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Herr Heinrich hatte nun schon fünf Jahre lang seinen Mietzins dem Buchbindermeister Behrens auf die Tonbank gezählt. Immer in der Mitte des Monats, wenn er selbst sein Gehalt eingestrichen hatte. Kam er mit gefüllter Tasche nach Hause, stieg er nicht erst in den ersten Stock hinauf, sondern trat von der Diele links in den kleinen Laden, wo auf das schrille Schellen der Ladenglocke Meister Behrens oder auch manchmal die Frau Meisterin erschien, um den Zins entgegenzunehmen. Er, ein kleiner magerer Mann mit etwas herabfallenden Mundwinkeln, in dem Gesicht etwas Sorgenvolles, Verkümmertes, schob dann die große Hornbrille auf die Stirn hinauf und folgte mit großen Augen jedem Zwanzigmarkstück auf seinem Weg aus Herrn Heinrichs Hand bis auf den Ladentisch. Es waren immer deren drei. Eines für die Wohnung und die andern beiden für die Beköstigung. Herr Heinrich hatte sich bei den guten Leuten in Pension gegeben, und er stand sich nicht schlecht dabei. Lagen dann die drei Goldstücke nebeneinander, strich Meister Behrens sie nie ein, ohne noch einmal jedes zählend mit dem Finger betupft zu haben. Waren sie klingend in die Ladenkasse gefahren, rückte er seine Brille wieder auf die Nase, überreichte Herrn Heinrich die schon bereit gehaltene Quittung und bot ihm eine Prise aus seiner Horndose. Herr Heinrich führte dann jedesmal dankend eine Fingerspitze voll Tabak an seine Nase, nieste herzhaft, da er eigentlich kein Schnupfer war, und schüttelte dem Meister die Hand. Was an Gespräch dabei vorfiel, war kurz und betraf gewöhnlich das Wetter.
Die Frau Meisterin war redseliger. Die kleine rundliche Frau war immer vergnügt und zur Unterhaltung aufgelegt. »Wenn man nichts sagt, meinen die Leute, man weiß nichts. Mein Karl weiß n ganze Masse, aber er behält es immer bei sich.«
Nun, sie behielt nichts bei sich. Herr Heinrich ging nie ohne ein paar Neuigkeiten erfahren zu haben von ihr. Und immer tat sie erstaunt, daß er es so eilig mit dem Mietzins hatte.
»Eilt doch aber partou nicht. Wenn man alle so sicher wären wie Sie. Der Schulzen ihrer ist auch wieder ausgerückt. Ist doch rein zu arg. Geschieht ihr aber recht. Die nimmt alles an, was ihr ins Haus kommt. Einsicht muß der Mensch haben, sonst kommt er zu nichts.«
Während solcher muntern Reden ließ sie aber kein Goldstück außer acht. Auch ihre Augen folgten jedem einzelnen, aber es waren lachende, zärtliche Blicke, und sowie das letzte dalag, fuhr sie mit der rundlichen fetten Hand über die Tonbank, und kling, kling, kling, rakte sie das Geld in die Ladenkasse.
Als Herr Heinrich diesmal, es war am 15. September, seinen Zins brachte, teilte ihm Frau Behrens mit großer Wichtigkeit mit, daß Pastor Collasius nach ihm gefragt habe, er wolle aber morgen wiederkommen.
»Er schien es wichtig zu haben. Na, ich wußte ja auch nicht, was ich sagen sollte. Aber Sie möchten sich ja zu Hause halten morgen abend.«
Herr Heinrich kannte Pastor Collasius noch nicht persönlich. Was mochte der so Wichtiges mit ihm zu besprechen haben.
Mit dieser stillen Frage stieg Herr Heinrich in seine Wohnung hinauf. Es waren zwei behagliche Zimmer, die er im ersten Stock innehatte. Das Wohnzimmer sah mit zwei freundlichen Fenstern nach vorne auf die Straße hinaus, das dahinterliegende Schlafzimmer, gleichfalls hell und freundlich, hatte seine zwei Fenster nach dem geräumigen Hof hin, der sogar etwas Grün aufzeigte, ein Rasenstückchen, das der Frau Meisterin als Bleiche diente. Auch ein Weißdorn breitete seine knorrigen Aste an der geteerten hölzernen Rückwand des Hofes aus. Es war ein alter Baum mit einer breiten Krone, die auch in den Nachbarhof hinüberragte. Eine Bank stand darunter, die eben Platz für drei bot, und auf der Herr Heinrich an milden Sommerabenden manchmal mit seinen Wirtsleuten saß, auch wohl mal mit dem Gesellen und dem Lehrling.
Auch vom Fenster aus, wenn die warme Nacht das Schlafengehen lange hinausschieben ließ, plauderte es sich gut mit den hier unten Sitzenden. Lieber noch hatte Herr Heinrich es, wenn da unten alles still war, und er, sein letztes Pfeifchen rauchend, noch in die schöne Nacht hinausträten konnte, der Mond den alten Dornbusch noch mal mit weißen Blüten zu überdecken schien und aus den kleinen Fenstern der umliegenden Hinterhäuser hier und da ein Licht leuchtete, oder eine einsame Handharmonika aus einem offnen Fenster ihre näselnde Stimme durch die stille Nacht hören ließ.
Aus dem vorderen Zimmer sah man auf eine geräuschvollere Welt. Hier floß der Verkehr vom höher gelegenen Schaarmarkt herab dem Hafen zu. Hier waren Wirtschaften, die ihren Lärm bis in die späte Abendstunde auf die Straße hinausließen, hier war eine Schmiede, die tagsüber ihre Hammerschläge Herrn Heinrichs wegen nicht dämpfte, und hier war auch die Schlosserei von Sichelmann, nicht minder geräuschvoll. Und da sie gerade dem Fenster des Herrn Heinrich gegenüberlag, nahm er mit manchem Blick unfreiwillig teil an dem Getriebe dieser fleißigen Werkstatt. Diese befand sich freilich im Hinterhaus, aber sie stand durch einen Torweg mit der Straße in Verbindung. Und in diesem Torweg machten die Eisenstangen und Kupferplatten, oder was sonst noch ein- und ausgeführt wurde, einen ganz besonderen Lärm, wenn sie über das holperige Pflaster gefahren wurden. Trotzdem konnte Herr Heinrich sagen, daß er eine leidlich ruhige Wohnung hatte, denn während der Schulstunden war er diesem Werkstattgetöse entrückt, und abends, wenn er sich an seinen Arbeitstisch setzte, war drüben bald Feierabend. Und an den übrigen Lärm der Straße hatte er sich bald gewöhnt.
Vielmehr hatte ihn in der ersten Zeit das Gewerbe seines Hauswirtes gestört, das, wenn es auch geräuschlos betrieben wurde, doch eine Atmosphäre von Kleister und Leim und Kaliko um sich verbreitete, die Herrn Heinrichs Nase weit beschwerlicher fiel, als jener Lärm seinen Ohren. Doch auch damit versöhnte er sich.
Frau Behrens war sauber, war freundlich und friedlich und kochte gut. Kinder waren nicht im Hause. Nichts drang in seine Stube, als das Schellen der Ladenglocke, der Geruch von Kleister und Leim, und die helle Stimme der Frau Meisterin, wenn sie den etwas schwerhörigen Lehrling rief: »Christian!« und zuletzt in temperamentvoller Ungeduld: »Chris–ti–ahhhn!« Das war zu ertragen und Herr Heinrich fühlte sich wohl in seinen Wänden.
*
Pastor Collasius mußte es wirklich sehr wichtig haben, denn er erschien am selben Abend nochmal. Herr Heinrich saß gerade am Schreibtisch, als der Pastor eintrat. Die beiden Männer waren sich persönlich noch nicht näher getreten, aber sie kannten sich von der Straße her, und es war beiden jetzt mehr wie die Erneuerung einer alten Bekanntschaft, als wie die Anknüpfung einer neuen. Der Pastor begann dann auch ohne Umschweife mit seinem Anliegen herauszurücken.
»Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen. Aber ich muß etwas weit ausholen.«
Herr Heinrich machte eine billigende Verbeugung.
»Es sind soziale Pläne, mit denen ich mich schon lange trage, man gewinnt ja als Geistlicher tiefere Einblicke in Not und Elend – in die Bedürfnisse der Volksseele. Im großen und ganzen standen wir der bisher ziemlich fremd gegenüber. Was wissen die oberen Zehntausend von den unteren Millionen?«
Collasius sprach jetzt fließend, und eine feine Röte überzog sein blasses Gesicht.
»Hier vermittelnd zu wirken, ausgleichend, annähernd – das ist meine Absicht. Verständnis, Verständigung anzubahnen. Vertrauen von Mensch zu Mensch, ungeachtet der verschiedenen sozialen Stellung, des besseren oder schlechteren Rockes, der feineren oder schwieligeren Hand. Wir befehden uns, und wir verstehen uns nicht einmal, wir kämpfen mit Windmühlen. Vom besten Wollen beseelte Don Quixotes auf beiden Seiten.«
Er sah Herrn Heinrich fragend an, als erwarte er Einwände. Aber Herr Heinrich nickte nur leicht zustimmend. Worauf mochte der Pastor hinaus wollen?
»Da will ich nun frischweg anfangen, habe schon angefangen. Bei der Jugend natürlich, und zwar bei der Jugend, die einen Helfer und Wegweiser am nötigsten hat, bei der Jugend, die zwischen Haus und Welt steht, drinnen nicht mehr heimisch, oft nie heimisch gewesen, draußen noch fremd und allen Gefahren ausgesetzt.«
Herr Heinrich glaubte zu verstehen:
»Knabenhorte sind –«
»Nicht das, nicht das,« unterbrach ihn Collasius. »Nein, und nichts Geistliches, nichts Kirchliches. Freundschaft. Ich habe jetzt vierzehn Jungen, Lehrlinge, ein paar sind Ausläufer, die sich zweimal in der Woche bei mir versammeln. Wir lesen, spielen, treiben Handarbeiten, und ich mache Spaziergänge mit ihnen. Ich zeige ihnen Bilder, wir singen zusammen, kurz, was man mit jungen Leuten, deren Freundschaft man erwerben will, eben treibt. Man ist mit ihnen. Aber ich ermüde Sie mit meinen Ausführungen. –«
»Bitte, bitte, ich bin erstaunt – das haben Sie alles so alleine und im stillen gemacht?«
»Ja, und das geht nun eben nicht weiter. Ich brauche einen größeren Raum, der übrigens schon gefunden ist. Wir können uns da ausdehnen. Aber vor allem brauche ich Mitarbeiter, geeignete Kräfte. Und da wollte ich nun bei Ihnen anfragen.«
»Aber wie kommen Sie dazu, bei mir, den Sie doch gar nicht kennen, eine solche Kraft zu vermuten?« fragte Herr Heinrich überrascht.
»Ich kenne Sie wohl,« sagte Pastor Collasius mit feinem und gütigem Lächeln auf seinem blassen Gesicht. »Aus dem Munde Ihrer Schüler. Wir haben einige Knaben, die Ihre Schüler waren und bei verschiedenen Gelegenheiten mit Liebe von Ihnen sprachen. Vor allem erzählten sie begeistert von den Klassenausflügen, die Sie mit ihnen gemacht haben, und da kam mir der Gedanke, das ist dein Mann! Meine Zeit ist amtlich beschränkt. Ich kann nicht jederzeit wie ich möchte. Wir brauchen einen Mann, hoffentlich bald mehrere, mit einem warmen Herzen für die Jugend, als Turn- und Spielleiter. Als Führer bei den oft ausgedehnten Wanderungen, die immer mit Spielen verbunden sind. Kurz, ich brauche Ihnen das nicht alles auseinanderzusetzen. Was ich von Ihnen will, werden Sie schon verstanden haben und nun sagen Sie ja.«
Herr Heinrich lächelte über den Eifer des jungen Geistlichen.
»Erfreut bin ich natürlich über diesen Antrag,« sagte er. »Es spricht so viel Vertrauen von Ihrer Seite daraus, daß ich mich wohl ein wenig geehrt und geschmeichelt fühlen darf.«
»Es sind Ihre alten Schüler, die um Sie werben,« warf Collasius ein.
Herr Heinrich errötete, und sein Gesicht verriet die Rührung, in die ihn dieses Gespräch versetzte.
»Ich lese das Ja von Ihrem Gesicht,« triumphierte der Besucher und hielt ihm die Hand zum Einschlagen hin.
Dieser herzliche Eifer des jungen Kirchenmannes gefiel dem Lehrer. Er hatte den langen, hageren, blassen Mann mit dem stolzen, feingeschnittenen Gesicht und den großen dunklen Augen anders eingeschätzt. Von innerlicher, verzehrender Glut sprachen solche Augen, von heißem Temperament und energischem Willen. Aber diese offene zugreifende Herzlichkeit hatte er nicht erwartet. Nach kurzem Hin- und Widerreden lag seine Hand in der des Werbenden.
»Wir danken Ihnen, lieber Herr Heinrich. Ich sage, wir, denn ich danke Ihnen auch im Namen der Knaben. Es ist ein schönes, großes Feld, das zu bearbeiten ist. Wir brauchen viele Hände. Helfen Sie mir. Und diese Arbeit lohnt sich, trägt Segen. Hier können wir Jesum dienen in einer neuen Kirche, in Liebe und Arbeit, ohne Hader und Zank – nicht wahr. Sie nehmen mir meine, gewiß etwas aufdringlich erscheinende Art nicht übel? Meine Zeit ist gemessen, und da tut man gut, ohne Umschweife zu reden. Und die Liebe Ihrer Schüler hat mir die Courage auch etwas gestärkt.«
Pastor Collasius hatte sich erhoben und reichte Herrn Heinrich die Hand zum Abschied. Er war fast einen Kopf größer als dieser, trotzdem er sich ein wenig vorgebeugt hielt.
»Noch eins,« sagte er nachdenklich. »Sie haben gewiß hier und da Gelegenheit, unter Ihren zu entlassenden Schülern für uns zu werben. Aber erst sollen Sie uns natürlich selbst näher kennen leinen. Später dann.«
Herr Heinrich dachte flüchtig an Hugo Winsemann, und ein langgezogenes »Christian«, das aus dem Hausflur heraufschallte, – Collasius hatte die Stubentür gerade geöffnet – erinnerte ihn auch an diesen armen Jungen.
Der Geruch frischgekochten Kleisters verbreitete sich im Treppenhaus. Ein Zeichen, daß auch die Tür der Werkstatt unten sich geöffnet hatte, wo Christians schlürfende Schritte laut wurden.
»Kleister,« sagte Collasius, schon halb auf der Treppe. »Noch schrecklicher ist Leim.«
»Gewohnheit, Herr Pastor.«
Als Herr Heinrich wieder am Schreibtisch saß, stützte er lange den Kopf in die Hände. Die neue Aufgabe, die er übernommen hatte, beschäftigte seine Gedanken. Es war ihm, als sehe er in eine weite, sonnige Landschaft und atmete den Duft reifender Felder. Mechanisch schob er die Blätter zusammen, an denen er geschrieben hatte. Die Liebe seiner Schüler, hatte der Pastor gesagt. Wer mochten diese Schüler sein? Er ging die Reihe derer durch, die ihm noch im Gedächtnis geblieben waren. Es waren viele. Sie alle hatten sich ihrerzeit mit einem Dank von ihm verabschiedet. Nicht alle mit einem lauten, ausgesprochenem Dankeswort. Aber auf fast allen Gesichtern hatte es gestanden: du warst unser Freund. Schade, daß es nun aus ist. Wir vergessen dich aber nicht. Einige Gleichgültige waren auch dabei gewesen, und bei manchen anderen mochten die guten und weichen Gedanken auch nicht allzulange vorgehalten haben. Aber unter jenen Jungen um Collasius waren einige, die nach ihm verlangt hatten, deren Liebe Zeugnis für ihn abgelegt hatte. Herr Heinrich fühlte sich sehr glücklich an diesem Abend.