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Der lange Wilhelm Hilgers hatte sich den Krieg geraume Zeit so bequem wie möglich eingerichtet. Zuerst hatte er sich, indem er alle möglichen Krankheiten vorschützte und Atteste über Atteste beibrachte, monatelang in der Garnison herumgedrückt. Er hatte dort die verschiedensten Posten und Pöstchen bekleidet. Zunächst war er bei der Ausbildung der neuen Rekruten tätig gewesen. Dann, als ihm dies zum Halse herauskam, hatte er sich wochenlang »auf Kammer« zu tun gemacht und hatte die künftigen Vaterlandsverteidiger mürrisch einkleiden helfen. Hernach war er ein paar Wochen auf verschiedenen Schreibstuben beschäftigt gewesen und hatte die Post geholt oder Brillen verteilt oder das Geld für den Zahlmeister besorgt. Später war er beim Brotausgeben und Wäschesortieren behilflich gewesen, stets auf der Suche nach dem Posten, der am wenigsten Mühe machte und am meisten Zeit zum Skatspielen, Rauchen und Dösen, seinen drei Lieblingsbeschäftigungen, frei ließ. Schließlich, als man ihm nahelegte, daß er nur für zeitweise garnisondienstfähig erklärt worden wäre, und daß ihm eine baldige neue Ausmusterung drohen könnte, war er so schlau gewesen, sich durch irgendeine seiner vielen Beziehungen, da er ein schwer reicher Junge war, eine solche sichere Kriegssinekure zu ergattern. In der Nähe des eroberten Antwerpen, fast an der holländischen Grenze, hatte er eine kleine Abteilung, die mehrere Brücken und Schleusen zu bewachen hatte, unter sich. Die Stellung war völlig gefahrlos. Und er fühlte sich, nachdem er das erste Mißbehagen gegen die fremde Gegend überwunden hatte, wirklich hier geborgen wie in dem Kneipzimmer seines Korpshauses. Daß die benachbarten Holländer auch noch gegen Deutschland losgehen würden, wie einige ängstliche Gemüter anfangs gefabelt hatten, erschien ihm, je länger er die friedlichen Leute beobachtete, je mehr ausgeschlossen. Und die Bewohner des besetzten Landes selbst straften durch ihre zahme, lammfromme Haltung alle die wüsten Greuelmärchen Lügen, die von ihnen wie von den Menschenfressern auf den Karibischen Inseln oder den Niam-Niam und Monbuttu im Innern Afrikas zu lesen und zu hören gewesen waren.
Es war also eigentlich nur die Schuld des langen Hilgers selbst, daß er in dieser sanften Ecke fern von jedem Schuß draufgehen mußte. Er hatte sich vor lauter Langeweile mit der Frau des Schleusenwarts, bei der er wohnte, in ein Techtelmechtel eingelassen. Gewiß! Die Verbindung war unter seinem Stande. Das Weib war ebenso roh, wie sie fett war. Aber schließlich konnte man in diesem entlegenen vlämischen Landzipfel nicht mit Herzoginnen anbändeln. Jedenfalls war es das Annehmbarste, das hier zu haben war. Und was der gute Geschmack dagegen sagte, das sprach die Furcht, die bei dem langen Hilgers das erste Stimmrecht hatte, dafür. Es konnte sicherlich nichts schaden, wenn man mit den Einwohnern und besonders den Frauen in Feindesland auf gutem Fuß lebte. Und schließlich hat die unverfälschte bodenständige Gemeinheit zuweilen auch ihre Reize, dachte der lange Hilgers bei sich. Der Schleusenwart selbst, der Mann zu dieser Frau, war verschwunden. Man wußte nicht, ob er in das Heer eingetreten war oder sich nur als Franktireur gegen die Deutschen betätigt hatte. Jedenfalls galt er als vermißt, was bekanntlich in den meisten Fällen nur eine mildere Ausdrucksweise für »tot« ist, durch welche die traurige Tatsache für die Angehörigen noch etwas in der Schwebe gehalten und hinausgeschoben wird. Seine Frau hatte sich freilich schon lange mit seinem Tode abgefunden, was ihr um so leichter glückte, als sie beide sehr schlecht zusammengepaßt hatten. Sie war im Punkt der ehelichen Treue niemals allzu genau gewesen, und das hatte mehrmals zu schlagenden Auseinandersetzungen mit ihrem nun vermißten Manne geführt. Der einzige, der noch eine lebhafte zärtliche Erinnerung an ihn in seinem Herzen trug, war der kleine Kilk, sein Söhnchen, das er im Alter von elf Jahren auf dieser in schrecklichen Krämpfen liegenden Erde zurückgelassen hatte. Kilk war bei den häufigen Ehestreitigkeiten zwischen seinen Eltern im Herzen stets auf seiten seines Vaters gewesen. Er war, sobald er laufen gekonnt, am liebsten mit dem Vater aus dem Hause und an die Schleuse und die Brücke gegangen, wo er seine glücklichsten Tage verbracht hatte. Alles, was sich dort zutrug, das Stauen des Wassers bis zu einer bestimmten Höhe, das Aufdrehen der Tore, das Durchschleusen der Schiffe, das Schließen der Schütze und das neue Aufstauen, all dies sog er wie den Geruch des stehenden und des fließenden Wassers mit seinen frischen jungen unverbrauchten Sinnen in sich auf. Es war für ihn, der es mit seinen kindlichen Augen als ein Vergnügen und noch nicht als ein Gewerbe ansah, ewig neu und ewig abwechselnd. Auch die Brücke, die über den Kanal oberhalb der Schleuse führte und an vier Ketten durch die Pfeiler in die Höhe gezogen wurde, wenn ein kleiner Dampfer keuchend und pfeifend hin und her fuhr oder ein Segelschiff lautlos vorübertrieb, ergötzte das Kind wie ein merkwürdiges riesenhaftes Spielzeug. Und die Fischerei, der sein Vater mit der Angel wie mit Reusen neben seinem sonstigen Wassergeschäft oblag, trug das ihrige dazu bei, ihm den Beruf und die Bedeutung des Vaters, der sich auf alle diese Dinge meisterhaft verstand, als ungeheuer schön und großartig erscheinen zu lassen.
Der Verlust des Vaters traf darum den kleinen Kilk doppelt, weil mit ihm auch die ganze ihm lieb gewordene abenteuerliche Beschäftigung am Wasser aufhörte. Denn der Betrieb der Schleuse ruhte einstweilen, da die Schiffahrt im Kriege stockte und die beiden Knechte seines Vaters außer Landes geflüchtet waren. Die Brücke blieb ewig geschlossen, und auch die Fischerei war ihm von dem langen Hilgers, der sich jetzt an seines Vaters Stelle im Wohnhause breit machte, nachdrücklich verboten worden. Kilk wußte sich darum die Zeit nicht anders zu vertreiben als dadurch, daß er in dem Stall hinter dem Hause, in dem die Werkzeuge und Fischereigeräte des Vaters sich tatenlos wie er herumlangweilten, bosselte und spielte und zuweilen durch das runde Lukenfenster traurig auf die verödete Schleuse starrte und auf die Brücke, die nicht mehr aufgezogen wurde und mit ihren Pfeilern wie ein schwarzes Galgengerüst in den grauen Winterhimmel ragte. Gleich Riesenstörchen hockten Schleuse und Brücke verschlafen am Boden und rührten ihre Flügel nicht mehr. Die weiten Horizonte, die sich in dem trägen Wasser widerspiegelten, zogen dem Kind in einer unendlich leeren unerfüllten Sehnsucht die Seele aus der Brust. In dem halbdunklen Stallraum, in dem noch alles, die Netze, die Körbe, die Angelruten, das Beil und die vielen anderen Arbeitssachen des Vaters an ihn erinnerten, war es noch am erträglichsten für den kleinen Kilk. Hier zwischen den Werkzeugen und den Geräten, die zu groß für ihn waren, konnte er ungestört an den Vater zurückdenken und traurig wie ein Zwerg darüber nachgrübeln, wie und warum dies so gekommen sei, daß sich sein Vater für immer, wie alle sagten, davongemacht hätte. Da vorn im Hause war das kaum mehr möglich. Da stampfte jetzt statt des Vaters der lange Hilgers umher, ein wildfremder Mensch in feldgrauer Uniform, der plötzlich hier hereingeschneit war und sich alles anmaßte, was dem Vater gehört hatte. Alles, selbst die Mutter.
Als der kleine Kilk dies zuerst merkte, als er nach einem Abendessen sah, wie der lange Hilgers heimlich seine große Hand hinten in den Rock der Mutter steckte und sie ihn ruhig gewähren ließ, da wurde ihm plötzlich so heiß, wie er noch nie in seinem Leben gewesen war. Er schämte sich, ohne daß es ihn jemand gelehrt hatte, bis in den Grund seiner jungen Seele, und im gleichen Augenblick rückte er, so klein er war, innerlich ab von der Mutter. Ja, er beobachtete sie, was er noch nie zuvor getan hatte, mit einem Gefühl fast roher Gleichgültigkeit und Verachtung. Als er zum erstenmal nach dieser quälenden Entdeckung wieder in den Stall trat, kam ihm beim Anblick der geliebten Gegenstände, die des Vaters Hände so oft berührt und gebraucht hatten, sofort der Gedanke: »Das muß gerächt werden.« Früher, als der Vater noch gelebt und sich selber wehren konnte, wär' er nie darauf verfallen, Aber jetzt, wo dieser schutzlos war, mußte er für ihn eintreten und seine Partei übernehmen. Er fühlte klar, daß dem Vater Unrecht geschehen war. Und zwar von dem Menschen, der dort vorn herumrumorte und alles und auch seine Mutter anfaßte, die ihm so wenig zugehörte wie das Bett des Vaters, in dem er sich mit seinen langen Beinen herumsielte. Er sollte ihm büßen dafür. Dies wuchs mit ursprünglicher Gewalt aus dem Kinde heraus. Er hatte es nicht etwa angelesen und danach anempfunden und sich in die Rolle, die ihm sein Schicksal zuwies, hineingedacht. Er konnte überhaupt gar nicht lesen, da man es in diesem mitteleuropäischen Lande nicht so genau mit der Schulpflicht nahm, und er und sein Vater sich nicht solcher überflüssiger Studien halber voneinander trennen mochten. »Wenn du beten kannst, weißt du genug!« hatte der Alte immer gesagt. »Was du fürs Leben brauchst, bring' ich dir schon bei!«
Darum war auch der Plan, den Kilk jetzt faßte, so klar und kalt, wie ihn nur ein nicht durch Nachdenken und Überlegen und Abwägen geschwächter Wille erfinden konnte. Wie ein Wilder handelte das Kind, einfach seinem Haß gegen diesen Fremden nachfolgend, der den Vater aus allem hier, nur nicht aus seinem kleinen Herzen verdrängt hatte. Mitten im Hof zwischen dem Haus und dem Stall befand sich eine Senkgrube, in der sich die Abwässer des Hauses sammelten, ehe sie in den Kanal unterhalb der Schleuse liefen, dorthin, wo sein Vater besonders häufig Grundangeln ausgelegt hatte. Diese Grube war mehr als vier Meter tief, wie Kilk mit dem Senkblei feststellte, das auf einem Querbalken im Stall lag. Wenn also ein Mensch, und wenn er noch so lang war, in diese Grube hineinfiel, so mußte er, wenn ihm keiner zu Hilfe kam, ertrinken wie eine gefangene Ratte, die man mit ihrer Falle in die Schleuse hielt. Vorausgesetzt natürlich, daß genug Wasser in der Senke stand. Und um dies zu erreichen, brauchte man nur die Klappe, durch die das Abflußrohr unten am Kanal abgesperrt werden konnte, fallen zu lassen, wie dies Kilk oft genug von seinem Vater vorgemacht bekommen hatte.
Dies ging sehr leicht. So leicht, wie es war, das breite hölzerne Brett an seinem runden eisernen Ring in der Mitte aufzuheben, das die Senkgrube im Hof verschloß. Die Schwierigkeit war nur die, einen Menschen wie den langen Hilgers dazu zu bringen, in diese Grube hineinzugeraten. Der sah nicht danach aus, als ob er leicht in eine Falle laufen würde. Der legte, trotzdem er unter dem hölzernen Kruzifix schlief, das über dem Bett des Vaters hing, aus lauter Vorsicht und Angst stets noch seine Browningpistole auf den Nachttisch neben sich.
Der kleine Kilk mußte also auf eine besonders günstige Gelegenheit passen, eh' er seine Falle aufstellen konnte. Mit einer zähen Geduld, wie er sie seinem Vater beim Fischen abgelernt hatte, wartete er auf den Moment, wo er das Brett über der Grube hochziehen konnte. Denn er sagte sich, daß, wenn es ihm einmal mißlang, es für immer vorbei war. Und eines Abends schien ihm die richtige Stunde geschlagen zu haben: der lange Hilgers hatte sich ein übriges geleistet, weil gerade eine riesige Freßkiste für ihn aus der Heimat angekommen war, und hatte sich derart vollgetrunken und gemästet, als hätte er am andern Morgen in die Front nach Polen ausrücken müssen. Kilks Mutter hatte ihm nicht schlecht dabei geholfen. Sie war eine wüste rothaarige Vlämin, die nichts lieber tat als essen, trinken und unflätig sein, wobei man nur manchmal im Zweifel sein konnte, welches von den dreien ihr das allerliebste war. Überhitzt von dem Gelage saßen sie nun behaglich schnaufend und Zigaretten paffend zusammen auf dem abgeschabten Sofa. Sie hatten über ihrer Völlerei ganz den kleinen Kilk vergessen, der in einer Ecke des Zimmers war und scheinbar an einem hölzernen Boot schnitzte, in Wahrheit aber die beiden aus seinen klein gewordenen, übermüdeten Augen blinzelnd beobachtete. Wie auf zwei dicke dumme Karpfen, die im trüben Kanalwasser lüstern um seine Angel trieben und stießen, sah er erwartungsvoll scheu auf die beiden hin. Der lange Hilgers fing plötzlich einen seiner Blicke auf, der ihn unangenehm überraschte:
»He! du kleiner ›Kilk in die Welt‹!« – Das war der ständige Scherz, den er mit dem Jungen machte. – »Hol' uns noch drei Flaschen Bier aus dem Keller und dann hinaus mit dir!«
Das Kind verschwand auf der Stelle, als hätte es nur gewartet auf diesen Auftrag. Dem langen Hilgers ging noch sein arglistiger Blick durch den Kopf: »Ob der Bengel etwas gemerkt hat zwischen dir und mir?« fragte er die Frau, die immer nur ungefähr den Sinn verstand von dem, was er sagte.
»Nein!« sagte sie lachend auf deutsch: »Noch viel zu klein! Noch nichts versteht von solche Dinge.« Sie lehnte sich räkelnd zurück und rieb sich ihren dicken Rücken am Sofa vor lauter Wohlbehagen, wie sich ein Schwein am Pfosten seines Kofens reibt. Sie gab sich nicht dem mindesten Gedanken über ihren Sohn hin und vermied es wie die meisten nichtsnutzigen Weiber, das eigene Kind für voll zu nehmen.
Der Junge kam mit fünf Flaschen Bier zurück, die er, nachdem er die zehn leeren Weinflaschen weggeräumt hatte, auf den Tisch stellte.
»Dummer Kerl! Warum bringst du denn fünf Flaschen? Verstehst du kein Deutsch? Ich spreche doch deutschlich genug.« Der lange Hilgers war ein Freund von Wortspielen wie Shakespeare, eine Neigung, die sich, seitdem er rings um sich Vlämisch, diese Stiefschwester der deutschen Sprache, vernahm, noch bei ihm verstärkt hatte. Der kleine Kilk versuchte ihn anzulachen, so gut es ihm seinem Todfeind gegenüber gelingen wollte.
»Ach was! Scher' dich hinauf! Du verfünfst mich noch zum Trinken. Mach' nichts ins Bett, hörst du!« Diesen letzten Witz riß der lange Hilgers der Genossin an seiner Seite zuliebe, die ihn denn auch mit einer noch derberen Ausschmückung laut lachend anerkannte.
Die Berechnung des kleinen Kilk erwies sich übrigens durchaus nicht als zu hoch. Denn das saubere Paar trank, nachdem sich das Kind weggemacht hatte, eine Flasche nach der anderen unter dem zwischen ihnen üblichen Zeitvertreib leer, bis die letzte erledigt war.
»Na! Nun wird's auch für uns beide Zeit, ins Bette zu machen!« sagte der lange Hilgers auf sächsisch und stellte sich wackelnd auf sein hohes Piedestal. »Sagt' ich es nicht: drei Flaschen wären vollauf genug gewesen. Voll genug!« wiederholte er. »Übervoll! Wenn's nur keinen Überfall gibt heute nacht.« Er merkte, daß er ins Kohlen kam, und nahm sich, weil es ihm wieder schwach bewußt wurde, daß er in Feindesland war, möglichst zusammen. »Ich will wenigstens so höflich sein, vorher auf den Hof zu gehen«, redete er weiter und versuchte sich in Bewegung zu setzen, was ihm nach einigen Ansätzen gelang.
»'s ist chut!« meinte die dicke Vlämin sachverständig. »Ich cheh' nach oben und wart' auf dich.« Sie kratzte sich in ihrem wüsten roten Haar, das sich ganz aufgelöst hatte. Sie konnte mehr vertragen als der lange Hilgers, und es gelang ihr, sich mit Hilfe des Geländers und des ihr bekannten Geländes, wie er höchst wahrscheinlich gefaselt haben würde, heil hinaufzubringen. Er selbst war auf den Hof getreten. Es fisselte ein wenig vom Himmel und war ganz schwarz, so daß er sich mit der linken Hand am Stall forttappen mußte.
Nur ein paar Schritte. Denn er mochte nicht gern ins Dunkle gehen und das Haus und seinen Schutz verlassen. Als er stehen bleiben wollte, war es ihm, als ob an seinem rechten Bein etwas vorbeischlich. Er glaubte, daß es eine Ratte wäre, eines dieser scheußlichen nackten Tiere, vor denen er einen tiefen körperlichen Abscheu hatte, und trat wütend nach ihr aus. Das war sein Verderben. Denn nun geriet er von der Mauerwand, kam ins Wackeln, und indem er in die Finsternis weiterstolperte, sauste er seinen beiden langen Beinen nach in die offene Grube. Sofort machte der kleine Kilk, der die ganze Zeit draußen auf diesen Augenblick gelauert und sich mit seinen kleinen Katzenaugen längst an die Dunkelheit gewöhnt hatte, das Brett über der Senke zu. Trotzdem hörte man eine Weile noch den langen Hilgers drunten verzweifelt rufen und toben.
Kilks Mutter war es indessen, nachdem sie mehrmals die Kerze mit dem Feuerzeug verwechselt hatte, endlich geglückt, Licht anzuzünden. Sie öffnete jetzt das Fenster und schrie hinunter, was es dort gäbe. Der kleine Kilk weinte und wimmerte so laut, daß sie das dumpfe Getöse des drunten Ertrinkenden nicht vernehmen konnte. »Ich hab' Zahnschmerzen, Mutter. Schreckliche Zahnschmerzen!«
»Ach was! Mach', daß du ins Bett und ins Warme kommst!« schimpfte sie auf vlämisch. »Hast du den Herrn nicht gesehen?«
»Doch! Er ist ein wenig zur Schleuse gegangen. Meine Zähne tun mir weh, o meine Zähne!« winselte der Junge.
»Halt's Maul mit deinem Geplärr!« schrie die Alte, warf das Fenster zu und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie merkte, daß ihr schwindlig wurde, knöpfte sich auf, soweit sie es nicht schon getan hatte, und warf sich rücklings in ihr Bett, aus dem sie bald in ihrer schiefen Lage schnarchte wie ein offenes Schleusenwerk. Der kleine Kilk schwieg sofort, als sie verschwunden war. Auch unter ihm war es jetzt ganz ruhig geworden. Er wartete der Vorsicht halber noch ein paar Minuten. Dann hob er behutsam das hölzerne Brett über der Grube in die Höhe und lauschte hinunter. Es war totenstill in der Falle geworden.
Es gab eine ziemlich strenge Untersuchung über das Verschwinden des langen Hilgers, der nun auch wie sein Vorgänger an der Schleuse und der Frau als »vermißt« galt. Man durchforschte die Menschen wie die Gegend. Aber man konnte nicht das geringste herausbekommen. Die Frau war – das glaubte man ihr nach dem Tatbestand, den man vorgefunden hatte – vollkommen betrunken gewesen. Man sperrte sie eine Zeitlang ein, ließ sie aber dann, als sich nichts Weiteres gegen sie ergab, wieder laufen. Auf den kleinen Kilk als Täter verfiel keiner. Wie hätte auch ein solcher Däumling einen Riesenkerl wie den langen Hilgers überwältigen können! Man übersah ihn wie die kleine Senkgrube im Hof, weil man nicht daran dachte, daß ein erwachsener Mensch in ihr umkommen könnte, sondern immerzu an der Schleuse nach einer Spur von ihm herumsuchte. Auch mochte man das Kind nicht lange mit Verhören quälen, weil es ganz verkümmert aussah und offenbar krank war, so daß man Mitleid mit dem armen verwaisten Jungen, dem Kind einer solchen Mutter, bekam.
In der Tat begann der kleine Kilk gleich nach seinem Verbrechen tiefsinnig zu werden. Weniger aus Gewissensbissen, denn er hatte den Vater gerächt, so gut wie er es vermochte. Darum brauchte er sich keine Vorwurfe zu machen. Es war mehr das Gefühl, etwas zu Schweres vollführt zu haben, das ihn angriff. Es erging ihm wie einem, der sich überhoben hat und nun matt und schlaff wird und krank herumliegt und sich nicht rühren mag, weil ihm alles weh tut. Das Bewußtsein dieser Tat, die er scheinbar so leicht und sicher ausgeführt hatte, wuchs immer mehr in ihm an und zerriß ihn, wie der Ableger eines großen Baumes den Blumentopf zersprengt, in den man ihn senkte. Stundenlang schlich oder lag er jetzt an der, unbenutzten Schleuse herum, deren aufgestautes Wasser immer schwarzer und schlammiger wurde, als ob sich Kilks Innerstes darin widergespiegelt hätte. Das Schrecklichste war, daß er fortwährend im Wachen wie im Schlafen große Ratten sah, diese häßlichen grauschwarzen nackten Tiere, die sich, seitdem er die Klappe vor dem Abflußrohr unten am Kanal wieder geöffnet hatte, dort, von dem Körper des Toten angezogen, in unheimlicher Weise vermehrten.
Der kleine Kilk wurde immer schwermütiger und niedergedrückter. Die Last seiner Tat nahm von Tag zu Tag zu und erstickte ihn wie der Verwesungsgeruch, der von der Leiche des langen Hilgers kam, und den die andern auf das faul gewordene Wasser im Kanal schoben. Das letzte helle Gefühl schwand dem Kind, als es bemerken mußte, daß seine Mutter, die aus dem Gefängnis wieder heimgekehrt war, dort neue Beziehungen zu den fremden Soldaten angeknüpft hatte, die sich in sie zu teilen anfingen. In seiner Lebensangst lief der kleine Kilk schließlich in die Kirche zum Kaplan, dem er seine ganze Untat beichtete. Der Geistliche, der ein leidenschaftlicher Patriot war, absolvierte das Kind sofort und versuchte mit allen Mitteln seiner Religion und seiner Persönlichkeit, den Kleinen zu beruhigen und ihm vor allem die Furcht vor den Ratten auszureden, die er immer zu sehen glaubte, was ihm einen beständigen Schüttelfrost verursachte.
Doch es war schon zu spät. Den Morgen darauf trieb sich der kleine Kilk wieder an dem stillen toten Schleusenwerk herum. Die traurige Erinnerung an die Zeit, da hier alles, die Brückenzüge, die Schleusentore, das Drehwerk und die Krabbenkörbe selbst, die jetzt unbenutzt im Schlamm lagen, voll Leben steckte, machte wohl, daß er sich hier in dem abgestorbenen gespenstischen Widerspiel jener Tage selber wie tot vorkam. Denn plötzlich, grad als man ihn zum Essen rief, ließ er sich in das Stauwasser fallen. Man zog ihn noch atmend und zappelnd wieder heraus. Aber kaum auf das Land gekommen, starb er wie ein Fisch in unserer Luft. Man rief den Kaplan herbei, der ihm noch die letzten Segnungen zuteil werden ließ. Er steckte seinen eigenen Leopoldsorden, der wegen besonderer Verdienste um das Vaterland verliehen wird, dem toten Kind auf die Brust und gab an, daß er so geschmückt in den Sarg und ins Grab gelegt werden sollte. Kein Mensch wußte warum. Aber man wunderte sich nicht weiter darüber. Man hatte sich damals, als täglich durchschnittlich fünftausend blühende rechtschaffene Männer auf Erden dahinstarben, über viel Größeres zu verwundern als über den Tod des armen kleinen Kilk, der dem langen Hilgers schnell wie sein Schatten nachgefolgt war.