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Der übertragbare Tiger

Koreanisch

Einstmals reiste ein Mann über Land. Vor ihm stieg ein steiler Berg auf, über den die Straße führte, während zu ihrer Rechten und Linken sich ein Grund mit Blumen und Bäumen aller Art breitete und tiefes weiches Gras den Boden deckte. Vögel und allerlei Kriechtiere trieben darin ein lustiges Wesen, und von einem luftigen Felsen kam ein Perlenstrom herab, in einem Schauer von zehntausend blitzenden Juwelen. Unten sammelte sich das Wasser in einen weiten Teich, an dessen Ufer bedächtig ein alter Fischer saß. Er hatte sein schmutziges Netzwerk beiseite gelegt und sang ein Lied, während auf der anderen Seite des Teiches ein Holzfäller zu seiner Arbeit pfiff. Vom Gesange erfreut und in Betrachtung der Landschaft vergaß der Wanderer die Mühsal seiner Reise und schlenderte so seinen Weg, bald rastend, bald gemächlich vor sich hingehend, als er auf der linken Seite der Landstraße einen tiefen Hohlweg wahrnahm. Wo der wohl hinführe, verwunderte er sich und ließ sich zur Rast auf einen Felsblock nieder, als er, zwischen den Bäumen durchblickend, einen Tiger und einen Menschen sah, die einander gegenüberstanden. Erstaunt über das Fremdartige der Erscheinung trat er näher und sah nun einen Burschen von zwanzig Jahren, der mit einer Hand einen Tiger bei der Kehle hielt, während er mit der anderen den Ast eines nahestehenden Baumes umfaßt hatte. Während der Wanderer so schaute, konnte er wahrnehmen, daß der Tiger ganz erschöpft war. Er berührte nur noch mit einem Hinterbein den Boden. Aber auch der Bursche war ganz von Kräften, und die beiden standen so und schauten einander an. Die Sachlage war die, daß, wenn einer von den beiden wieder zu Kräften kam, dies für den andern sicheren Tod bedeutete. Nun war der Wanderer von Natur ein starker und tapferer Mann, der, als er das sah, dem Jungen helfen wollte, und er trat darum näher. Wie ihn der Bursche erblickte, rief er: »Während ich Holz fällte, geriet ich mit diesem Tiger zusammen. Ich bin nun ganz erschöpft und unfähig, die Bestie auch nur mehr ganz kurze Zeit zu halten. Wenn Ihr so gut sein wollt, ihn an meiner Stelle nur ein Weilchen zu packen, so will ich ihn totschlagen. Was meint Ihr dazu?« Der Wanderer sagte: »Ja, ich will.« Und er nahm sogleich des Burschen Platz ein und griff den Tiger kräftig bei der Gurgel, so daß sich der nicht rühren konnte. Da sagte er zu dem Jungen: »Ich habe Eile weiterzukommen, darum schlage das Vieh schnell tot!« Der antwortete: »Ich habe gar keine Kraft mehr in meinen Armen, wart ein Weilchen, ich will gehen, eine Waffe zu holen, mit der das Vieh zu erschlagen ist.« Während er so sprach, ging er fort; zwei, drei Stunden vergingen, aber er kam nicht wieder. Des Wanderers Kraft ließ bald gleichfalls nach, und da er gar kein Mittel sah, den Tiger zu töten oder ihn laufen zu lassen ohne Gefahr, dachte er bei sich: »Es wäre besser für mich gewesen, weiterzugehen. Den Jungen wollte ich retten, und das ist geglückt, aber mich selbst brachte ich in Gefahr. Hat man so etwas je gehört?« Und er erhob seine Stimme und rief den Burschen, aber es kam keine Antwort. Und jetzt bekam der Tiger seine Kraft wieder, regte sich und rührte sich, ließ seine gelben Augen funkeln und brüllte laut wie Donner. Gerade da kam ein schmutziger Priester den Weg (nicht der Bursche), und da die Bäume dicht standen und er nichts sehen konnte, sagte er bei sich: »Da brüllte irgendwo ein Tiger, aber wenn ich nach ihm schaue, seh' ich ihn nicht und er brüllt auch nicht wieder. Wie sonderbar!« Er blieb stehen zu horchen, guckte dahin und dorthin, als der Reisende ihn zum großen Glück erspähte und rief: »Rettet ein Menschenleben, Hochwürden l« Der Priester ging erstaunt hin, woher das Rufen kam, und fand den Wanderer in größter Gefahr. Er war ein kräftiger Kerl, aber ohne Waffen, so dachte er bei sich: »Nach Priesterregel ist es mir nicht erlaubt, irgend etwas zu beleidigen oder zu töten.« Aber während er dies dachte, war der Mann mit dem Tiger so schwach geworden, daß er daran war, die Bestie laufen zu lassen; wie das der Priester sah, kam er schnell herbei, packte an Stelle des Wanderers den Tiger und sagte: »Sieh hier und höre mein Wort! Nach unserer Priesterregel dürfen wir niemanden ein Leid tun, darum kann ich ihn nicht töten, aber ich will ihn für dich halten. Wenn du dich ein bißchen erholt hast, geh und hol eine Waffe und schlag das Vieh tot!« – Der Wanderer ließ los, lief ein Stückchen vom Orte weg und sagte: »Habt Ihr bloß die buddhistischen Bücher studiert und nicht die Schriften des Manucius gelesen? Darin ist eine Stelle, die besagt: – ›wenn einer einen anderen mit dem Schwerte erschlagen hat und sagt: nicht ich, sondern das Schwert erschlug ihn, so wird die Schuld die des Schwertes und nicht die des Mannes sein.‹ Euer Fall ist ähnlich. Wenn ich auf Eure Worte hörte und den Tiger tötete, so wäre die Schuld nicht meine, sondern Eure, da Ihr mich veranlasset, den Tiger zu erschlagen. Wie könntet Ihr dann sagen, daß Ihr nicht gegen Eure Priesterregel gesündigt hättet? Aber es ist nicht nur um Euretwillen, daß ich diesen Tiger nicht erschlage. Dieser Tiger ist einer, mit denen es Brauch ist, daß sie übertragen werden. Dies bedenke und halt dich an ihm, bis du einen anderen Menschen findest, der ihn von dir nehmen will. Dann tue, wie ich getan, und übertrag den Tiger auf ihn!« Als der Wanderer so gesprochen, lief er davon. Und der Tiger war seither bekannt als der »Übertragbare Tiger«.

So gibt es Leute in der Welt, die Wohltaten empfangen haben und dem, der sie ihnen erwiesen, mit Undank lohnen. Man darf sie für Schüler des Mannes halten, der den Tiger übertragen hat.


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