zu seines eigenen Beruhigung:

»Immer trinken sie so n teuern Wein auch nicht. Das glaub man nicht.«

Und Hugo erklärte wegwerfend:

»Das möchte ich auch gar nicht. Immer so n süßen Kram.«

Und sie wurden sich einig, daß man nicht alle Tage Malaga trinken könnte, und das war für Knaben, die von den Bänken ihrer Kindheit Abschied nahmen, entschieden eine gute und nützliche Lebensanschauung. Moral täglich, wenn es sein muß, aber Malaga nicht so oft.

Heute sollten sie freilich noch einmal Malaga trinken. Er war zwar nicht so gut wie Schiffshändler Ohlsen seiner. »Richtiges Rosinenwasser,« wie Anton hinterher schalt. Aber Hugo wollte das nicht zugeben. Er wollte auf Frau Mau und ihren Wein nichts kommen lassen. Und vor allem: Mariechen hatte in diesem Wein ihm Bescheid getrunken, mit spitzen Lippen und gekniffenen Äuglein hatte sie wollüstig an dem süßen Saft gelutscht. Man sah es ihr an, es war eine seltene Leckerei für sie. Vielleicht gar ihr erster Schluck Malaga, trotzdem sie schon dreizehn Jahre alt und nicht viel kleiner als Hugo war.

Frau Mau war gar nicht auf die Ehre gefaßt gewesen, zwei so junge, flügge Herren zu empfangen. Und vor allem Anton kam ihr recht unerwartet. Aber Anton wußte ja nichts von damals, und Mutter Krautsch hatte es wohl gar gut gemeint, daß sie Anton zu ihr schickte. So war Frau Mau recht freundlich zu dem Knaben, mit schwerem Herzen. So weit wäre ihr Willi nun auch gewesen. Wie war Gott hart mit ihr.

Mariechen kicherte beständig.

»Ein rechtes Kalb,« dachte Anton.

»Also Schlosser willst du nun werden?« fragte Frau Mau.

»Du? Sie mußt du doch jetzt sagen,« meinte Mariechen.

Anton wurde rot. »Unsinn,« knurrte er.

»Das kommt früh genug,« sagte Frau Mau. »Ich darf wohl noch du sagen.«

»Gewiß, Frau Mau,« versicherte Anton treuherzig.

Frau Mau konnte ihm nicht böse sein, wenn sie seine guten ehrlichen Augen sah.

»Und du, Hugo?«

»Tischler,« rief Mariechen. »Bei Behrens kommt er hin.«

»Dann wollen wir noch mal anstoßen, daß ihr alle beide bald tüchtige Meister werdet,« sagte Frau Mau. Und sie stießen an und tranken aus. Mariechen leckte mit der Zunge den letzten Tropfen vom Glas.

»Rosinenwasser,« sagte Anton nachher.

»Malaga,« sagte Hugo.

Der eine dachte dabei an Mariechen Mau, der andere an Schiffshändler Ohlsens Malaga, der ihm selbst mit Frau Melittens Moral verschnitten besser schmeckte, als der mit dem Zuckerzusatz von Mariechen Maus süßen Blicken. Dieser andere hatte nichts über für süße Blicke. Und auch das war gut für einen, der von der Schwelle seiner Kindheit Abschied nimmt, und seine hellen Augen nun fest und unbeirrt auf ein erreichbares Ziel richten muß.


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