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Diese Geschichte von Thetsche Müller war brausendes Wasser auf die Theorie Dr. Klotzes. Das war ja genau das, was er suchte: ein Freund, der ein Lump war, ein genialer Flegel, dem alles zuzutrauen war, ein Mann, der mit Kilian Menke eine vergessene Affäre abzumachen hatte, ein Schauspieler, der ein Meister der Verstellung war, dazu eine verworren-undurchsichtige Beziehung zwischen dem Verschwundenen und dem Übeltäter, gemischt aus sich anziehenden und sich abstoßenden Momenten, das war weit mehr, als die kühnste Phantasie sich hätte träumen lassen können.
Hoch befriedigt fuhr Dr. Klotze nach Lüneburg zurück, überzeugt, daß all seine erpichte Mühe und Emsigkeit zum Schluß, als er jede Hoffnung schon aufgegeben hatte, dennoch zu unwahrscheinlichen Ergebnissen geführt habe. Sogleich nach seiner Ankunft fand eine eingehende Besprechung mit Sack und Jarmer statt, bei der Dr. Klotze an Hand seiner protokollarischen Aufzeichnungen und seines sorgfältig geführten Tagebuches über jede Einzelheit genauestens Bericht erstattete. Auch über die Darstellung Uwe Menkes legte er eine von diesem unterzeichnete Niederschrift vor, wie auch der Bruder Raimund seine Bekundung über die Behandlung des Schriftwechsels mit Theodor Müller unterschriftlich hatte bestätigen müssen. Zum Schluß stellte er fest, daß angesichts des Fehlens jeden denkbaren sonstigen Anhaltspunktes er überzeugt davon sei, daß man vor allem weiteren diesem Thetsche Müller auf die Spur kommen müsse, da allem Anschein nach hier der Schlüssel des Geheimnisses liege.
Sack und Jarmer stimmten ihm bei; auch Jarmer gab zu, daß die Nachforschungen nach diesem Müller unbedingt erforderlich seien, da ja mindestens die Möglichkeit, daß das Schicksal Kilian Menkes mit diesem in Verbindung stehe, nicht von der Hand zu weisen sei. Im übrigen ließe sich ja, soweit er sehe, im Augenblick doch nichts Gescheiteres und Erfolgversprechenderes anfangen. Die Suchvermerke liefen bei allen Dienststellen. Aber außer dieser belanglosen Meldung aus Dortmund sei nicht das mindeste eingegangen. Übrigens, nebenbeibemerkt, die Dortmunder Polizei habe einen Nachtragsbericht gesandt, daß der Mann aus Dortmund, Baskow heiße er übrigens, zu Beginn der letzten Woche unter dem Verdacht des Diebstahls festgenommen worden sei; er sei aber nach zwei Tagen wieder entlassen, weil er seine Unschuld habe nachweisen können. Damit sei ja nun außer jeden Zweifel gestellt, daß es sich bei dieser Person nicht um Kilian Menke handeln könne; denn daß dieser, selbst wenn er irgendwo blödsinnigerweise unter falschem Namen herumlaufen solle, keinen Diebstahl begehen oder sich auch nur so benehmen würde, daß er in den Verdacht des Diebstahls gerate, davon sei jedermann und sogar auch Dr. Klotze überzeugt.
»Da haben Sie recht«, antwortete dieser lächelnd auf die kleine Spitze. »Wenn es Kilian Menke um Diebstähle zu tun wäre, hätte er dazu ja hier in Lüneburg bei dem ungeheuren Vertrauen, das man ihm allseitig entgegenbringt, Gelegenheit genug; er brauchte nicht einmal zu stehlen, er brauchte nur zu unterschlagen, da er bei Lengfeldt Söhne ja über Unsummen verfügen kann. Übrigens der Prokurist in Bremen hat diesen anderen, – wie heißt er? Barkow? – in Dortmund auch getroffen und ihn natürlich prompt für unseren Menke gehalten.«
»Zur Sache, meine Herren, meine Zeit ist gemessen«, rief Sack zur Ordnung, »das führt uns nicht weiter. Ich denke, wir veranlassen zunächst die Kripo in Fulda, nach Herkommen und Verbleib dieses Müller zu forschen; gleichzeitig ist dann in Hannover nachzufragen, insbesondere darüber, ob damals ein Verfahren gegen den Mann geschwebt hat oder ob sonst etwas bekannt ist, in welch eine Schuftigkeit er verwickelt war. Sie veranlassen das Weitere, Jarmer, nicht wahr? Ob dann später einer von uns sich an Ort und Stelle persönlich umsehen muß, hängt vom Ausfall der Ermittelungen ab. Sonst noch etwas, meine Herren?«
Der Polizeibericht aus Fulda ging nach zehn Tagen ein. Theodor Müller war das einzige Kind des vor zwölf Jahren verstorbenen Holzhändlers Müller und seiner ihm ein halbes Jahr später in den Tod gefolgten Ehefrau Creszentia, geborenen Wiese. Beide hatten in katholischen Kreisen der Stadt eine führende Rolle gespielt, der Mutter wurde Bigotterie nachgesagt, im übrigen waren beide angesehene Bürgersleute gewesen. Das nicht bedeutende Geschäft wurde nach dem Tode des Inhabers liquidiert, der Hausstand nach dem Tode der Frau aufgelöst. Vater Müller war um die Jahrhundertwende aus Baden eingewandert, die Mutter stammte aus Franken, Verwandte gab es daher weder in Fulda noch in der Umgebung. Über den Sohn Theodor war Nachteiliges nicht bekannt. Er hatte die Schule ohne Abgangszeugnis verlassen; seine Leistungen dort wurden als mäßig, sein Betragen als tadelnswert bezeichnet.
Ergiebiger waren die Meldungen aus Hannover, die reichlich zwei Wochen auf sich warten ließen. Theodor Müller war in der Spielzeit vor nunmehr sechs Jahren als jugendlicher Chargenspieler angestellt; seine künstlerischen Fähigkeiten wurden günstig beurteilt, sein Verhalten gegenüber Kollegen gelobt. Aufgefallen war eine gewisse Haltlosigkeit an ihm, die dann auch dadurch bestätigt wurde, daß er vor vier Jahren bald nach Neujahr aus unbekannten Gründen plötzlich aus dem Engagement fortgelaufen war; sein Vertragsbruch wurde in einem gegen ihn als Abwesenden durchgeführten Verfahren vor dem Bühnenschiedsgericht festgestellt. Über seinen Verbleib war nichts Sicheres bekannt; dem Vernehmen nach sollte er sich in das Ausland begeben haben. Er war einmal wegen groben Unfugs bestraft (er hatte einen blechernen Hut von dem Firmenschild eines Hutladens entfernt und ihn auf den Kopf des Standbildes von Bismarck gestülpt), sonst aber polizeilich nicht aufgefallen und nicht vorbestraft. Über seinen persönlichen Umgang war nichts Zuverlässiges mehr zu ermitteln. Seine letzte Logiswirtin bekundete, daß er während des letzten Vierteljahres in regem Verkehr mit einem jungen Mädchen aus Hildesheim gestanden habe, die einen adeligen Namen – von Riemark oder so ähnlich – gehabt habe. Sehr häufig, wenn es seine Zeit erlaubte, sei er nach Hildesheim gefahren und dort unmittelbar vor seiner Abreise einen ganzen Tag lang gewesen. Die Wirtin hatte, soweit ihr bekannt, das Mädchen nie gesehen; allerdings habe Müller tagsüber oft Damenbesuch in seinem Zimmer gehabt, ihres Wissens aber stets Kolleginnen, mit denen er zu arbeiten gehabt habe; so jedenfalls habe er diese Besuche ihr gegenüber gerechtfertigt.
»Natürlich! Cherchez la femme«, brummte Kriminalrat Sack vor sich hin, als er die Kripo in Hildesheim ersuchte, nach einer Familie von Riemark oder so ähnlich zu recherchieren. Die Antwort besagte nach fünf Tagen, daß es in Hildesheim nur einen Oberst a. D. von Riedenmark gäbe, der eine inzwischen verstorbene Tochter, die damals zwanzig Jahre alt gewesen sei, gehabt habe. Da es sich hier nach allem Anschein um die gesuchte Familie handelte, beschloß Sack nach Rücksprache mit Dr. Klotze selbst nach Hildesheim zu fahren, um die nötigen Erkundigungen einzuziehen. Nachdem er seinen Besuch angezeigt hatte, suchte er Herrn Oberst a. D. Krafft von Riedenmark, einen weißhaarigen Sechziger, der in Haltung und Gebaren den früheren Militär erkennen ließ, in seiner Wohnung auf.
»Bitte, Herr Kriminalrat, womit kann ich Ihnen dienen?«
»Es handelt sich um Ihre verstorbene Tochter Cecilie.«
»Wieso, was soll's?« fragte der Oberst wesentlich zugeknöpfter. »Mein Mädel ist seit über vier Jahren tot.«
»Das ist mir leider bekannt. Ich muß Ihnen aber einige sie betreffende Fragen vorlegen.«
»Ehe ich bereit bin, Ihnen mit Auskünften über meine Tochter zur Verfügung zu stehen, darf ich bitten, anzugeben, wieso es sich vernotwendigt, alte Schicksale wieder aufzurühren.«
»Selbstverständlich. Es handelt sich um folgendes.« Und Sack berichtete dem Oberst von dem geheimnisvollen Verschwinden Kilian Menkes, und inwiefern dieses mittelbar mit der Person seiner Tochter in Verbindung zu stehen scheine. Der Oberst hörte aufmerksam mit gespannten Gesichtszügen zu; als Sack geendet hatte, erklärte er knapp und kurz angebunden:
»Wie Sie sich denken können, höre ich den Namen Kilian Menke soeben zum erstenmal. Ich bedaure sein Los, vermag daran aber nichts zu ändern. Denn ich muß Ihnen erklären, daß ich auch von der Existenz eines Schauspielers Theodor Müller durch Ihre Mitteilungen zum erstenmal in meinem Leben etwas höre.«
»Das letztere wundert mich aufrichtig. Denn es steht einwandfrei fest, daß Ihr Fräulein Tochter in den letzten Monaten vor ihrem Ableben in sehr regem Verkehr mit diesem Theodor Müller gestanden hat.«
»Davon weiß ich, wie gesagt, nichts, Sie sind also besser unterrichtet als ich. Demnach dürften wir unsere Unterhaltung wohl abbrechen können.«
»Doch noch nicht, Herr Oberst, wenn Sie gestatten. Ich habe Sie noch einiges zu fragen.«
»Was denn nur noch? Sie merken doch, daß ich Ihnen nicht helfen kann!«
»Zunächst: woran ist Ihre Tochter damals am 3. Februar gestorben?«
»Ich vermag nicht einzusehen, wieso diese Frage zu Ihrer Sache gehört. Muß ich darauf antworten?«
»Was zur Sache gehört, müssen Sie schon gütigst uns zur Beurteilung überlassen. Wenn wir Sie gerichtlich vernehmen lassen, können Sie entsprechend dem Gesetz zur Aussage gezwungen werden; mir als Polizeibeamten gegenüber brauchen Sie nicht auszusagen.«
»Das wäre also eine reine Formalie. Gut, wenn es denn sein muß: Meine Tochter hat sich damals selbst das Leben genommen. Wir, das heißt meine Frau und ich, haben diese Tatsache nach Möglichkeit geheimgehalten und vorgegeben, unsere Tochter habe einen Unfall erlitten.«
»Und warum hat Ihre Tochter ihrem Leben ein Ende gemacht?«
»Das ist mir nicht bekannt. Sie hat zur Erklärung keine Zeile für uns Eltern zurückgelassen.«
»Wie entsetzlich! Aber Sie haben doch eine Vermutung?«
»Es muß sich um Liebeskummer gehandelt haben.«
Es entstand eine Pause, während deren der Oberst seine Augen mit der Hand beschattete und der Kriminalrat nervös mit den Fingern auf der Tischplatte klimperte; dann raffte sich dieser zusammen:
»Ich bedaure lebhaft, verehrter Herr Oberst, in alten Wunden wühlen zu müssen. Aber meine Amtspflicht gebietet mir, die Zusammenhänge nach Möglichkeit aufzuklären. Wenn Ihnen das Reden über diese traurigen Erinnerungen schwer fällt, darf ich Ihnen vielleicht einige Fragen in Vermutungsform vorlegen?«
»Bitte.«
»Wenn Sie Theodor Müller nicht kannten, war Ihnen also der Liebhaber Ihrer Tochter unbekannt?«
»Allerdings.«
»Spricht irgend etwas Ihnen Bekanntes dagegen, daß es dieser Theodor Müller war?«
»Kaum, ich wüßte wenigstens nichts.«
»Ihre Tochter hat nie mit Ihnen oder Ihrer Gattin über Ihre Liebesbeziehung gesprochen?«
»Nein, nie.«
»Da ich jede Suggestivfrage vermeiden muß, möchte ich bei dem weiteren keine Vermutungen aussprechen. Ich bitte mir zu sagen, welche moralische Ansicht Sie sich von dem Freunde Ihrer Tochter gebildet haben.«
»Ich habe den jungen Mann nie gesehen, wie sollte ich mir über einen Unbekannten eine Meinung bilden?«
»Sie weichen mir aus, Herr Oberst, Sie müssen doch aus dem Verhalten Ihrer Tochter Ihnen gegenüber irgendeine Meinung über das Benehmen dieses Mannes bekommen haben.«
»Was soll ich sagen, Herr Kriminalrat? Fehler sind, das habe ich mir inzwischen tausendmal vorgehalten, damals auf allen Seiten gemacht. Meine liebe Frau ist an diesen Grübeleien zerbrochen, sie starb ein halbes Jahr später an Herzschwäche, Cecilie war ja unser einziges Kind. Wenn den jungen Mann ein Vorwurf trifft – und damals glaubte ich es und war drauf und dran, ihn vor meine Waffe zu fordern – ach, wenn ihn einer trifft, sind wir von jeder Schuld rein? Ich weiß es nicht.«
»Verehrter Herr Oberst, ich spreche nicht von einer solchen Schuld, wie Sie sich selber vielleicht zum Vorwurf machen können, es handelt sich für uns Kriminalisten nicht um tragische Verwickelungen, uns beschäftigt nur die Frage, hat dieser Theodor Müller sich anständig oder wie ein Lump benommen.«
»Ich weiß es nicht und will es nicht wissen; denn in keinem Fall kehrt meine Tochter aus dem Totenreich zurück. Was nützen Ihnen Vermutungen, die ich aussprechen könnte?«
»Für Ihren Kummer nichts, für unsere Nachforschungen vielleicht sehr viel. Aber ich verstehe, daß Ihnen die Abgabe eines Urteils widerstrebt. Halten wir uns an die äußeren Tatsachen! Können Sie mir nicht kurz Ihre damaligen Erlebnisse und, wie es zu dem Unglück kam, berichten?«
»Wenn es denn unvermeidlich ist: Meine Tochter war bis zum Herbst vor ihrem Tode ein Herz und eine Seele mit uns Eltern. Sie besuchte damals, da sie ein sehr gutes Talent zum Malen hatte, eine Kunstschule in Hannover; wöchentlich zweimal fuhr sie hinüber. So im August muß sie den Fremden kennengelernt haben, aber erst viel später merkten wir eine Veränderung in ihrem Wesen. Sie bekam etwas Verschlossenes und Erfülltes, sie war mit ihrem wahren Leben nicht bei uns, und allen Reden wich sie aus. Von Weihnachten an wurde ihr Zustand bedrohlich, sie wurde gehetzt und unstet, und als ich sie damals einmal barsch zur Rede stellte, floh sie auf ihr Zimmer und schloß sich einen Tag lang ein. Meine Frau wollte mit ihr zu unserem Arzte gehn, aber unter den heftigsten Wutausbrüchen weigerte sie sich. Das arme Mädel muß Furchtbares gelitten haben. Wir erfuhren erst nach ihrem Tode, daß sie im vierten Monat schwanger gewesen war. Sie wußte wohl, daß wir dies der Lebenden nie verziehen hätten. Gott, wir fühlten uns damals ja so sicher und unangreifbar in unserer Haut, wir Eltern!«
»Und jener junge Mann? Was tat er, um seiner Liebsten beizustehn?«
»Nichts, soviel wir wissen. Er ließ das arme Mädel ebenso allein wie wir.«
»Nur mit dem Unterschied, daß er sie vorher, die Geliebte, in das Unglück gestoßen hatte!«
»Das mag man sagen, und ich habe das und Schlimmeres von ihm damals auch gedacht. Doch Sie sehen, Herr Kriminalrat, mich greift diese Erörterung sehr an. Was ich für Ihre Nachforschungen beitragen kann, habe ich getan. Mehr weiß ich nicht.«
»Ich bin Ihnen zu großem Dank verbunden, Herr Oberst. Leben Sie wohl.«
Der Oberst verabschiedete sich mit einer militärischen Verbeugung.
Kriminalrat Sack hatte durch diese auf die Nerven gehende Unterhaltung mit dem gebrochenen Vater weniger erfahren, als er gehofft hatte. Feststand vorläufig nur, daß Müller sich gemein benommen hatte, wie es jeder junge Mann tut, der ein anständiges Mädchen verführt und dann sitzen läßt. Aber die eigentliche Lumperei, deretwegen Kilian Menke die Freundschaft abgebrochen hatte, lag tiefer; sie hing, wie man kombinieren konnte, mit den dreitausend Mark zusammen, die Müller von ihm zu borgen beabsichtigte. Wenn er mit diesem Geld die Eheschließung ermöglichen wollte, so hätte Menke sie ihm schwerlich verweigert, überlegte Sack, jedenfalls keine Veranlassung gehabt, mit seinem Bruder Uwe theoretische Erörterungen über Pflichtenkollision zu führen. Zu welchem anderen, nämlich »verruchten« Zweck konnte das Geld sonst bestimmt gewesen sein? Sack kam zu der Feststellung, daß der Plan dieses haltlosen Müllers nur gewesen sein konnte, das Kind seiner Liebsten abzutreiben. War dem aber so, so hatte er offenbar gar nicht in Betracht gezogen, die werdende Mutter zu heiraten; dann aber waren die Selbstvorwürfe des Vaters, die ja offenbar darauf beruhten, daß die Eltern für eine nicht »standesgemäße« Heirat nicht zu haben gewesen wären, völlig gegenstandslos, da ja die Frage der Eheschließung nicht wegen der vermuteten Ablehnung durch die Eltern unterlassen war, sondern deshalb, nun, eben deshalb, weil Thetsche Müller ein ausgemachter Lump war.
Als Kriminalrat Sack auf der Rückfahrt hieran die weitere Erwägung anknüpfte, ob es ihm nun obliegen möge, den Vater aufzuklären und ihm zu sagen, daß er seine Skrupel aufgeben könne, rief er sich selbst innerlich zur Sache. Das Los des unglücklichen Oberst Riedenmark ging die mit der Aufklärung des Falles Menke befaßten Behörden von Amts wegen nichts an; es war ja nichts Ungewöhnliches, daß bei der Ermittlung eines Falles sich weitere »Fälle« ergaben, die sozusagen am Wege lagen; handelte es sich dabei um strafbare Handlungen, so wurde »abgetrennt«, wie der technische Ausdruck lautete; kam Strafbares nicht in Betracht, so blieb nichts anderes übrig, als über diese Nebendinge zur Tagesordnung überzugehen. Man mußte ein kühles Herz bewahren, wenn man im Berufe stand; er aber fühlte, daß die Unterhaltung mit diesem krampfhaft-strammen Oberst mit dem Greisenhaar ihn mehr angegriffen hatte, als seinem Amte gut war. Er stärkte sich daher auf dem Bahnhof in Lüneburg zunächst mit einem Kognak, ehe er sich zur Konferenz mit Jarmer und Dr. Klotze begab.
Alle drei waren sich einig darüber, daß man nach dem Verbleib dieses Theodor Müller weiterforschen müsse, da nach wie vor die einzig greifbare Vermutung die sei, daß er mit dem Verschwinden seines früheren Freundes Kilian Menke in Verbindung stehe. Jarmer meinte allerdings, daß in diesem Falle eigentlich sich zwingend der Schluß ergebe, daß Kilian Menke nicht mehr am Leben sei; denn wenn es sich um einen Racheakt dieses Müller handele, so komme doch wohl unmöglich in Betracht, daß dieser seinen ehemaligen Freund mittlerweile elf Wochen lang sinnlos gefangensetze, sondern nur, daß er ihn getötet habe. Wo und wie aber sei die Tat geschehen und wo sei die Leiche? Ihm aber hielt Dr. Klotze entgegen, daß ihm wesentlich plausibler erscheine, daß Müller seinen früheren Freund wieder in seine bestrickenden Netze eingefangen habe, und daß Menke mit ihm zusammen möglicherweise ins Ausland gegangen sei, um ihm, vielleicht unwissentlich, bei einer neuen Schurkerei Hilfsstellung zu leisten. Jarmer machte hierzu nur ein zweifelndes Tz Tz, während Kriminalrat Sack erklärte:
»Das alles sind vage Vermutungen, mit denen nichts anzufangen ist. Wir sind ja im klaren darüber, daß es uns obliegt, nach dem Theodor Müller weiterzuforschen. Warten wir ab, was dabei herauskommt. Vorläufig steht nur soviel fest, daß dieser Mann der einzige aus dem Lebenskreis Kilian Menkes ist, dem ein Schurkenstreich ohne weiteres zuzutrauen ist. Das muß für den Augenblick genügen, um weitere Ermittlungen in dieser Richtung zu rechtfertigen.«
Die zwölfte Woche der Abwesenheit Kilian Menkes ging damit hin, daß Kriminalrat Sack die Passagelisten aller Hamburger und Bremer Reedereien daraufhin durchsehen ließ, wann und wohin um jene Zeit ein Theodor Müller nach Übersee gereist sei. Es kamen mehrere Personen dieses Namens in den Aufzeichnungen vor, aber man ging offenbar nicht fehl in der Annahme, daß der Gesuchte identisch sei mit einem Müller, der sich als »Künstler« bezeichnet hatte, und der im Zwischendeck des Dampfers Liguria von der Hansareederei Ende Januar vor vier Jahren nach Rosario Passage genommen hatte. Eine Kabelanfrage nach dem Gesuchten bei dem dortigen deutschen Konsul erbrachte nichts. Der Mann war in Rosario unbekannt. Man durchforschte dann auch die entsprechenden Listen der Gegenrouten im letzten halben Jahr. Der Name Müller in Verbindung mit dem Vornamen Theo kam auch hier des öfteren vor; aber es kam seinem Lebensalter nach nur ein solcher, der aus Gumbinnen stammte, und seinem Berufe nach nur ein Kabarettist aus Glauchau in Betracht, beides Persönlichkeiten, die von ihren Heimatbehörden als unverdächtig eingezeugt wurden. Zur Sicherheit, ohne daß man sich hiervon einen Erfolg versprechen konnte, wurde ein Suchvermerk nach Theodor Müller aus Fulda im Inland erlassen.
Bei der nächsten Konferenz waren Sack, Dr. Klotze und Jarmer sich einig, daß man am Ende seiner Weisheit angelangt sei und daß nichts übrig bleibe, als abzuwarten. Dr. Klotze regte an, alle Meldungen der Gaststätten aus Lüneburg und Umgebung und auch aus Hamburg nach Theodor Müller zu durchsuchen; er müsse sich um die fragliche Zeit ja in dieser Gegend aufgehalten haben. Aber Sack erklärte das für unnütz, da ja nicht anzunehmen sei, daß der Mann seinen richtigen Namen angegeben habe, wenn er sich mit einem schweren Verbrechen trug. Jarmer schloß die Besprechung mit dem Seufzer:
»Ich glaube, wir sind total auf dem Holzweg!«
Seit dem Verschwinden Kilian Menkes war ein Vierteljahr ins Land gegangen.