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»Zu spät!« war alles, was Dr. Roller und Jarmer sagen konnten, als sie sich vor die unabänderliche Tatsache gestellt sahen, daß die einzige Person, die mit großer Zuverlässigkeit als Mitglied der Bande, die Kilian Menke entführt hatte, entlarvt war, sich aus dem Staube gemacht hatte. Sie erfuhren des weiteren, daß am gleichen Tage wie Baskow auch sein Gefährte Farchau, der gleichzeitig mit ihm ein Zimmer in der Pension seit Mitte Februar innegehabt hatte, abgereist sei, ob mit dem gleichen Reiseziel, wußte niemand. »Aha, das wäre ein zweiter!« bemerkte Dr. Roller. In der »Pension Kröchel« wurde ihnen, nachdem sie sich als Kriminalisten ausgewiesen hatten, des weiteren gesagt, daß Baskow ebenso wie Farchau im Juwelenhandel beschäftigt gewesen seien, und sich als Kommissionäre und Makler in dieser Branche vielfach betätigt hätten. Soweit bekannt, galt Baskow als Mann mit besonderem Sachverstand auf diesem Gebiet; er sei seit Mitte März deshalb häufig tageweise nach Essen gefahren, um dort in den bekannten Edelsteinsammlungen des Großindustriellen Schlünz zu arbeiten. Wieso er mit Schlünz in Verbindung gekommen war, wußte man in der Pension nicht. Vermutlich habe dies ein Bekannter von Baskow namens Brechert vermittelt, der sich seit mehreren Monaten auch in Dortmund aufgehalten habe und mit dem Baskow geschäftehalber, aber vielleicht auch sonst, häufig zusammen gewesen sei. Seit drei Wochen sei Brechert, der irgendwo anders in Dortmund gewohnt habe, in der Pension nicht mehr gesehen worden. Das war alles, was man bei Kröchel zunächst in Erfahrung bringen konnte.
Die beiden setzten sich sodann mit der Kripo in Dortmund in Verbindung, um Näheres über die Untersuchungen des Diebstahls bei Schlünz zu erfahren. Man verwies sie aber nach Essen, weil natürlich dies Verfahren nur dort geführt werde. Sie fuhren also morgens gegen einhalbzehn Uhr weiter nach Essen. Über die Vorgeschichte und die näheren Umstände des sensationellen Diebstahls ergab sich für sie dort folgender Sachverhalt:
Friedrich Schlünz war der erfolgreichste und angesehenste Großindustrielle des Ruhrgebiets; er beherrschte eine Reihe von Zechen, Hochöfen und Walzwerken und galt als einer der reichsten Männer der zivilisierten Welt. Zu seinen besonderen Liebhabereien gehörte eine in Fachkreisen weithin bekannte Edelstein- und Schmucksachensammlung, eine Betätigung, die im Lauf der Jahre dahin führte, daß Schlünz wesentliche Teile seines freien Vermögens in diese einzigartige Puschel hineinsteckte. Dabei ging die Rede, daß auch hierbei das kaufmännische Geschick von Hermann Schlünz insofern zur Geltung käme, als er durch An- und Verkauf seltener Stücke alles in allem sich erhebliche Einnahmen zu verschaffen wußte, so daß man zwar keineswegs von einem Nebengewerbe, wohl aber davon sprechen konnte, daß seine Betätigung mit Edelsteinen nicht nur ein reiner Luxus sei, sondern eben eine höchst sinnvolle Kapitalanlage, die an Sicherheit und Ertrag es mit mancher anderen aufnehmen konnte. Schlünz galt in Fachkreisen als ein unbestechlicher Liebhaber, dessen Urteil und Erachten in allen Fachfragen anerkannt waren.
Gegen Ende Januar hatte sich ein gewisser Kaufmann Kunz Brechert mit Schlünz in Verbindung gesetzt. Brechert stellte sich Schlünz als Diamantenmakler vor und bot ihm bei Ausgestaltung seiner Sammlung seine guten Dienste an. Es stellte sich sehr bald heraus, daß Brechert, der damals übrigens aus Holland zugewandert war und als seinen ständigen Wohnsitz Haag angegeben hatte, über die allerbesten Beziehungen zur Amsterdamer Diamantenbörse verfügte. Er hatte im Lauf der Geschäftsverbindung Herrn Schlünz auf eine Reihe von auf dem Markt befindlichen Raritäten und Gelegenheitsangeboten hingewiesen und mehrere für diesen günstige Abschlüsse vermittelt. Auch bei der Veräußerung älterer Bestände aus den Schlünzschen Sammlungen hatte er seine guten Dienste erfolgreich zur Verfügung gestellt. So hatte sich im Laufe einiger Wochen zwischen dem Magnaten und Brechert eine Art von Vertrauensverhältnis herausgebildet.
Gegen Mitte April wies Brechert Herrn Schlünz auf die Kronjuwelen des Maharadscha von Warangal hin, die sozusagen aus der Konkursmasse des exotischen Großfürsten bei Barzahlung zu besonders vorteilhaften Bedingungen verkauft werden sollten. Der Schatz bestand aus einem kronenartigen Stirnreif, einem Marschallstab, zwei breiten Unterarmringen und einer Schatulle. Er wurde zur Zeit in einer Londoner Bank verwahrt, die zur Führung der Verkaufsverhandlungen legitimiert war. Es sollte sich um eine ganz seltene historische Kostbarkeit handeln, die nach dem Urteil von Gelehrten aus dem elften oder zwölften Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammte, jedenfalls in ihren ältesten Teilen, an der aber in späteren, ebenfalls längst vergangenen Jahrhunderten vielfache Änderungen vorgenommen waren. Das Geschmeide sollte mit unübersehbar vielen Edelsteinen aller Art, zum Teil in einzigartigen Exemplaren und in erstaunlichen, sonst unbekannten Schliffen, geschmückt sein. Kurz und gut, es handelte sich um eine Kostbarkeit, wie sie nur ganz selten einmal auf dem Markt erscheine. Die Preisforderung war auf eine Million undzweihundertfünfzigtausend Reichsmark, zahlbar in englischen Pfunden, beziffert.
So sehr sich Schlünzens Sammeleifer durch diesen Hinweis auch angerührt fühlte, so schrak er im ersten Augenblick wegen der Ungeheuerlichkeit des Objektes doch davor zurück, sich mit der Erwerbung näher zu befassen. Als aber Brechert ihm Photographien und farbige Darstellungen der Schmuckstücke vorwies und ihm bedeutete, daß die Möglichkeit bestünde, das Geschmeide zunächst lediglich zur Besichtigung kommen zu lassen, beauftragte er einen hierfür besonders geschulten Detektiv, das Wunderwerk nach Essen zu schaffen, um es hier einer genauen Prüfung unterziehen zu lassen. Die Londoner Bank stellte die Schmuckstücke Herrn Schlünz gegen Stellung einer entsprechenden Kaution zu diesem Zwecke zur Verfügung, und Mitte Mai traf der Schatz in Essen ein.
Schon viele Wochen vor diesem Zeitpunkt hatte Brechert Herrn Schlünz empfohlen, seine Sammlungsbestände durch seinen Mitarbeiter Baskow durchsehen und prüfen zu lassen, insbesondere daraufhin, ob es nicht zweckmäßig wäre, das eine oder andere ältere Stück, sei es um des einheitlichen Charakters der Sammlungen willen, sei es deshalb, weil andere, mindestens gleichwertige Gegenstände derselben Art vorhanden waren, zu verkaufen, um für Neuerwerbung in der Sammlung noch nicht vorhandener Stücke Mittel freizubekommen. Da Schlünz um diese Zeit gerade keinen gelernten Juwelier in seinem Dienst hatte, der die Bestände zu pflegen hatte, und da der empfohlene Herr Baskow, wie sich ergab, offenbar über bedeutende Erfahrungen und großen Sachverstand verfügte, ging Schlünz auf diese Anregung Brecherts gern ein. Seit Mitte März arbeitete daher Herr Baskow schon in den Sammlungen des Herrn Schlünz; wöchentlich zweimal, manchmal auch öfter, erschien er dort, um das vorhandene Inventarium aufs laufende zubringen, die Wertbezifferungen zu überholen und Ratschläge wegen Verkaufs einzelner Gegenstände und Ankaufs noch vermißter Schaustücke zu erteilen.
Die Familie Schlünz hatte ihren Sitz in der sogenannten »Parkvilla«, einem schloßartigen Wohnhaus inmitten mehrerer Morgen großer, herrlich gepflegter Anlagen. Die Sammlungen waren in einem besonderen Betonbau, der an die Villa angebaut war, untergebracht. Nur eine einzige Tresortür führte von der Villa aus in diesen Anbau, durch die man zunächst in den Vorführungs- und Besichtigungsraum gelangte, der durch breite Fenster, die mit eisernen Rollläden versehen waren, hell erleuchtet war. Es handelte sich um ein geräumiges Zimmer mit behaglich-eleganter Ausstattung; in Vitrinen und auf Börtern standen einige Schaustücke der Goldschmiedekunst; unterhalb der Fenster liefen einige mit dunklem Sammet überzogene Tischplatten, auf denen man einzelne Steine und besondere Stücke besehen und auch durch bereit liegende Vergrößerungsgläser genau studieren konnte. Eine gewöhnliche Tür führte zur Linken in den Arbeitsraum, das sogenannte Labor, ein ebenfalls durch zwei Fenster erleuchtetes, etwas kleineres Gelaß, das mit vielerlei technischem Gerät, namentlich optischer und chemischer Art, ausgerüstet war, zum Teil mit größeren Apparaturen, von deren Zweck und Verwendungsart der Laie sich kein Bild machen konnte. Aus dieser Werkstatt führten an der gegenüberliegenden Wand einige Stufen hinab und wiederum auf eine Tresortür zu, ein wahres Stahlungeheuer von einer Tür mit Schienen und Gelenken und Riegeln, die schwer wie ein Koloß auf ihren unsichtbaren Angeln ruhte, in denen sie sich unhörbar drehen ließ. Dahinter war der Ort, wo die außerordentlichen Kostbarkeiten, die der Sammeleifer des Herrn Schlünz im Laufe von Jahrzehnten zusammengetragen hatte, dem Zugriff aller Elemente und jeder unbefugten Hand entzogen, in ewiger Dunkelheit verwahrt wurden. Der Raum maß etwa zweieinhalb mal drei Meter und war nichts anderes als ein riesiger, zum Betreten durch Menschen eingerichteter Safe. An seinen drei Seiten waren eiserne Schubladen und Fächer verschiedener Größe angebracht, alle mit besonderen Schlüsseln extra verschließbar; jedes trug eine Beschriftung, zum Teil in Geheimzeichen, die dem Kenner den Inhalt verrieten.
Das Labor war der Raum, wo Hermann Baskow seit Mitte März wöchentlich mehrmals seine Inventarisationsarbeiten verrichtete. Um dorthin zu gelangen, mußte er zunächst bei dem Privatsekretär des Herrn Schlünz, der dicht neben dem Eingang zum Anbau sein Arbeitszimmer hatte, sich die Schlüssel zum Anbau, zum Tresorraum und zu den Fächern, mit deren Inhalt er sich jeweils beschäftigen wollte, aushändigen lassen, um sie dort beim Weggeben wieder abzugeben. Sie wurden von dem Sekretär in einem Geldschrank verwahrt. In den ersten Wochen pflegte der Schlünzsche Vertrauensmann stets die Türen und Behältnisse selbst zu öffnen und nach Verwahrung der Schmucksachen auch zu verschließen. Allmählich aber ergab sich die Übung, die zwar den Generalanordnungen des Herrn Schlünz zuwiderlief, daß Baskow die Schlüssel übergeben erhielt und sie lediglich wieder abgab, ohne daß der Privatbeamte ihm zu den Sammlungen folgte. Diese Formalie erschien nämlich um so überflüssiger, als beinahe regelmäßig Herr Schlünz selbst, wenn es seine Zeit nur irgend, zuließ, im Labor vorsprach, um sich von dem Fortgang der Arbeiten Baskows zu überzeugen, mit ihm seine Ansichten auszutauschen und ihm Wünsche wegen einzelner besonderer Untersuchungen mitzuteilen. So stellte sich zwischen dem Inhaber und Baskow im Lauf der Wochen ein unmittelbares Vertrauensverhältnis her, das eine Kontrolle durch den Angestellten völlig entbehrlich machte. Sowohl die Eingangs- wie auch die Tresortür konnten übrigens nur geöffnet werden, wenn man das fast täglich wechselnde Stichwort kannte, auf das die Verschlußmaschinerie eingestellt war; beim Empfang der Schlüssel wurde Baskow also das jeweils für jede Tür gültige Stichwort genannt.
Es verstand sich von selbst, daß Herr Schlünz Herrn Baskow damit betraute, die genaueste Untersuchung des Schatzes des Maharadscha von Warangel vorzunehmen, nachdem diese Kostbarkeit Mitte Mai in Essen angelangt war. Es handelte sich bei dieser Untersuchung um eine umfangreiche und deshalb besonders schwierige Arbeit, weil Schlünz die Verpflichtung hatte übernehmen müssen, keinen Stein zu Untersuchungszwecken aus seiner Fassung zu lösen, sondern das Kunstwerk in seinem Bestande unangetastet zu lassen. Die Kontrolle über die Innehaltung dieser Rechtspflicht, die außerdem durch eine hohe Vertragsstrafe gesichert war, hatte die Londoner Bank einem angesehenen Essener Juwelier übertragen, der wöchentlich zweimal, Dienstag und Freitag, sich das Geschmeide vorlegen ließ, um seinen unveränderten Befund festzustellen. So mußte also Baskow die Bestimmung der Steine unter erschwerten Umständen vornehmen, was nicht nur viel Zeit kostete, sondern auch manches Ergebnis in Frage stellte. Seit Mitte Mai war Baskow durchweg dreimal wöchentlich, in gewisser Regelmäßigkeit Dienstag, Donnerstag und Sonnabend, im Labor, und wenn es irgend anging, besuchte Schlünz ihn auf ein Weilchen, um alle auftauchenden Zweifelsfragen mit ihm durchzusprechen. Auch mit dem kontrollierenden Juwelier, den Baskow immer des Dienstags zu treffen pflegte, wurden besonders interessante oder fragliche Feststellungen durchgegangen, zumal dieser seiner Auftraggeberin, der Londoner Bank, darüber zu berichten hatte, daß die Entscheidung über den Ankauf durch Schlünz nicht über Gebühr hinausgezögert werde.
Der Schatz des Maharadscha wurde in einer besonderen Kassette im Tresor aufbewahrt. Aber Baskow benötigte zu seinen Untersuchungen Vergleichsmaterial aus den Schlünzschen Sammlungen, erhielt also immer auch die Schlüssel zu gewissen anderen Kassetten, in denen ungefaßte Steine verschiedener Sorten aufbewahrt wurden. Der Dieb, der sich fälschlich als Baskow ausgab, hatte also den Schatz aus Warangel und den Inhalt von vier Kassetten mitnehmen können, da er zu diesen Behältnissen die Schlüssel in Empfang genommen, beim Verlassen auch wieder abgegeben, die entnommenen Gegenstände aber in einem Handkoffer – auch der richtige Baskow war manchmal mit einem Koffer gekommen, weil er etwa in Essen zu übernachten beabsichtigte oder auf einer Durchreise bei Schlünz vorsprach – mit sich genommen hatte. Das letztemal vor der Tat war unzweifelhaft der richtige Baskow am Donnerstag in Essen gewesen. Schlünz hatte sich damals zufällig eine gute Stunde seinen Sammlungen widmen können. Als er sich von Baskow verabschiedete, teilte er ihm mit, daß er für ein paar Tage verreisen müsse, also jedenfalls am nächsten Sonnabend nicht anwesend sein werde. Baskow erwiderte, das passe nicht schlecht, denn es sei recht zweifelhaft, ob er seinerseits am Sonnabend, übermorgen, werde kommen können; wahrscheinlich werde er verhindert sein, weil er mit einigen Freunden sich eine kleine Autotour vorgenommen habe, von der er frühestens Sonnabend in aller Frühe nach Dortmund werde zurückkehren können; aber auch für diesen Fall werde er wohl zu übernächtig sein, um verständig arbeiten zu können. Schlünz war es zufrieden, und ging mit einem »Auf Wiedersehen in der nächsten Woche!« fort. Auch von dem Privatsekretär verabschiedete sich Baskow mit der Bemerkung, daß es noch ungewiß sei, ob er am Sonnabend werde kommen können, da er einen Vergnügungsausflug vorhabe.
Am Sonnabend, genau, wie der Hauswart erinnerte, um einhalbelf Uhr, erschien dann der Mann, der für Baskow gehalten wurde, wieder. Der Hauswart öffnete ihm, ein Dienstmädchen traf ihn auf dem Flur auf dem Wege zum Sekretariat. Es fiel ihr auf, daß Baskow sich in der Tür vergriff und zunächst diejenige öffnete, die in eine Schreibstube führte, worauf er mit einem kurzen »Pardon«, als er seinen Irrtum erkannt hatte, die Tür wieder schloß und richtig in die Stube des Privatsekretärs gelangte. Dort verwunderte der Sekretär sich kurz, daß Baskow also doch gekommen sei; dieser murmelte etwas in der Art, indem er auf den mitgebrachten Handkoffer hinwies, daß er sich von seinen Reisegefährten vorzeitig getrennt habe, ließ sich die Schlüssel aushändigen und die beiden Stichwörter sagen, »Wert« für die erste, »Dieb« für die zweite Tür, worauf er sich in gewohnter Weise in das Labor begab. Keiner Person war der geringste Zweifel gekommen, daß es sich bei diesem Manne nicht um Herrn Baskow handeln könne. Allerdings habe er unüblicherweise einen Sportanzug mit Kniehosen angehabt, aber dieses sei ja durch die unterbrochene Reise erklärt, auch habe er einen etwas verschlafeneren Eindruck als sonst wohl gemacht, aber irgendwie auffallend sei das keineswegs gewesen. Der für Baskow Gehaltene hielt sich bis ziemlich genau eineinhalb Uhr im Labor auf. Dann gab er ordnungsgemäß die Schlüssel ab, indem er in den Bart brummte, er sei doch reichlich abgespannt von der Reise, um heute noch länger arbeiten zu können. Beim Abschied wurde er wieder von dem Hausmädchen und dem Hauswart gesehen, der ihm das Portal öffnete. Langsamen Schrittes ging er von dannen. Niemandem konnte auch nur augenblicksweise die Idee kommen, im Anbau nachzuschauen, ob dort denn auch alles in Ordnung sei.
Herr Schlünz kehrte an diesem Sonnabend abends gegen einhalbacht Uhr von seiner Geschäftsreise zurück. Eine halbe Stunde später rief ihn Herr Brechert aus Dortmund an. Dieses Ferngespräch hatte folgenden Verlauf:
»Baskow hat mir mitgeteilt, daß er wegen einer Vergnügungsreise heute bei Ihnen nicht gearbeitet hat. Ich finde das falsch; denn wir müssen unsere Untersuchungen beschleunigen, wenn die Londoner nicht ungeduldig werden sollen. Ich habe ihn darum gebeten, am Montag das heute Versäumte nachzuholen. Paßt es Ihnen, wenn er Montag früh kommt?«
»Gewiß, das paßt vorzüglich. Aber hören Sie mal, ich müßte mich verdammt täuschen, wenn auf meine kurze allgemeine Anfrage bei meinem Nachhausekommen mein Hauswart mir nicht gesagt hätte, daß Herr Baskow heute morgen drei Stunden hier gearbeitet hätte.«
»Ausgeschlossen! Das muß ein Mißverständnis sein. Ich war ja den ganzen Vormittag bis Nachtisch mit Baskow hier in Dortmund zusammen. Nein, der hat heute leider bei Ihnen geschwänzt.«
»Das ist doch etwas merkwürdig. Bitte warten Sie einen Moment, ich will eben mal mit dem Hauswart sprechen.« Nach etwa drei Minuten meldet sich Schlünz wieder: »Also, was soll man davon halten? Mein Hauswart und auch mein eines Dienstmädchen erklären übereinstimmend, daß Herr Baskow heute morgen von etwa zehneinhalb bis gegen eineinhalb hier gewesen sei.«
»Was denn! Bei Ihnen im Labor?«
»Natürlich, wo sonst wohl? Er hat da wie immer gearbeitet.«
»Um des Himmels willen, Herr Schlünz, das war bestimmt nicht Baskow, ich sagte Ihnen doch schon, der war mit mir zusammen hier in Dortmund, er steht übrigens neben mir, und kann es Ihnen selber bestätigen. Ich überlasse ihm eben den Apparat.« Jetzt meldet sich Baskow:
»Was muß ich hören, Herr Schlünz! Ich soll heute morgen bei Ihnen im Labor gewesen sein? Das ist ein Irrtum, ich war nicht da; ich sagte Ihnen doch am Donnerstag, daß ich vermutlich wegen meines Ausflugs wegbleiben würde. Ich bin tatsächlich heute morgen erst kurz vor sechs Uhr zurückgekehrt und deshalb lieber hier geblieben.«
»Aber Menschenskind, das ist ja total unheimlich! Hier neben mir steht mein Hauswart, der hat Sie doch selber heute morgen herein- und herausgelassen, machen Sie doch keine faulen Witze!«
»Verzeihung, verehrter Herr Schlünz, zum Witzemachen ist mir verdammt nicht zumute. Ich kann Ihnen nur im vollen Ernst wiederholen, was ich eben gesagt habe. Ich war heute morgen nicht bei Ihnen! Jetzt kommt wieder Herr Brechert.« Schlünz sagt in bebender Aufgeregtheit:
»Haben Sie das gehört, Herr Brechert? Verstehen Sie ein Wort von alledem?«
»Mir scheint nur eine einzige Erklärung möglich. Unter der Maske unseres Freundes Baskow muß sich irgendein Verbrecher eingeschlichen haben; der Zweck kann ja nur sein, den Schatz zu rauben. Waren Sie schon in Ihrer Sammlung und haben Sie sich überzeugt, daß alles in Ordnung ist?«
»Nein, natürlich nicht, ich komme ja gerade von der Reise. Aber warten Sie, ich schaue sofort nach, bleiben Sie bitte am Apparat.« Diesmal dauert es fast zehn Minuten, ehe sich Schlünz wieder meldet:
»Sie haben mit Ihrer Vermutung elend recht. Der Maharadschaschmuck und, weiß Gott, was sonst noch für Steine sind weg! Das ist ja ungeheuerlich!«
»Wie konnte das bloß in aller Welt passieren? Ein Glück, daß ich zufällig heute abend noch anrufe, weil ich mich über das Schwänzen von Baskow so geärgert habe. Sonst wäre die Schweinerei ja, Gott weiß, wann erst entdeckt! Also klingeln Sie sofort die Kriminalpolizei an, lassen Sie alles aufnehmen, Fingerabdrücke und so, setzen Sie eine gehörige Belohnung aus. Der Kerl hat ja noch keinen großen Vorsprung, wir kriegen ihn noch, passen Sie auf!«
»Ich werde das sofort veranlassen. Inzwischen bitten Sie Ihren Herrn Baskow, daß er sich zur Verfügung der Polizei hält; denn natürlich muß eingehend geprüft werden, ob er bei dieser gemeinen Schurkerei nicht seine Hand im Spiele hat.«
»Sie befürchten, Baskow sei beteiligt? Aber wieso denn?«
»Nun, er könnte doch den Täter instruiert haben, zum Beispiel!«
»Ja so, das wäre natürlich theoretisch denkbar, obgleich ich sagen muß ... Aber lassen wir das, ich veranlasse auf alle Fälle, daß Herr Baskow die nächste Woche sich keinen Schritt aus Dortmund entfernt und für die Polizei jeden Augenblick greifbar ist. Darauf bitte ich, sich zu verlassen.«
Soweit dieses denkwürdige Telephongespräch. Die noch in der Nacht aufgenommene polizeiliche Untersuchung ergab, daß der Täter offenbar mit Handschuhen gearbeitet hatte, jedenfalls waren nirgendwo Fingerabdrücke festzustellen. Weiter stellte eine Gegenüberstellung zwischen Baskow einerseits und dem Privatsekretär, dem Hauswart und dem Hausmädchen andrerseits klar, daß diese mit großer Überzeugung dabei verblieben, daß niemand anderes als eben der ihnen jetzt gegenüberstehende Herr Baskow am Sonnabend die Sammlungen besucht habe, so daß man in Essen zunächst Baskow in Haft behielt. Aber das Unbegreifliche war, daß nicht nur seine nächsten Bekannten, wie Brechert, Wilster und Farchau, von denen die beiden letzteren seit Donnerstag abend zusammen auf einer Picknickfahrt durch den Teutoburger Wald mit ihm in Farchaus DKW gewesen sein wollten, sondern eine Fülle gänzlich unverdächtiger und zufälliger Zeugen, so das Personal in der »Pension Kröchel«, der Juwelier Praller, das Ehepaar Wiedenhopp und eine beliebige Anzahl der Gäste, die bei ihnen den Festzug mitangesehen hatten, die Pensionäre Alving, Meiring und Düsterling und andere mehr für jede Stunde dieses Sonnabends mit der gleichen unbeirrbaren Zuversicht und Überzeugungstreue bekundeten und jederzeit zu beschwören bereit waren, daß sie eben um die Zeit, wo der Attentäter bei Schlünz gewesen war, mit Baskow, jawohl! mit eben diesem hier vor ihnen stehenden Baskow, zusammengewesen seien. Einzelne Zeugen, wie Praller, Herr Wiedenhopp, eine junge Frau Specht, mit der Baskow sich während des Festzuges angelegentlich unterhalten hatte, gaben zwar an, daß dieser von seinem Ausflug etwas ermüdet gewesen sei und daher nicht ganz den sonst gewohnten lebhaften Eindruck gemacht habe, aber daran, daß sie es alle mit dem ihnen wohlbekannten Herrn Baskow zu tun gehabt hatten, bestand für keinen von ihnen der geringste Zweifel. Besonders überzeugend war, was Herr Düsterling über ein Gespräch aussagte, das er ziemlich genau um halb zwei Uhr zu Beginn des Mittagessens im »Stadtpark« mit Baskow geführt hatte. Die Rede sei zufällig auf Spezialfragen der Edelsteinforschung gekommen, wobei Unterhaltungen fortgesetzt worden seien, die er in den letzten Wochen mit Baskow gehabt hatte. Dieser habe dabei in heiterer Laune beim Mittagessen wohl einige bei ihm gewohnte Scherze gemacht, aber sonst sich völlig im Bilde gezeigt und zum Schluß lebhaft bedauert, daß wegen des Einspruchs der Mittafler die interessante Unterhaltung bei Tisch nicht fortgesetzt werden konnte. Es sei einfach abstrus, zu glauben, das sei damals bei Tisch ein anderer als der ihm bestens bekannte Baskow gewesen.
Dieses Beweismaterial ließ jede Spur eines Verdachtes, daß Baskow selbst den Raub ausgeführt habe, schwinden. Es war unendlich viel naheliegender, daß die drei Schlünzschen Angestellten, die mit Baskow niemals in persönlichem Verkehr gestanden hatten und die mit ihm am Sonnabend, wenn überhaupt, nur wenige, nichtssagende Worte gewechselt hatten, sich irrten und einer Sinnestäuschung unterlagen, als daß die Sphalanx der Dortmunder Zeugen, die durchweg angesehene und gänzlich unbeteiligte Leute waren, sich in einer Person geirrt haben sollten, mit der sie zum größten Teil seit Monaten in ziemlich regem persönlichen Verkehr standen, zumal da sowohl das Hausmädchen wie auch der Hauswart einräumten, daß der für Baskow Gehaltene einen etwas unsicheren und ungewohnt wortkargen Eindruck gemacht habe. Da die am Telephon geäußerte Vermutung des Herrn Schlünz, daß Baskow mit dem Täter unter einer Decke stecke, durch nichts Nahrung fand, man überhaupt nicht den leisesten Anhaltspunkt dafür hatte, wann und wieso eine solche Fühlungnahme wohl stattgefunden haben könnte, so mußte Baskow wieder auf freien Fuß gesetzt werden, weil man seine Unschuld für festgestellt hielt. Zwei Wochen lang noch hatte er sich zur Verfügung der Polizei in Dortmund zu halten, falls neue Ermittlungen etwa den Verdacht wieder bekräftigen sollten, dann verlor er für die Polizei jedes Interesse, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, als er sich um Mitte Juli, etwa fünf Wochen nach dem Diebstahl, aus der Pension abmeldete, um sich in das Ausland zu begeben. Unmittelbar nach seiner Haftentlassung wurde Baskow übrigens auf besonderen Wunsch des Herrn Schlünz mit dazu herangezogen, um den genauen Wert der entwendeten Kostbarkeiten an Hand des zuletzt von ihm geführten Inventars festzustellen. Wenn man den Wert der Kronjuwelen mit den dafür geforderten eine Million und zweihundertfünfzigtausend Reichsmark gleichsetzte – dieser Betrag verfiel als gestellte Kaution zu Lasten des Herrn Schlünz bei der Londoner Bank –, so ergab sich als Gesamtverlust der Betrag von zweiundeinehalbe Million, weil die geraubten, ungefaßten Steine mindestens den gleichen Wert wie das Geschmeide hatten, darüber hinaus aber für Diebe als Handelsware besonders leicht verwertbar erschienen.
Nachdem der Verdacht der Täterschaft oder Mittäterschaft Baskows erledigt war, hatten die Ermittelungen jede klare Richtung verloren. Sie wurden vornehmlich dahin vorgenommen, welche nach den Verbrecherlisten als Hochstapler oder Juwelendiebe in Betracht kommenden Personen möglicherweise als Täter verdächtigt werden könnten, da dieser Monstrecoup nur Verbrechern von größtem Format zuzutrauen war. Alle Vermutungen, die man in diesen Richtungen aufstellte, zerfielen aber bei näheren Feststellungen in nichts; ebenso ergebnislos waren die Nachforschungen nach dem Verbleib des Diebesguts, die natürlich auch ohne festen Plan vorgenommen werden mußten.
Zusammenfassend ließ sich nur feststellen, daß die Ermittlungen in der Diebstahlsache Schlünz in der zweiten Hälfte Juli auf genau dem gleichen toten Punkt angelangt waren, auf dem diejenigen betreffend das Verschwinden Kilian Menkes sich zur gleichen Zeit befanden. Die Belohnung, die Herr Schlünz auf die Wiederbeschaffung des Raubes ausgesetzt hatte, war inzwischen auf zweihundertfünfzigtausend Reichsmark erhöht.