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Bruderhaß

Das war ein ziemlich unangenehmer Auftrag, den der Hauptmann Keller während des Krieges bekommen hatte. Er sollte der Ausgrabung eines seiner Jugendfreunde beiwohnen, der vor wenigen Wochen als Offizier bei einem Gefecht gefallen war. Die Witwe hatte mit großen Mühen und Opfern die Erlaubnis erwirkt, die Leiche in ihren Heimatsort zu überführen. Es war ihr zu Ohren gekommen, daß Hauptmann Keller, von dem ihr seliger Mann zuweilen gesprochen hatte, in der Nähe der Ortschaft, wo ihr Gatte gestorben und verscharrt worden war, bei irgendeinem Stabe stand. Und so hatte sie an ihn einen rührenden Brief geschrieben, in dem sie ihn an die tiefe zärtliche Freundschaft erinnerte, die ihren Mann jedenfalls zeitlebens fest mit ihm verbunden hätte, und ihn zugleich anflehte, ihr bei der Auffindung und Ausgrabung des teuren Leichnams nach Kräften behilflich zu sein. Ihr Bruder, ein älterer, sehr schwerhöriger Herr, hatte nebst dem Erlaubnisschein zur Ausgrabung diesen Brief dem Hauptmann Keller eigenhändig überbracht. Er war mit einem Automobil herangereist, auf dem er auch die Leiche seines Schwagers selbst wieder zurückbefördern wollte.

Hauptmann Keller konnte sich dieser Bitte schwerlich entziehen, zumal der Ort, wo der Tote liegen sollte, nur wenige Kilometer von seinem Quartier entfernt war, wie er auf der Generalstabskarte feststellte. Er nahm sich also für den andern Morgen Urlaub und fuhr in der Frühe mit dem Schwager seines verstorbenen Freundes der Ortschaft zu. Das Automobil sauste über die Landstraße dahin, und die hohen Pappeln zu beiden Seiten des Weges schienen sich im Kreise von ihnen zu entfernen. Ab und zu kam man an ein paar ausgebrannten leeren Häusern vorüber, die wie traurige Meiler und schwarze Kennzeichen des Krieges dastanden und den schauerlichen Weg, den er gezogen war, auf das unheimlichste angaben. Das Örtchen, in dessen Nähe der Tote liegen sollte, war ein kleines erbärmliches Nest, in dem nicht einmal mehr ein deutscher Wachtposten war. Der Krieg selbst hatte sich in den letzten Wochen längst weiter gezogen. Mit Hilfe einer Streifwache, die gerade auf einem Fahrrad vorüberkam, entdeckten sie das Haus des Ortsvorstehers. Er saß bei seinem Morgenkaffee, in den er, um ihn sich zu würzen, immerzu wieder ein wenig Genever aus der bauchigen blauglasierten irdenen Schnapsflasche eingoß, die neben ihm auf dem Tische stand. »Sonst ließen sich diese schweren Zeiten gar nicht mehr ertragen!« pflegte er dabei zu versichern.

Hauptmann Keller, der sich leidlich auf französisch verständlich machen konnte, erklärte ihm, warum sie gekommen wären, und gab ihm auf einem Plan, den er nach der großen Karte und nach den weiteren Angaben aufgezeichnet hatte, die ungefähre Stelle an, wo sich die Grabstelle wohl befinden mußte.

»Ja! Ja!« sagte der Ortsvorsteher, als ob er sich erinnert hätte. »Das ist auch so! Da oben auf der Höhe haben sie gekämpft. Und es sollen zwei Offiziere dabei geblieben sein. Ganz richtig! Ein Deutscher und ein Engländer, hieß es.« –

»Die verdammten Engländer!« fügte er, um sich bei dem deutschen Besuch beliebt zu machen, hinzu.

Man begab sich nun mit ihm und dem Gemeindediener, der zugleich auch nach Bedarf Totengräber war, auf den Weg zu dem Grabe. Der Totengräber war anders wie manche seines Standes, die von den Dichtern gern als heitere, lebenslustige Gesellen dargestellt werden, ein höchst mißvergnügter Kerl, der verdrießlich mit seiner Hacke und Schaufel hinter ihnen dreinschlürfte. Selbst die zehn Franken, die Hauptmann Keller ihm als Handgeld im voraus gegeben hatte, schienen seine Stimmung nicht aufzubessern.

Um so aufgeknöpfter und zuvorkommender wurde der Ortsvorsteher, indes sie der Grabstätte zuschritten. Besonders, nachdem es ihm gelungen war, den beiden Deutschen, die ziemlich wortkarg neben ihm hergingen, einen der Särge aufzuschwätzen, die sein Freund, der Schreinermeister des Dorfes, auf Vorrat zuviel gearbeitet hatte. Von der Werkstatt dieses Schreiners bog ein Feldweg nach der Stelle des Grabes rechts ab. Er stieg ein wenig an und war zu beiden Seiten mit Brombeerknicks eingefaßt, deren Buschwerk vom Herbst braun geworden war. Ein frischer scharfer Wind fiedelte durch diese da und dort bereits kahlen Hecken.

»Oben nach den Dünen zu liegt das Grab!« schrie der Ortsvorsteher und drehte sich seinen Schal fester um den Hals. »Eine verdammte Brise heute früh!« Langsam ging der Zug weiter gegen den Wind, der nach der See zu noch zunahm. Nach einer Viertelstunde wurde links der Ausblick frei. Man näherte sich einem kahlen, unbebauten Feld, das wie ein Stück Heide dalag. In der Ferne wuchsen die graugrünen Dünen, wie ein Hochgebirge von weitem anzuschauen, aus der flachen Ebene empor.

Hauptmann Keller war, um die Aussicht mehr zu genießen, auf das freie Feld linker Hand gegangen. Eine Schar Sperlinge flog auf, wie ein Haufen Steine gegen den grauhellen Himmel geworfen. Der barsche Wind pfiff dem Hauptmann um Backen und Ohren, die wie Feuer glühten. »Wie schön ist es, zu leben und sein warmes Blut noch zu spüren!« fühlte er. Da wurde ihm seine schwere Offiziersmütze in diesem Augenblick von dem heftigen Sturm vom Kopf gerissen. Er rannte ihr ein paar Schritte nach, indes sie ziellos vor ihm herrollte. Jetzt blieb sie liegen. Er bückte sich nach ihr und bemerkte, daß sie von einem kleinen, kaum mehr sichtbaren Holzkreuz aufgehalten worden war. Eingesunken und von dem beständigen Sturm, der hier blies, zur Erde gebogen, lehnte es sich über einen niedrigen dürren Grabhügel. Hauptmann Keller beugte sich noch mehr zu ihm und entzifferte mühsam die Inschrift, die mit Bleistift auf das hölzerne Kreuz gekritzelt und vom Regen und Wind fast verwaschen und verweht war: »Hier liegen zwei Offiziere, ein Deutscher und ein Engländer.«

Hauptmann Keller blickte umher über die öde Halde. Der Wind strich, in hohen Tonen heulend, ja fast wimmernd, durch die dünnen Gräser; der verwelkte Grabkranz und die vertrockneten Blumen, die einstmals auf dem Hügel lagen, waren von ihm ein paar Meter weit weggefegt worden. Und das sah am traurigsten aus, daß die Gruft damit ihres einzigen Schmuckes beraubt und kahl und kaum noch kenntlich geworden war.

Die andere Gesellschaft kam herzu. »Hab' ich es nicht gesagt!« rief der Ortsvorsteher gegen den Wind, der ihm die Worte fast vom Munde wegblies. »Oben nach den Dünen zu muß das Grab sein. Es stimmt ganz genau. Na, nun mal los, Bernhard!«

Der Totengräber fing mißmutig an, in dem wilden Wehen das Grab aufzuwerfen und die Erde über dieser Stätte wieder zu öffnen. Hatte man nicht genug Arbeit, die Toten einzuscharren und verschwinden zu lassen, mußte man sie jetzt nochmals herausholen und an die Luft und den Sturm zurückbringen, an die sie nicht mehr gehörten, schien er bei seinem Schaufeln zu denken, indem er sich ab und zu ein Tröpflein von der Nase wischte. Die andern standen daneben und sahen zu, wie das Loch immer größer wurde. Er brauchte nicht mehr tief zu graben. Denn er stieß sehr bald schon auf einen Leichnam. »Kaum einen Meter tief haben sie ihn eingekratzt!« meinte er sachverständig und fügte unzufrieden knurrend über die Leute, die ihm ins Handwerk gepfuscht hatten, hinzu: »Sie haben sich kaum mehr Zeit gelassen, ihre Toten anständig zu beerdigen!« Er machte jetzt einen Graben rund um die Leiche, um sie nicht weiter zu beschädigen und, wenn sie rings freilag, sie möglichst heil herausheben zu können.

»Bist du noch nicht auf die andere Leiche gestoßen, Bernhard?« rief ihm der Ortsvorsteher fragend zu.

»Nein, Herr! Sie müssen übereinander beerdigt worden sein!« Er fing behutsam an, mit seinen bloßen Händen die Erde von der Leiche zu schieben. Nach und nach wurde die Rückseite eines menschlichen Kadavers sichtbar.

»Sonderbar!« knurrte der Totengräber: »Als ob er sich noch im Grabe umgedreht hätte!« Man sah und hörte ihn noch eine Weile in der Erde herumarbeiten und den Toten freilegen. Plötzlich tauchte er ganz erschrocken und zitternd in die Höhe. »Nein, Herr!« keuchte er, »dazu bin ich nicht angestellt in der Gemeinde, um Tote wieder heraufzukratzen. Das geht über meine Verpflichtungen. Einscharren will ich jeden, der gestorben ist und die heiligen Sterbesakramente bekommen hat. Aber ihn wieder hervorzuholen, dafür bedank' ich mich für alle Zeiten seit dieser verfluchten Geschichte.«

»Was ist denn los? Was gibt es denn da unten?« wollte der Ortsvorsteher ihn beruhigen.

Aber der Totengräber suchte seine Schaufel und Hacke zusammen. »Ich hab' genug davon! Sehen Sie selbst nach! Ich hab' die beiden ganz aufgedeckt. Es sind zwei Todsünder. Sie haben noch im Grabe nicht aufgehört, miteinander zu streiten. Sehen Sie selbst.«

Hauptmann Keller, der sein Kauderwelsch nur halb verstand, stieg in das Loch hinunter, um nachzusehen, was es gab. Aber auch er, der den Krieg vom ersten Tage an mitgemacht hatte, fuhr zusammen bei dem schauerlichen Anblick, der sich ihm bot. Es war wirklich so, wie der Totengräber ausgesagt hatte. Der deutsche Offizier, sein Freund, war offenbar in der Eile und Aufregung nach dem Kampf noch lebend notdürftig hier neben dem gefallenen Engländer bestattet worden. Durch die Qual der Erstickung wieder schwach zum Bewußtsein gekommen, hatte er sich in seiner Todesangst und in der Wut des Krieges, von der er noch ganz besessen war, auf den toten Engländer gewälzt, um noch im Grabe den Kampf gegen den verhaßten Gegner fortzusetzen. Mit beiden Händen hielt er dessen Hals und Gurgel gepackt und schien noch im Sterben seinen Todfeind ganz unschädlich machen zu wollen. Und es war schrecklich anzusehen, wie er sich mit seiner letzten Kraft an einer Leiche vergriffen, als hätte er den Toten noch toter würgen wollen. Nur mit Hilfe des Ortsvorstehers und des Schwagers seines Freundes, die ihm entsetzt dabei halfen, gelang es dem Hauptmann Keller, die im Krampf an der Kehle des Engländers festgefrorenen Hände von ihr loszubekommen. So wahnsinnig waren die beiden durch den Bruderhaß, den bittersten von allen, miteinander verwachsen.

Das Grausigste für Hauptmann Keller aber war dies, daß die beiden, der deutsche und der englische Offizier, als sie nun auf dem Rücken steif nebeneinander lagen, sich so ähnlich sahen, daß man sie ohne ihre verschiedenen Uniformen kaum hätte unterscheiden können. Der Tod hatte sie, die wohl schon einander im Leben geglichen hatten, zum Verwechseln und Entsetzen angeähnelt: mit ihren starren blonden Haaren über ihrer hohen weißen Stirn und dem kurz geschnittenen Schnurrbart und den schon ein wenig eingesunkenen Nasen und dem trotzig verbissenen Mund, um den bereits die Verwesung wucherte. So lagen ihre beiden Leichen wie zwei Brüder jetzt ruhig nebeneinander auf der Heide, umweht von dem scharfen Seewind, der von den Dünen blies, und starrten in den Himmel, der über Deutschland wie über England hing.

Der Ortsvorsteher, der sich indessen mehrfach über den scheußlichen Leichengeruch und die schweren Zeiten durch einen Zug aus seiner Schnapsflasche gestärkt hatte, winkte dem Schreiner zu, der mit seinem Sarg auf einem ungeölten quieckenden Handwagen schwer gegen den Sturm herankam. Man packte die Leiche des deutschen Offiziers hinein und fuhr sie zu dem Automobil, das ihn in seine Heimat zurückbrachte. Hauptmann Keller blieb bei der Leiche des englischen Offiziers, bis der Totengräber, der sich mürrisch wieder zu der richtiggehenden Ausübung seines Berufes eingefunden hatte, sie an der alten Stelle aufs neue bestattet hatte. Hauptmann Keller holte den verwelkten Grabkranz herbei und legte ihn auf den frischen Hügel, unter dem der Engländer, nun getrennt von seinem Gegner, vom Sturm umheult schlummerte. Und als der Totengräber ein stummes Gebet über der geschlossenen Gruft sprach und hierauf mit der ständigen Redensart der einfachen Leute sagte: »Er hat auch eine Mutter gehabt!«, da kam dem Hauptmann zum erstenmal während des Krieges beinahe so etwas wie eine Träne in die Augen.

»Verflucht!« schnauzte er sich unhörbar an. »Um einen Engländer, einen der Kerle, die Schuld tragen an diesem ganzen Gemetzel der weißen Menschheit!« Und rannte ingrimmig zu dem Automobil zurück, auf das man hinten den Sarg mit der Leiche seines Freundes gebunden hatte.

»Ein Glück, daß man die beiden getrennt hat!« sagte er fröstelnd zu seinem Begleiter, der im Wagen sitzen geblieben war. »Es konnte nicht in alle Ewigkeit so fortgehen mit ihnen!«


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