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Erster Teil

I.

Kilian Menke war fast zweiunddreißig Jahre alt, als er in einen Abgrund von Ereignissen und Abenteuern hineingerissen wurde, deren sich sein friedliches und bürgerliches Leben nicht im mindesten versehen konnte. Er war irgendwo im Oldenburgischen als dritter Sohn auf einem Bauernhof geboren, zeigte aber von früh auf für Landwirtschaft und Viehzucht keinerlei Neigung. Es war daher ausgemachte Sache, daß er nach Beendigung der Realschulzeit in der benachbarten Kleinstadt das Kaufmannsgewerbe erlernen sollte. Da seine Eltern seine Anstelligkeit und Gewandtheit in allen rechnerischen und schriftlichen Arbeiten sehr hoch einschätzten, wollten sie weit mit ihm hinaus und schickten ihn zur Lehre in ein angesehenes Handelshaus nach Bremen, mit dem Vater Menke beim Kauf von landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln in gelegentliche Berührung gekommen war. Nach der vierjährigen Lehrzeit behielt die Firma den als solide und brauchbar befundenen jungen Mann noch zwei Jahre als Handlungsgehilfen in ihren Diensten, um ihn dann mit dem denkbar besten Zeugnis und allen guten Wünschen für seine fernere Zukunft »auf eigenen Wunsch« zu entlassen, da er in Hannover bei einem befreundeten Hause eine besser bezahlte Buchhalterstelle bekommen konnte. In Hannover blieb Kilian Menke reichlich fünf Jahre, während deren er redlich seinen Pflichten nachkam, seinen kaufmännischen Gesichtskreis erweiterte und alljährlich in höhere Gehaltsstufen aufrückte. Am Ende seiner Tätigkeit zählte er zu den bestbesoldeten Handelsdienern seines Geschäftszweiges.

Um diese Zeit eröffnete sich ihm eine Möglichkeit, mit jähem Ruck sein Lebenslos zu heben, und Kilian Menke war nicht der Mann, sie nicht tatkräftig auszunutzen. Eine Lüneburger Handelsfirma verwandter Art suchte, da ihr der Chef in den besten Lebensjahren weggestorben war, einen Prokuristen, der den Betrieb neben der geschäftlich unerfahrenen Witwe selbständig leiten sollte, um das Unternehmen für zwei noch minderjährige Söhne in seinem günstigen Stande zu erhalten. Die Witwe war gut beraten, als sie aus der Fülle der Bewerber ihr Augenmerk auf Kilian Menke richtete. Nach einer ersten Fühlungnahme wurden die Verhandlungen in kurzer Zeit zum Vertragsschluß geführt, durch den Kilian zum Prokuristen der Firma Lengfeldt Söhne bestellt wurde, und in welchem ihm ein auskömmliches Fixum zugesprochen wurde, selbstredend neben einer Tantieme, bei deren Aushandlung beide Seiten sich als zäh erwiesen hatten. Seit nun mehr als vier Jahren war Kilian Menke also Prokurist und verantwortlicher Leiter der weit über Lüneburgs Grenzen hinaus bekannten Firma Lengfeldt Söhne und dachte nicht im entferntesten daran, sich zu verändern.

Ebenso klar und eindeutig wie um seinen äußeren Lebenslauf war es auch um sein geistiges und seelisches Wachsen und Werden bestellt. Kilian Menkes Menschlichkeit wurde geprägt durch die ein wenig nüchterne und herbe Trockenheit, die seiner heimatlichen Sphäre eignet. Aber – nicht umsonst hatte er länger als ein Jahrzehnt in Großstädten gelebt – diese Sprödigkeit wurde bei ihm zum Teil überdeckt durch äußere Formgewandtheit und aufgewogen durch einen freundlichen Humor, der allerdings seinerseits wiederum etwas Büromäßig-Sachliches hatte. Leidenschaften irgendwelcher Art waren Kilian Menke nicht nur fremd, sondern geradezu verhaßt, und sein nüchterner Grundcharakter war namentlich für sein Verhältnis zum Weiblichen maßgebend. Er war ohne Reue Junggeselle, und es hatte durchaus den Anschein, daß auch insoweit Änderungen schwerlich zu erwarten sein würden. Einmal in Hannover hatte zwischen ihm und einem Mädchen namens Elli Beining eine Liebesbeziehung gespielt, und um ein Haar wäre es zu einer Verlobung gekommen. Aber Kilian Menke, dem die Art und das Wesen Ellis höchst sympathisch waren, der sich immer freute, wenn er in ihrer Nähe weilen konnte, bekam einen heillosen Schrecken, als er bei einer ersten körperlichen Annäherung, die sich im Laufe eines sonntäglichen Waldspazierganges sozusagen ganz von selber ergeben hatte, gewahr werden mußte, daß seine harmlose Persönlichkeit in Elli untergründige Leidenschaften wachgerüttelt hatte. Er schnellte förmlich in sich selbst zurück und vermied alles, was erneut zu Bränden solcher Art Veranlassung geben konnte. Elli, die diese Zurückhaltung zunächst als wohltuend und ungemein taktvoll empfand, wartete in der Folgezeit vergeblich, daß Kilian ein ernstes Liebeswort mit ihr reden würde. Da dieses beharrlich ausblieb, wurde für beide Teile der Verkehr allmählich reizlos, und das Verhältnis versickerte sang- und klanglos. Kilian Menke aber zog daraus die Lehre, daß er im Verkehr mit jeder Art von Weiblichkeit, die den Ehrgeiz haben könnte, von ihm geheiratet zu werden, gut daran täte, sich größter Zurückhaltung zu befleißigen.

Mit allen Verwandten und Bekannten lebte Kilian Menke – wie konnte es anders sein? – im besten Einvernehmen. Seinem Elternhaus war er durch Beruf und Neigung etwas entfremdet, aber dies beeinträchtigte die spröde Herzlichkeit kaum, mit der man seit jeher miteinander zu verkehren gewohnt war. Zu besonderen Festtagen und, wenn es sich geschäftlich irgend einrichten ließ, alljährlich zu Weihnachten war er zu Hause auf Besuch. Sein ältester Bruder Raimund hatte inzwischen dem früh alternden Vater die Führung der Wirtschaft aus den Händen genommen, sein zweiter Bruder Uwe war Verwalter in einem großen Gestüt, und seine Schwester Anke, zwei Jahre jünger als er und seine Jugendgespielin, hatte auf einen benachbarten Hof geheiratet. Auch seine Brüder lebten in glücklichen Ehen, kurzum: überall waren Umstände und Verhältnisse gegeben, die an Klarheit und Durchsichtigkeit nichts zu wünschen übrig ließen.

Zu der Witwe Lengfeldt und ihren beiden mittlerweile dreizehn und zehn Jahre alten Söhnen, die das Realgymnasium besuchten, unterhielt Kilian Menke die angenehmsten Beziehungen. Frau Sibylle Lengfeldt, Tochter eines Celler Justizrats, war eine feingebildete, anmutige Dame Ende der Dreißig, die sehr bald einsah, daß sie mit der Berufung Kilian Menkes das große Los gezogen hatte. Sie schenkte ihm mit gutem Grunde volles Vertrauen und ließ ihm, der allerdings bei wichtigen Entscheidungen nie versäumte, sie eingehend zu unterrichten und um ihre Ansicht zu befragen – denn er hielt viel von ihrem ihm ja ganz fremden weiblichen Instinkt –, völlig freie Hand in der Leitung des umfangreichen Geschäftes.

Jeden Monat einmal war im Hause Lengfeldt Familiensonntag, zu dem die ortsansässigen Verwandten, manchmal auch Geschwister von Frau Sibylle aus der Umgebung, erschienen. Etwa ein halbes Jahr nach seinem Dienstantritt bei Lengfeldt Söhne war Kilian zum erstenmal gewürdigt worden, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Seitdem wurde es sehr bald selbstverständliche Übung, ihn hinzuzuziehen, so daß er sich auch persönlich dem Haus Lengfeldt eng verbunden fühlte. So wuchs er von Jahr zu Jahr tiefer und tiefer in seinen Lebenskreis hinein, und bekam auch die Lust des Erfolges zu spüren: gerade in den letzten Jahren waren die Geschäfte ausgezeichnet gegangen. Das lag auch an seiner Wirksamkeit, hatte es sich doch allgemein herumgesprochen, daß unter Kilian Menkes Leitung die Solidität und Zuverlässigkeit von Lengfeldt Söhne wenn nicht gestiegen, so doch jedenfalls die gleiche geblieben war. Nein, Kilian Menke dachte gewiß nicht daran, daß in seinem Leben sich irgend etwas verändern könnte.

Er bewohnte in der Vorstadt in der Feuerbachstraße in einer modernen Villa eine freundliche Vier-Zimmer-Wohnung. Täglich viermal legte er die Viertelstunde Wegs zwischen seiner Behausung und dem Geschäftshaus zu Fuß zurück, obwohl ihm zur Beförderung ein Auto zur Verfügung gestanden hätte. Er war Mitglied eines Kegelklubs, der im Winterhalbjahr an jedem Dienstag in der »Reichskrone« sein lärmendes Wesen trieb und in der warmen Jahreszeit des öfteren seine Mitglieder zu humor- und trunkfrohen Heidefahrten mit und ohne Weiblichkeit vereinte. In seinem Berufsverband war Menke als Kassenwart angesehen und wohl gelitten. Er war dem Schwimmsport ergeben; an hellen und warmen Sommerabenden verweilte er oft bis in die späte Dämmerung hinein in der Badeanstalt. Als Briefmarkensammler war er Mitglied eines philatelistischen Klubs, wodurch sich der Kreis seiner flüchtigen Beziehungen beträchtlich erweiterte. Zum persönlichen Gebrauch hielt er sich mehrere volkswirtschaftliche Zeitschriften, die er nicht nur las, sondern auch sorgfältig aufbewahrte und jahrgangweise einbinden ließ, so daß er über wirtschaftliche Vorgänge stets gutes statistisches Material zur Hand hatte.

In den letzten günstigen Jahren hatte sich nicht nur der Stand der Firma Lengfeldt Söhne, sondern auch sein persönliches Besitztum angenehm gehoben. Zur Bestreitung seiner nicht allzu bescheidenen Bedürfnisse genügte sein festes Gehalt; die ansehnlichen Tantiemen benutzte er zur Kapitalbildung, indem er ihren größeren Teil auf Darlehnskonto bei Lengfeldt Söhne stehen ließ. Den Rest aber legte er in Effekten an, mit denen er als versierter und vorsichtiger Kaufmann sehr geschickt umzugehen wußte, so daß er alljährlich auf Kursgewinne einen weiteren Vermögenszuwachs buchen konnte. Er konnte es sich also sehr wohl leisten, dann und wann großstädtischen Vergnügungen nachzugehen. Zu seinen Gepflogenheiten gehörte es, in jedem Monat einmal mit dem Abend-D-Zug nach Hamburg zu fahren, um dort das Hansa-Theater zu besuchen; der Zauber des Varietés zog ihn mächtig an. Diese Ausflüge, von denen er manchmal erst mit dem Morgen-D-Zug zurückkehrte, machte er grundsätzlich allein, da er Wert darauf legte, bei solchen Lustbarkeiten ganz außerhalb der alltäglichen Atmosphäre zu sein. Er bewahrte daher auch gegenüber seinen Lüneburger Bekannten über seine Erlebnisse bei diesen Eskapaden Stillschweigen. Niemand aber, insbesondere nicht Frau Lengfeldt, die ihn wegen seiner »Ausschweifungen« wohl gelegentlich freundschaftlich neckte, hegte den leisesten Zweifel, daß sich Kilian Menke auch hierbei streng innerhalb der Grenzen des Erlaubten und der Gesetze hielt.


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