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In Gefangenschaft

Alles hätte man ertragen können an der großen Zeit, alles. Wenn nur nicht die entsetzliche Langeweile dabeigewesen wäre. Die Menschheit pflegt sich schon zu gewöhnlichen Zeiten in ihrer Allgemeinheit mehr zu langweilen, als es bei der Kürze des Lebens nötig wäre. Aber was in dieser Hinsicht im Kriege geleistet worden ist, das übersteigt alles, was ein menschliches Hirn zur Qual der Seinen ersinnen könnte. Die Gobelins der Hölle, wie sie uns von den Dichtern aller Zeiten in schwarzen und grauen Farben überliefert worden sind, verblassen dagegen zu Idyllen und lieblichen und sanft bewegten Bildern. Was hat man sich in diesem Kriege zusammengelangweilt! Es müßte, wenn man diese Qual in einen Schrei zusammenfassen könnte, einen Ton geben, der die Sterne mit einer eklen Schleierhaut überziehen und erblinden lassen würde. Wie hat man sich gelangweilt in den Unterständen und Schützengräben, in denen man gleich den Regenwürmern herumkroch, immer nur wie Höhlenbewohner die gelbe Wand vor sich, bis man den Tod willkommen hieß, der einem von diesem Dasein Erlösung brachte, diesem gräßlichen Dasein, das einen dem Hasen oder anderm Getier des Feldes ähnlich machte! Oder bis man listig und heimlich eine Hand hervorstreckte und dem Feinde sichtbar machte, um den heiß ersehnten Heimatschuß abzubekommen, der einen aus diesen Martern der Langeweile nach Hause brachte. Wie hat man sich gelangweilt auf den Kasernenhöfen, den Exerzier- und Schießplätzen, wenn man herumstand und warten mußte und die Zeit, die köstliche flüchtige, die uns verliehen ward, vergeudet wurde, als sei sie unendlich oder völlig wertlos. Wenn man sich den Krampf oder eine bleierne Müdigkeit in die Beine stand, stunden- und stundenlang, bis irgendein gleichgültiger Befehl kam und selbst der Freiwilligste, Geduldigste knirschend in sich hereinstöhnte: »Die Hälfte seines Lebens steht der Soldat vergebens!« Wie hat man sich gelangweilt in der muffigen Luft der Lazarette, in denen man herumliegen und seine Wunden pflegen mußte, die »ihre Zeit haben wollten«, wie einem immer wieder versichert wurde, bis man vor Öde und Verzweiflung an den Verbänden riß oder auf die empfindlichen Stellen drückte und ächzte: »Lieber Schmerzen leiden als dieses stumpfe Dahinleben!« Wie hat man sich gelangweilt auf den Wachtposten, wenn man hin und her trampelte wie ein Eingekerkerter die paar Schritte, auf die man beschränkt wurde in dem unermeßlichen All, und ewig einen Bretterverschlag oder einen Streifen Himmel beglotzen mußte! Wie hat man sich gelangweilt in den vom billigen Bier klebrigen Kantinen, wenn einem ein Grammophon zum hundertsten Male dasselbe vorheulte, und in den stickigen Massenschlafstellen, wenn man sich herumwälzte von einer Seite zur andern in dem Schnarchen und Ausdünsten seiner Genossen ringsum! Wie hat man sich gelangweilt und gegähnt, daß einem die Backenknochen krachten, in den Schreibstuben, in denen man die gleichgültigsten Dinge von der Welt aufkritzelte oder nachsehen oder zusammenrechnen mußte und dabei nur froh war, daß man wenigstens auf diese Weise dem Gemetzel draußen entrann! Wie hat man sich gelangweilt in den Zügen, die nicht weiterfuhren, auf den Märschen, die ins Stocken gerieten, in den Massenquartieren, in die man gepfropft wurde, in den Gemeinsamkeiten mit Menschen, die einem gleichgültig und fremd waren, und unter der Beköstigung und Behausung von äußerlich und innerlich schmierigen Leuten, die nur Geld verdienen und reich werden wollten an diesem Krieg.

Am schlimmsten freilich ist es wohl in den Gefangenlagern gewesen. Wie man sich dort gelangweilt hat, gelangweilt bis zur Tobsucht, das vermag kein Mensch in Worten wiederzugeben! Es würde den unerbittlichen Totenrichter, der gewöhnt ist, die Sünder den gräßlichsten Qualen der Hölle auszuliefern, gerührt haben, daß er aufgeseufzt hätte: »Wozu? Wozu hat sich die Menschheit all diesen Jammer angetan?« Von jedem einzelnen, den dies Los getroffen hat, könnte man eine Tragödie erzählen. Begnügen wir uns hier mit der Geschichte des armen Kriegsgefangenen Löb Kalischer:

Das war ein trauriger polnischer Jude, der so wenig zum Soldaten paßte wie der friedlichste der Apostel, der heilige Johannes. Aber was fragte man danach. »Pachol!« hieß es, und er mußte mit allen andern losziehen. In weiser Selbsterkenntnis benutzte er denn auch die erste beste Gelegenheit, die sich ihm bot, sich gefangennehmen zu lassen. Man erzählte sich, daß er mit zwei andern russischen Polen nach der Entwaffnung von einem deutschen Gefreiten abgeführt werden sollte. Der Gefreite, der die Kunst, im Gehen zu schlafen, die manch einer während dieses tierischsten aller Kriege wieder erlernt hat, meisterhaft verstand, sei über dem Marschieren eingenickt. Dabei habe er das nur lose umgehängte geladene Gewehr von seiner Schulter verloren. Da hätten die drei Polen hinter dem Gefreiten es aufgehoben, und Löb Kalischer hätte ihm grinsend auf die Schulter getippt: »Nix erschrecken, Kamerad! Hat sich nur Gewehr verloren. Aber hier hat sich schon wiedergefunden.«

Wahr oder nicht, jedenfalls war Löb Kalischer eine der friedfertigsten Seelen, die sich in einen Menschen dieser bluttriefenden Zeit verflüchtet hatte. Man hätte ihn auf seinen Todfeind hetzen können, er wäre nicht imstande gewesen, ihn an den Haaren zu ziehen. Natürlich hätte man ihn völlig frei herumlaufen lassen können. Er wäre bei seiner Ehrfurcht vor den Siegern einer deutschen Raupe, einem von einer deutschen Linde gefallenen Blatt ehrerbietig aus dem Wege gegangen. Aber er war ja ein Kriegsgefangener und mußte darum scharf bewacht und beobachtet werden. Nachdem man ihn gründlich entlaust hatte, und er der kleinen Gesellschaft, die er zur Vertreibung der Langeweile gern und gutmütig ertrug, beraubt war, steckte man ihn in irgendein Gefangenlager. Das Ding gefiel ihm auf den ersten Blick nicht. Wie ein Kalb vor dem Schlachthaus zitterte er vor diesen hohen Wellblechmauern, die noch ringsherum mit Stacheldrahtverhauen und dicken Drähten, durch die ein elektrischer Starkstrom lief, geschützt waren. Er fuhr zusammen beim Eintritt in diese kalte Barackenstadt, die in wenigen Wochen für die Gefangenen aufgeschlagen worden war, als hätte er geahnt, daß ihm der Aufenthalt hier übel bekommen würde.

Eine bedrückende Traurigkeit befiel ihn angesichts der öden Massenlager, in die man ihn wie in eine Falle stopfte. Schon an der Front, wo es so grimmig ernst zuging, hatte sich Löb todunglücklich gefühlt und war froh gewesen, als er aus dieser Ungemütlichkeit herauskam. Er war von Natur ein weicher schwermütiger Mensch und hatte sich, um diese schlimme Beigabe auszugleichen, einen aufheiternden Beruf ausgesucht. Bis zum Kriegsausbruch war er mit einem Leierkasten und einem Äffchen, das Kunststückchen machen konnte, über die Dörfer gezogen. So hatte er es zuwege gebracht, daß er trotz seines häßlichen und erbärmlichen Gesichts und seines Körpers, der diese beiden Eigenschaften noch in ihrer höchsten Steigerung besaß, Fröhlichkeit um sich verbreitete, wohin er kam. Und das tat ihm in seiner tiefsten Seele wohl. Er wurde immer niedergeschlagener, als ihm dies nun ohne seine beiden Hilfsmittel, ohne Leierkasten und Äffchen, durchaus nicht mehr glücken wollte. Die Gefangenen um ihn waren mürrisch und wurden es immer mehr, je länger ihre Verbannung dauerte. Und die Soldaten, die sie bewachten, machten ihnen wütende Gesichter, daß sie ebenfalls wie sie gefesselt waren durch diesen stumpfsinnigen, nervös machenden Überwachungsdienst.

Um der Langeweile zu entgehen und der Schwarzseherei, die sie ausbrütete, meldete sich Löb Kalischer zu Arbeiten. Aber man konnte den schwächlichen Kerl zu nichts Rechtem gebrauchen und stellte ihn immer wieder zurück. Da wurde er durch die Heldentat eines englischen Offiziers, die durch das Lager lief, auf einen guten Gedanken gebracht. Dieser Offizier hatte sich, vor Langeweile irrsinnig geworden, auf einen Wachtposten gestürzt, ihm das Gewehr entrissen und erst den Soldaten und dann sich selbst erschossen. Ein solches Bravourstückchen wollte Löb auf seine eigene kleine Weise nachahmen, wie sein Äffchen, das ihm das Stirnrunzeln abgeguckt hatte. »Was sollst du den Leuten hier noch länger lästig werden!« so kroch es ihm im Kopf herum. »Mach' dich ganz einfach und ohne viele Scherereien weg!« Als sie eines Morgens wie gewöhnlich zur Latrine geführt wurden, da blieb Löb etwas zurück, zog ein Halstuch hervor, das ihm sein Bettnachbar, der krank war, geliehen hatte, und legte es in einer Schlinge um seinen Hals. Dann band er es oben an einem Dachhaken fest und sprang von dem Balken, auf dem er stand, in die Luft. Er war schon fast drüben und jenseits aller Langeweile, da kam sein Bettnachbar – ein Pole wie er, Krupinski hieß der dumme Mensch – herzu. Er war wegen des verliehenen Tuches ängstlich geworden und wollte sich mißtrauisch danach umsehen. Er erschien eben noch zur rechten Zeit, um Löb aus der Schlinge wieder ins Leben zurückziehen zu können. Ein Soldat trat heran, und der Vorfall wurde dienstlich gemeldet.

Man sperrte Löb zur Strafe für seinen mißlungenen Selbstmordversuch in die Haftzelle ein, nachdem man ihn vorher genau untersucht hatte. »Die Wände sind vielleicht barmherziger als die Menschen«, meinte Löb zu sich und sprang mit dem Schädel so fest gegen die Wand, daß er wie tot umfiel. Der Wärter fand ihn am Abend, da er ihm sein Arrestessen bringen wollte, blutend, aber noch lebend am Boden liegen. Nun kam er ins Lazarett, wo man ihn ganz allmählich wieder zusammenkurierte. Aber kaum hatte man ihn so weit wieder bei Kräften, daß er am andern Tag aufstehen sollte, da nahm er das Spuckglas seines Nachbars, eines unheimlich abgemagerten Südfranzosen, der sich die letzten Stückchen Lunge ausröchelte – denn husten konnte er nicht mehr. Und dieses Spuckglas, das mit einer Sublimatlösung gefüllt war, soff Löb in einem Zug wie willkommene Lethe herunter. Aber auch diesmal wollte es ihm nicht gelingen, den widerspenstigen Tod zu packen. Ebensowenig wie bei einem erneuten Versuch, den er anstellte, sich und die andern Menschen von sich zu befreien, indem er von dem Flurfenster im zweiten Stock des Lazaretts in den Hof hinuntersprang. Beide Male rettete seine an sich zähe Gesundheit ihn, der dem Tode nachlief, ohne ihn zu erreichen, in das verhaßte Dasein zurück.

»Man muß versuchen, ihn zu seinen alten Kameraden zu bringen, damit er auf andere Gedanken gerät!« meinte der Arzt, der ihn zuletzt behandelt und gesund geschrieben hatte, nachdem es vier Wochen gut mit ihm gegangen war. »Hier im Lazarett hat er uns lang genug Last gemacht. Außerdem verdirbt er den Genesenden die Lebensfreude.« So kehrte Löb nach ein paar Monaten wieder blaß und gebrechlich, jedoch sonst leidlich hergestellt in das Gefangenlager zurück. Aber seine Genossen, die gerüchtweise von seinen Unglücksstreichen Wind bekommen hatten, rückten scheu wie vor einer Leiche von ihm ab. Es war ihnen höchst ungemütlich mit einem Kerl, der schon mehrmals beinahe drüben gewesen war, zusammen zu sein. Es kam ihnen vor, als ob irgend etwas von dorther an ihm hängen geblieben wäre und er einen Verwesungsgeruch um sich verbreitete. Man hielt sich in seiner Nähe die Nase zu und schauderte vor ihm und seiner graugrünen Gesichtsfarbe, die er wie ein Ausgegrabener angenommen hatte. Die Wachtposten stießen sich an, wenn er vorüberging, und flüsterten einander zu: »Das ist der, der sich schon viermal umgebracht hat!«

Löb fühlte sich, sofern dies möglich war, noch unglücklicher durch diese Behandlung, die ihm widerfuhr, und die ihn ganz in sich und seine grauenvolle Langeweile zurückwarf. Warum brachten es denn die andern fertig, sich von diesen Qualen zu befreien: jener englische Offizier beispielsweise! Und die zwei Russen, die nachts ausgebrochen waren, weil sie den Zwang und die Öde nicht mehr ertrugen, und in die tödlichen elektrischen Drähte gelaufen waren. Oder der französische Oberst, von dem man sich erzählte, daß er sich vor Langeweile mit seinen Bettkissen erstickt hätte.

Löb hatte das auch schon mehrfach versucht, aber jedesmal im letzten Augenblick Angst bekommen, wenn er unter den dunklen Tüchern nach Luft schnappte und sich selbst den letzten Atem abschnüren sollte. Nein! So ging es nicht. Es mußte einem schon etwas anderes Festes zu Hilfe kommen, etwa ein Strick und ein Dachhaken. Das mit dem Erhängen war noch das Beste gewesen. Es wäre ganz gut abgelaufen, wenn nicht dieser dumme Krupinski hinzugekommen wäre, um sein Halstuch zu holen. Man mußte es nochmals versuchen. Ohne jeden fremden Beistand. Wenn man nur ein altes Sacktuch oder einen Strick gehabt hätte!

Da kam ein glücklicher Zufall – so bescheiden wird der Mensch als Gefangener, daß ihm so etwas schon wie ein Glück erscheint, dem armen Löb zu Hilfe. Er fand unter seinem Bett einen Gurt von einem Polster. Er sah darin geradezu eine göttliche Fügung und hätte weinen können vor Freude über diesen Fund, wenn er gewußt hätte, was weinen wäre. Am andern Morgen, als sie wie gewöhnlich zur Latrine geführt wurden, drückte sich Löb Kalischer dicht in eine Ecke. Es war ein finsterer garstiger Wintermorgen und so neblig, daß alles in einer grauen Brühe schwamm. Daher kam es, daß man nicht bemerkte, daß, Löb in seiner Ecke zurückblieb, während die andern nach Verrichtung ihrer Bedürfnisse wieder in ihre Verschläge trotteten. Löb streifte für ein paar Sekunden den ihm vertrauten Ort wie sein ganzes Leben mit einem Blick der Wehmut und Erlösung. Dann zog er schnell den Gurt hervor und legte ihn in einer Schlinge um seinen Hals. Er wählte den alten Dachhaken, um den Gurt festzuknüpfen, und tat nun seinen letzten Sprung.

Der erste, der sein Wegsein entdeckte, war wieder sein Bettnachbar, dieser dumme Krupinski. Er watschelte hastig auf seinen Plattfüßen zur Latrine zurück. Da er den Gurt nicht lösen konnte, hing er sich mit seinen Händen an ihn, bis dieser, der nur für die Vernichtung eines Lebens ausreichte, von der zwiefachen Belastung zerriß und den dummen Krupinski mitsamt dem armen Löb übereinander zu Boden schleuderte. Voll Wut über den Kerl, der ihm so viel Last machte, haute Krupinski dem andern eine feste herein, um ihn damit gleich aufs kräftigste in das Leben zurückzurufen, in das Leben voll Qual und Langeweile, dem sich dieser sündige Hund, der es nicht besser haben sollte als sie, beständig zu entziehen suchte. Aber Löb spürte den Schlag nicht mehr, wiewohl er ihm die Kinnbacken verschob. Er nahm diese letzte Gemeinheit, die ihm widerfuhr, schon mit der unnahbaren Majestät des Todes entgegen.

Als Krupinski dies merkte, als er sah, daß dieser Halunke der Qual des Soldatseins, der Langeweile der Gefangenschaft entwischt war und sich mit der schauerlichen Schönheit einer neuen Welt umkleidete, lief er heulend wie ein ängstliches Kind vor dem Blitzen davon. Die Wache erschien. Der Fall wurde gemeldet und bekam die laufende Nummer: I.5B.313/6.1916. Der Nachlaß des armen Löb wurde aufgenommen und fünfmal für die verschiedenen Behörden besonders abgeschrieben. Er bestand ans einem Hosenknopf und einer billigen, hell und undeutlich gewordenen Photographie, darstellend einen kleinen Makaken, ein Äffchen mit dem Gewehr über der Schulter, das einen Menschen nachmacht und ein trauriges Gesicht dabei schneidet.


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