Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Kaplan Melzer mußte jetzt während der Kriegszeit oftmals in der Schule Vertretungsstunden geben. Die meisten Lehrer waren eingerückt, und der Rektor der Anstalt wußte sich, seiner bewährten und besten Lehrkräfte beraubt, kaum zu helfen. Wie sollte er die große Zahl der Schüler, die ihm unterstellt waren, geistig weiterbilden und dem Ziel der Klasse, das ein jeder erreichen mußte, zuführen können? Da war er froh über jeden Beistand, der sich ihm bot. Er drückte Kaplan Melzer, der sich als Aushilfslehrer zur Verfügung gestellt hatte, voll Anerkennung fest die Hand und vergaß einen Augenblick, daß er selbst andersgläubig und evangelisch war. Kaplan Melzer hatte sich nicht mit solcher Freude angeboten. Er war noch sehr jung, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt und vor kurzem erst ordiniert worden. Die Blässe der langen Konviktszeit stand ihm noch im fast kindlichen Gesicht. Nur durch den plötzlichen Tod eines älteren Geistlichen war das Lehramt in der städtischen Schule auf ihn gekommen.
Anfangs hatte ihn das stolz und froh gemacht. Aber nach den ersten Stunden, die er erteilen mußte, waren ihm Bedenken aufgestiegen, ob er nicht noch zu jung für diesen Beruf sei. Vielleicht hätte man besser daran getan, ihn erst nach einigen Jahren, wenn er härter und strenger geworden wäre, zum Lehrer zu machen. Er war ein höchst sanfter, übergütiger Mensch. Das merkten die Schüler, die mit ihren Lehrern im allgemeinen auf dem Kriegsfuß stehen und darum ihnen gegenüber äußerst listig sind, sehr bald. Und es kam schnell dazu, daß Kaplan Melzer das Schlimmste widerfuhr, was einem Lehrer widerfahren kann, daß er keine richtige Autorität über die Klassen hatte, denen er Religionsunterricht gab. Das Gerücht verbreitete sich wie alles, was ungünstig über einen Menschen lautet und den anderen darum Freude macht, ganz rasch, Kaplan Melzer bekam es alsobald in Faulheit, Widerspenstigkeit und Störung während des Unterrichts zu spüren.
Man kann sich darum denken, wie schwer es ihm bei seiner zarten Natur wurde, sich zu noch mehr Stunden, als er bisher gab, bereit zu erklären. Zumal er diese Aushilfestunden in religiös gemischten Klassen erteilen mußte, die nicht einmal Achtung vor seinem geistlichen Amt und seiner Tracht empfanden. Aber er sah die Verlegenheit des Schulrektors und mochte in einer Zeit, wo die ihm gleichaltrigen Männer sich die menschenunwürdigsten Anstrengungen wie etwas Selbstverständliches aufpacken ließen, nicht im Ertragen von Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten zurückstehen. Er bürdete sich darum eine Stunde nach der andern auf, wiewohl er vor einer jeden schon im voraus innerlich zitterte. Letzthin hatte er sich übrigens, um leichter mit den Schülern fertig zu werden, angewöhnt, ihnen etwas vorzulesen oder vorzuerzählen. Damit war er von vornherein beliebter, als wenn er Exerzitia mit der Klasse geübt und den Lehrstoff streng durchgepaukt hätte. Auch zog er zuweilen hierdurch die Aufmerksamkeit derjenigen Schüler, die zuhören mochten, von der Sucht, Unfug zu treiben, ab.
Auch heute morgen, als er die Klasse der Untersekunda B betrat, die ihm wegen einiger besonders lauter Rüpel und Unruhstifter am schwersten zu behandeln war, auch heute war er fest entschlossen, diese wilde, halbreife junge Rotte mit einer Geschichte möglichst angenehm über die Stunde, die er zu geben hatte, hinwegzutäuschen.
»Ich will euch wieder etwas erzählen!« sagte er leise schon beim Hereintreten in das nach Tinte, Kreide und Sand riechende Schulzimmer, um eine gute Stimmung vorzubereiten. Er ging aufs Pult und schlug die schwarzen Flügel seines langen Geistlichenrocks beiseite, um sich zu setzen.
»Schwalbenschwanz!« rief ein wüster Bengel, der hinten in einer der letzten Bänke saß. Und ein Kichern und Prusten, wie es nur in der Schule solchem albernen Witz folgen kann, erscholl ringsum.
»Ich will euch etwas erzählen, Jungens!« wiederholte Kaplan Melzer ganz sanft, als hätte er die kräuselnde Brandung beschwichtigen wollen.
»Aber etwas vom Krieg!« schrie eine Stimme gebieterisch von hinten.
»Jawohl! Etwas vom Krieg!«
»Von Hindenburg! Oder Mackensen!« meldeten sich wieder einige mit bestimmt heraus gebrüllten Forderungen.
Kaplan Melzer versuchte eine Umgehung: »Nein! Etwas von Henri Dunant.«
»Von wem? Wer ist das? Pfui Teufel, ein Franzose! Nichts Französisches!« ging es heftig vor ihm in den Schülerbänken durcheinander.
»Nein! Beruhigt euch!« sprach Kaplan Melzer so laut, wie es seine zarte Stimme vermochte. »Nein! Es ist kein Franzose gewesen. Gewesen, muß ich sagen, denn er lebt nicht mehr. Er ist als achtzigjähriger Greis bereits vor diesem Kriege gestorben.«
»Was war er denn?« fragte eine Schülerstimme. »Ein französischer Zulukaffer!« gab ihr eine andere, die sich sehr witzig vorkam, zur Antwort. Es war die des Kasperles der Klasse. Und alles ringsum wollte sich wieder schütteln vor Lachen.
»Es ist ein Schweizer gewesen«, fuhr Kaplan Melzer dazwischen, und seine Stimme bebte vor Traurigkeit, so daß einige, zwei oder drei Schüler vielleicht hiervon berührt: »Pst! Stille!« zu den anderen machten.
»Ein reicher Schweizer ans einer uralten angesehenen Genfer Familie«, tönte Kaplan Melzers sanfte Stimme weiter. »Aus einer Familie, die seit jeher ihren Mitmenschen Wohltaten zu erweisen pflegte und im ganzen Kanton geachtet und geliebt wurde. Wenn ihr mich fragt, was er sonst war außer einem Wohltäter der Menschheit, so weiß ich euch nichts zu sagen. Er war weder Arzt noch Gelehrter. Er war ein einfacher und bescheidener Privatmann, der still am Genfer See lebte und das Geld, das er nicht für sich und seinen kleinen Haushalt gebrauchte, unter die Armen der Stadt Genf verteilte.
Da kam – es war im Jahre 1859 nach der Geburt unseres Herrn und Heilands – der Krieg zwischen Österreich auf der einen und Frankreich und Piemont auf der anderen Seite. Henri Dunant war damals einunddreißig Jahre alt. Ein blühender Mann. Und es ergriff ihn eine gewaltige innere Unruhe. Als neutraler Schweizer ging ihn dieses Völkerschlachten gar nichts an, das hinter den hohen schneebedeckten Bergen in Oberitalien anhub. Er brauchte nicht mitzustreiten. Aber der Ruf erging doch an ihn. Eine mächtige Stimme, die Stimme der Menschheit, rief ihn über die Alpen. ›Du mußt mit dabei sein!‹ sprach ihm sein Idealismus zu.
Kurz nach der blutigen Schlacht bei Magenta traf er in der Lombardei ein. Gerade zur rechten Zeit, um dem fürchterlichen letzten Entscheidungskampf bei Solferino beizuwohnen. In dem Städtchen Castiglione, unweit von Brescia, nahm er sein Hauptquartier. Ganz allein, ohne Stab und betreßte Generale und Adjutanten, aber von einer höheren Majestät umleuchtet als Kaiser Napoleon und Kaiser Franz Joseph zusammen. Am Morgen des 24. Juni, bei glühender Hitze, begann die gewaltige Schlacht. Henri Dunants Herz zitterte beim Dröhnen der Batterien, die sich wenige Kilometer von seinem Standort gegenseitig wie zankende Köter anbellten. Aber er zitterte nicht um den Ausgang der Schlacht. Der war ihm, dem stillen neutralen Schweizer, so gleichgültig wie ein Treffen, das sich zu gleicher Stunde auf dem Mars oder Saturn ereignen mochte. Er erbebte bis in seine feinsten Nerven nur für die armen unglücklichen Menschen, die diese Schlacht zu Krüppeln schlug. Die Krieger, die dort auf beiden Seiten gegen einen Hagel von Granaten, von Bomben und Kanonenkugeln, der sie überschüttete, anstürmten, die den rings sie umschwirrenden Flintenschüssen ihre Glieder, ihre Brust und ihr Haupt darboten, waren sie nicht alle seine Brüder, ihm ähnlich an Leib und Gefühl und Fähigkeit zu leiden? Nur durch die Sprache waren sie teilweise voneinander getrennt. Aber gab es nicht eine allen gemeinsame Sprache, die der gegenseitigen Hilfe, des Beistandes von Menschen zu Menschen, die Sprache, die einst den Samariter mit dem Manne verband, der von Jerusalem hinab gen Jericho zog?
Ununterbrochen tobte die Schlacht bei Solferino indessen weiter. Der Widerhall der brüllenden Geschütze peinigte Dunant von morgens bis abends wie ein häßliches, die Besinnung lähmendes Ohrensausen. Kuriere und Augenzeugen kommen, stillen ihren Durst an irgend etwas Nassem und erzählen von der unmenschlichen Erbitterung der Schlacht. An einigen Stellen soll die Wut und Blutgier einen solchen Grad erreicht haben, daß die Kämpfer, nachdem die Munition erschöpft ist und Gewehre und Degen zerschlagen sind, einander um den Leib fassen und mit Feldsteinen aufeinander losschlagen. Wer siegreich bleiben wird, ist noch nicht zu sagen.
»Gibt es viele Verwundete?« fragte Dunant. Alles andere bekümmerte ihn nicht.
›Zahllose.‹
›Wer pflegt sie?‹
›Wer gerade da ist!‹ heißt es achselzuckend.
›Sie verdursten sicher vor Hitze?‹
›Was wollen Sie? C'est la guerre!‹
Dunant schaudert. Er hält sich entsetzt die Ohren zu, als er hört, wie man in seiner Nähe Wetten über den Ausgang des Kampfes abschließt. Spät am Abend naht die Kunde, daß die Schlacht trotz der löwenhaften Tapferkeit der Österreicher zu ihren Ungunsten entschieden ist.
Henri Dunant war unter den Frühesten, die das Schlachtfeld aufsuchten. Er sah es am andern Morgen mit der aufgehenden Sonne, und zum erstenmal wieder blickte durch ihn die Menschheit sich selbst ins Auge. Und sie erschrak vor dem Jammer, der sich ihr darbot, wie Dunant es tat inmitten der wimmernden und schreienden Verwundeten, der ächzenden halben Leichen und der verzerrten Toten, zwischen denen ihn der rote Morgensonnenstrahl fand, als er weinte vor Schmerz, daß er nicht tausend Arme und Hände hätte. Nicht gleich jenem Riesen der Sagen, um die Menschen wie ein Maschinengewehr zu vernichten, sondern um sie zu verbinden, zu tränken, zu betten und zu pflegen und diejenigen, die unschuldig zu Krüppeln geworden waren, dem Leben, das ihnen noch übrigblieb, wieder zu erretten.«
Bis hierher hatte die Klasse leidlich ruhig der Geschichte von Henri Dunant zugehört, die ihnen der bleiche Kaplan Melzer von seinem Katheder vortrug. Aber jetzt unterbrach ein Ausruf des Klassenältesten und Faulsten, der wegen seiner trockenen Scherze berühmt war, die Erzählung von dem Schweizer. Er rief plötzlich ganz laut nur das einzige Wort: »Pflaumenweich!« in die Klasse. Aber dies genügte, um ein allgemeines Grinsen und Mißbehagen über die rührselige Geschichte hervorzurufen, die ihnen da verzapft wurde. Kaplan Melzer überhörte diesen Zwischenruf, er überhörte auch das quieksende Hohngelächter des Kasperles der Klasse und die laute Zustimmung der anderen Schüler zu diesem törichten Spaß. Mitgerissen von der Erinnerung an diesen einzigen Mann, fuhr er fort, von ihm zu erzählen: Wie der Schlachttag von Solferino der Geburtstag des Roten Kreuzes gewesen sei, wie Henri Dunant durch die erschütternde Leidensbeschreibung der mangelhaft verpflegten Verwundeten, die sich nur durch andauerndes Tabakrauchen über ihren eigenen Verwesungsgestank wegbringen konnten, das Gewissen der Menschheit wachgeschüttelt habe. Wie sich die regierenden Herrscher jener Zeit und ihre Frauen, allen voran die Kaiserin Viktoria von England und die Königin Augusta von Preußen, ergriffen von der glühenden Beredsamkeit, mit der Dunant seine Sache vortrug, und angenehm berührt von der Gewandtheit seines persönlichen Auftretens, für seine menschenfreundliche Tätigkeit mehr und mehr erwärmt hätten. Wie sich dem Spott der Kriegsmänner über seine utopistischen Hirngespinste zum Trotz eine Schar von Menschenfreunden aller Länder um ihn geschart habe. Wie im Jahre 1863 die erste internationale Konferenz in Genf die Grundlagen für die allgemeine Behandlung der im Kriege Verletzten und für die Erleichterung des Schicksals der Gefangenen auf gestellt habe, bis dann, ein Jahr später schon, die Genfer Konvention in nur zehn Artikeln, die ewig gültig wie die zehn Gebote sein sollten, ihr Wort des Friedens in jeden Krieg gesprochen habe. Und wie Dunant als Schriftführer unermüdlich für sein internationales Humanitätswerk tätig gewesen sei, bis der Tod, dem er so viele Tausend entrissen, ihn, der kein Engel mehr zu werden brauchte, aus der Welt, die er verbessert hatte, davontrug.
»Auf die Anregung dieses einzelnen Menschen«, erzählte Kaplan Melzer und hoffte mit seiner Begeisterung die währenddessen immer unruhiger gewordene Klasse ins Ideale mitzureisten, »tat sich die ganze zivilisierte Menschheit zu einem Bund der Nächstenliebe zusammen. ›Ein gefallener Feind ist nicht mehr ein Feind, sondern ein Bruder!‹ hieß der Wahlspruch, der für alle künftigen Kriege ausgegeben wurde. Unter dem Zeichen des Roten Kreuzes auf weißem Grunde, womit Dunant das Wappen seiner Vaterstadt Genf zur edelsten irdischen Fahne gemacht hat, sollte sich der Arzt und Pfleger fortan mitten in der Schlacht ohne persönliche Gefahr seiner Tätigkeit, menschliches Leid zu lindern, menschliche Unvollkommenheit auszugleichen, widmen können. Wer und was immer dieses Zeichen, das Rote Kreuz, sichtbar an sich trägt, sei es ein Gebäude oder sei es ein Mensch, hat als heilig und unverletzlich zu gelten im Krieg.«
»Ist nicht wahr!« schrie da laut eine Stimme aus dem Chorus der Schüler, die währenddessen immer lauter geworden waren. »Gelogen!« bestätigte kräftig der Klassenälteste diesen Anwurf. »Mein Bruder, der Arzt war, ist mit Absicht von den Franzosen totgeschossen worden!« schrie einer zornig. »Sie haben häufig Hospitäler mit Granaten belegt, trotz des Roten Kreuzes, erzählt mein Schwager, der bei der Artillerie dient«, wußte ein anderer Schüler zu melden. »Es schützt gar nichts mehr, das Rote Kreuz«, stellte der Klassenälteste fest. »Es reizt zum Schießen, wie das rote Tuch den Ochsen zum Stoßen, hat mein Onkel gesagt, der Sanitäter ist«, ergänzte dies ein weiterer. »Die Engländer haben unter dem Schutz des Roten Kreuzes Truppen an den Dardanellen gelandet!« hatte noch einer dreinzurufen. »Man benutzt es zum Schmuggeln!« krähte das Kasperle der Klasse dazwischen.
Zum großen Glück für Kaplan Melzer unterbrach in diesem Augenblick, als die Klasse ganz die Herrschaft an sich reißen wollte, die Glocke des Schuldieners mit ihrem oft so heiß ersehnten Klang den Lärm, der auf den Schülerbänken tobte. Kaplan Melzer erhob sich vom Pult und ging zitternd hinaus. Traurig vor sich hinstarrend, kam er in seine Wohnung, die unfern von der Schule lag. Ein Weinkrampf durchschütterte ihn, als er in sein einsames Zimmer trat. Drüben an der Wand neben dem Kruzifix hing eine an ihren Rändern bereits vergilbte und mit Stockflecken punktierte Photographie nach einem alten Stich, die von ihm aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und hier angeheftet worden war. Ein ehrwürdiger Greis mit einem Samtkäppchen, im Schlafrock auf einem Plüschsessel sitzend, blickte einen aus dem Bild mit klugen, mitleidigen Augen an: Ihm zur Seite war sein Zeichen, das rote Kreuz auf reinem weißen Grund, dargestellt, das Jahrzehnte geehrt hatten und das nun zum Popanz geworden war. Und darunter stand gedruckt: »Johannes Heinrich Dunant, der Samariter von Solferino, der Begründer des Roten Kreuzes«.
Aufschluchzend riß der Geistliche den Kopf des edlen Greises, des Wohltäters, den die Menschheit, die jeden Mordbrenner und Dutzendgeneral in effigie bewahrt, kaum kennt, von seiner Stelle. Welch ein Narr war er gewesen, daß er Kult mit einem Menschen getrieben, daß er an die Möglichkeit geglaubt hatte, die Erde verbessern zu können! Und sich und seinen Rock naß weinend, warf sich Kaplan Melzer, der fortan ein Finsterling wurde, auf das Betpult vor der Wand, an der jetzt nur mehr das traurigste Sinnbild von der Verkehrtheit dieser Welt wie ein angeschlagener toter Adler schwebte: der gekreuzigte Gott, dem die Hände, die er liebevoll der Menschheit zustrecken will, von ihr festgenagelt worden sind.