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Lieber Freund!
Ist es mein Schicksal, daß ich in jedem der drei vergangenen Jahre einen Freund verlieren mußte? Obgleich in unserer Zeit sich viele selbst töten, so werden doch die nicht zu häufig sein, welche ihren nächsten Freund durch Selbstmord verloren haben.
Um Gottes willen, Du bist jetzt mein neuer und innigster Freund, lege nicht Hand an Dich, sonst habe ich vier, die's getan haben. Ich würde sonst denken müssen, es liegt am Umgang mit meiner Person, daß sich meine Freunde töten müssen. Ich wäre somit der von den Dichtern verwendeten symbolischen Figur des Todes ähnlich, und wie schauerlich wäre das! Denke Dir, alle die, welche sich zu meiner Person hingezogen fühlen, müssen sterben.
Wäre es dann nicht meine Pflicht, auch zu sterben?
Doch ich bin so lebensfroh und begreife nicht, warum es immer meine Freunde sind, welche Selbstmord begehen.
Verwundere Dich nicht, daß ich gerade heute davon an Dich schreibe, aber es liegt wieder der große, schwarzgeränderte Briefbogen vor mir.
Er heißt: ». . . Unser heißgeliebter . . . ist am 26. März plötzlich verschieden.«
Ich frage gar nicht lange an, ob er sich selbst entleibt hat. Bei den beiden anderen bestätigte sich meine schreckliche Ahnung. Ich weiß gewiß, sie bestätigt sich auch diesmal.
Warum soll ich durch eine lange Anfrage noch einmal das Schreckliche seinen Angehörigen mitteilen. Es ist schon so.
Das eine bitte ich Dich vorweg, unsere Freundschaft ist erst drei Wochen alt, ehe Du so was tun würdest, hättest Du die Pflicht, es mir mitzuteilen. Damit ich Dich zurückhalten könnte!
Denn ich will nicht der »Tod« sein.
Vielleicht wäre es rücksichtsvoller von mir, ich würde schweigen.
Aber was wäre das für eine Freundschaft, wo man das furchtbarste, was sich einem auf die Seele legt, verschwiege.
Ja, weil sie, die drei, immer alles verschwiegen haben, darum mußten sie sterben. Ich wälze jede Schuld von mir. Ich wußte bei keinem, was ihn drückte. Darum verlange ich jetzt von Dir dasselbe, was ich tue, offene gegenseitige Aussprache, damit es nicht wieder so geht.
Denn ich habe Angst, es liegt doch an meiner Person. Und diesmal, wenn Du auch so stürbest, müßte ich Dir folgen.
Du hast mir schon die Ruhe Deiner Nerven versichert, und so hoffe ich, wirst Du kein solcher Esel sein und gleich jetzt in Deinen Waffenschrank greifen und die Jagdflinte hervorholen.
Aber was heißt »ruhige Nerven«! Die drei Lieben, die ich verlor, kamen mir absolut verständig vor, und ich halte sie auch heute noch für keine Esel.
Dich benenne ich bloß so, damit Du gewiß ernüchtert wirst, wenn Dich meine vorangegangenen Zeilen in Aufregung gebracht haben. Das eine versichere ich Dir noch, daß ich keinem von den Hingegangenen je gesagt habe, mein Freund L. habe sich erschossen. Ich sagte es meinem Freunde B. nie, trotzdem tat er dasselbe. Ich sagte es auch nicht meinem Freunde M., »meine beiden Freunde L. und B. haben sich erschossen«. Trotzdem tat er dasselbe.
Dir endlich, Freund H., Dir sage ich's.
Du siehst also daran, daß ich wirklich vorbeugen will, ernstlich bestrebt bin, Dich zu erhalten. Ich sage Dir's mit vollem Ernst, ich habe furchtbare Angst. Darum schreibe ich Dir.
Gestehe mir jetzt, hast Du je schon einen leisen Gedanken an solches Tun gehabt, Dich etwa zum Beispiel mit Deiner Jagdflinte zu erschießen? Schreibe mir das umgehend, damit ich Dir noch vorher die Freundschaft aufsagen kann.
Denn dann, wenn ich wüßte, daß es nicht durch die Freundschaft mit mir in Dir gewachsen ist, dann könnte ich allenfalls auf die Pflicht, auch abzufahren, verzichten. Ich habe ja innerlich gar nicht das Gefühl, der »Tod« zu sein.
Übrigens, damit ich schnell Deine Antwort auf die letzte Frage habe, will ich für heute schließen. Der Brief soll rasch auf den D-Zug 158, dann antwortest Du mir ebenso rasch.
Hast Du schon früher Selbstmordgedanken gehabt, ehe du mich kanntest?
Ich lache, ich stelle diese Frage etwa, wie sie Versicherungsgesellschaften tun, damit sie wissen, ob sie einen aufnehmen können oder nicht.
Verzeihe also meinen raschen Schluß!
Gib mir sofort Antwort, ich bin jetzt, durch meine eigenen Zeilen, aufs höchste gespannt! Es genügt bloß ja oder nein.
Dein Dich innig liebender Freund E . . .
Rasch auf den Zug!
Antwort:
Liebes Schaf!
Du nanntest mich Esel, ich versichere Dir kurz und bündig, daß ich noch nie in meinem Leben Selbstmordgedanken hatte, dazu habe ich die Weiber viel zu gern. Rein aus mathematischen Verpflichtungen ihnen gegenüber könnte ich so was nicht tun.
Aus Deinem Brief entnehme ich, daß Du Gott sei Dank auch noch nie Selbstmordgedanken hattest und Dich rein das Schicksal mit solch unglücklichen Freunden verkettet hatte.
Ich gebe Dir schon heute das Versprechen, daß ich niemals nachdenklich sein werde. Freuet euch des Lebens, jodeldideldom!
Doch, daß Du siehst, ich bin Dein würd'ger Freund, lege einen Lorbeerkranz, sei es geistig oder wirklich, auf das Grab von jedem Deiner armen drei Freunde L., B. und M. Eventuell schicke mir die Rechnung darüber zu.
Dein treu ergebener Esel.
Lieber Freund!
Du hast einen schweren Druck – ja, ich glaube, Du hast ihn von mir genommen. Du gibst mir die tröstliche Antwort, daß ich Deinetwegen keine Angst zu haben brauche.
Du bist somit in die »Freundschaftsversicherung« von heute ab aufgenommen. Und da ich ebenso lebensfroh bin wie Du, hoffe ich, daß wir, ich unterstreiche es, Freunde bleiben dürfen und sein werden, bis der natürliche Tod uns begegnet.
Die Lorbeerkränze habe ich gekauft, und damit Du erheitert wirst, liegt hier die Rechnung bei. Jeder mit sieben Mark, macht zusammen einundzwanzig Mark. Ich mache das, erstens, damit Du eine Wut kriegst, sie ist nämlich das gesündeste Gegengift gegen Nachdenklichkeit. Zweitens, tust Du's gerne, denn Du wirst dadurch das Andenken an eine schöne Zeit meines Lebens, wie ich es damals mit den dreien lebte, nicht verlieren.
Ich meine doch, Du bist gewiß auch der Ansicht, Freunde haben einander alles teilhaftig zu machen. Also zahle ruhig die Rechnung. Sonst hätte ja die Unterschrift Deines Briefes gar keinen Sinn gehabt.
Nun, gestern brachte ich den ganzen Tag mit Gräberbesuchen zu, jeder liegt auf einem anderen Kirchhof. Einer sogar im Grunewald. Ich mußte immer Autos nehmen, so kam ich beinahe auf ebendasselbe, was Du auch zahlen mußt.
Im Norden liegt mein Freund L., der nie ein Weib berührte. Er versicherte mir dies, und ich glaubte es ihm. Aber wahrscheinlich steckte darin eine Art Krankhaftigkeit, die ihm den Revolver in die Hand gab. Er saß oft auf der Kneipe und machte ein trockenes Gesicht. Er beteiligte sich nicht an den Scherzen der Kneiptafel.
Nachträglich kann ich wohl sagen, daß ich mich darüber verwunderte. Aber damals fiel mir es doch nicht so auf, daß ich ihn darüber zur Rede stellte. Weil er von Zeit zu Zeit so tollustige Gazetten verfaßte und sie so ulkig vortrug, dachte ich eher, sein ruhiges Hinhocken beweist eben seinen tiefen Humor. Dieses Humors wegen war er mein besonderer Freund. Aber wahrhaftig, wenn ich's geahnt hätte, warum er so ruhig war, ich hätte ihm meine Alwine auf die Bude geschickt, um ihn gewaltsam zu kurieren von seiner fixen Idee: »er werde bei Vollendung eines bestialischen ersten Versuches ausgelacht«. Bedenke, sich deswegen totschießen?! Notabene! In seinem letzten hinterlassenen Brief steht es schwarz auf weiß drin, und warum sollte das letzte Wort gelogen sein! Oder war dieser letzte hinterlassene Satz bloß wieder sein toller Humor? Hier komme ich zum Stutzen.
Wenn es ihn gedrückt hätte, daß er mich, seinen besten Freund, aus unbekannten Gründen damit belog, daß er Weiberfeind sei? Ich hatte ihn nämlich an diesem Tag von fern eingehängt gesehen.
Jedenfalls die holde Weiblichkeit war sein Verhängnis.
In Lichtenberg liegt der andere. Von ihm weiß ich gar nichts. Er hat keinen Zettel hinterlassen. Ich hatte noch mit ihm die neue Brücke besichtigt, und dabei hatte ich das Wunderbare dieses Baues vor ihm gepriesen. Weiter nichts. Ob er vielleicht nachdenklich wurde, daß er nicht genug arbeitete?
Am traurigsten wurde ich im Grunewald gestimmt. Dieser Ort, mitten im Walde! Da wurde M. begraben, zehn Jahre später, als er bei mir bis in die Mitternacht hinein, oft bis morgens um drei Uhr, Violine gespielt hatte. Er war Schweizer und ein Kunstliebhaber. Das siehst Du daran, daß er mir um drei Uhr nachts Geige vorspielte, obgleich ich gänzlich unmusikalisch war. Vielleicht war ich deswegen sein auserlesener Freund, weil ich sein Spiel herrlich fand. Nun kam er gerade in seinem bürgerlichen Berufe prächtig vorwärts, verdiente Geld wie Heu. Am Tage, wo er in den Grunewald hinausfuhr, traf ich ihn noch vor dem Bechsteinsaal – ich kam nur zufällig vorbei – und fragte ihn ganz lustig, weil er den Geigenkasten trug: »Ah, Du gibst wohl jetzt Konzerte?« Da lachte er herzlich und sagte: »So weit bin ich doch noch nicht.«
Hatte er vielleicht im stillen den Ehrgeiz, es im Violinspiel so weit zu bringen, daß er öffentlich auftreten konnte? Er schätzte seine Liebhaberei immer höher als seinen Beruf. Er schrieb mir durch die Post: »damals« (er meinte vor zehn Jahren) »war es doch fein.« Ich las die Zeile und hörte ihn den Satz in seinem Schweizerdeutsch reden, da stürzten mir Ströme von Tränen herab.
Und auch gestern, wie ich vor den Gräbern stand und jedem Deinen Lorbeerkranz schenkte, vor seinem Grabe mußte ich wieder laut weinen. Er war gewiß der Unglücklichste, weil er äußerlich gar nichts versäumte. Doch innerlich, nach seiner Meinung, versäumte er sein Talent.
Da Du jedem von ihnen einen Lorbeerkranz weihtest, so durfte ich Dir ihre Geschichte erzählen. Es verschlüge auch nichts, wenn das Mitleid mit ihnen ein allgemeines würde.
So arm wie sie sind viele Menschen.
Nun, ich wollte ja auch von Dir Dein Urteil hören, ob ich vielleicht doch mit im Spiele war oder ein Anstoß zu ihren Taten.
Es wird Dir auffallen, daß ich jedem von meinen Freunden auf der Straße begegnete. War es vielleicht taktlos, was ich zu dem Geiger sagte? Hätte ich die Brücke nicht rühmen sollen? Hätte ich ihn nicht eingehängt sehen sollen?
Innerlich komme ich mir ganz unschuldig vor, aber vielleicht weißt Du mich doch zu rügen, ich wäre Dir dankbar, ich könnte mich mehr in acht nehmen. Denn noch einmal, wenn ich etwas wäre wie der Tod! –?
Wenn Du mich ganz frei weißt von Schuld, so will ich Dir endgültig glauben und ganz getrost weiter leben und mir das ewige Bangen vor einem Wahngedanken, ich könnte etwas sein wie der »Tod«, gänzlich – total – aus dem Kopf schlagen.
Für diesmal sei es genug, von den Alltäglichkeiten um mich erfährst Du schon morgen.
Dein Dich treu liebender Freund E . . .
Antwort:
Lieber Freund!
Du bist ganz frei von Schuld. Ganz seltsam ist die Geschichte Deines Freundes von der Kneipe. Dieses Ausgelachtwerden ist mir nämlich einmal passiert. Nun könnte es doch sein, daß Du ihm unrecht tust, wenn Du den hinterlassenen Zeilen nicht vollen Glauben schenkst.
Aber daß ich Dir's gleich schreibe, meine Freude am Leben ist doch nicht so groß, wie ich Dir gegenüber vorgab. Ich schrieb letzthin im Galgenhumor, bloß damit Du nicht trübsinnig würdest, damit ich nicht Schuld an Dir kriegte. Ich merke, Du bist übel daran, mit Deiner Angst. Es sind jetzt acht Tage, daß es mir passiert ist, da sah ich sie mit einem andern. Ich war so helle und schnelle und suchte mir eine andere, aber es verläßt mich der schleichende Grimm doch nicht so recht.
Nicht, daß Du nun denkst, »da, es ist, seit er mein Freund ist«, es kann ja unmöglich zusammenhängen, weil ich hier bin und Du dort.
Es ist eben scheußlich, daß es Eifersucht gibt und solche Sachen. Das müßte einem ganz Wurst sein.
Lebe wohl!
Dein treuer Freund H . . .
Anliegend 21 Mark.
Telegramm:
Kopf hoch! beim Teufel! Esel, Schaf, Ochse!!
Antwort:
»Unser heißgeliebter . . .
plötzlich verschieden.«
Als E. den schwarzen Druck gelesen hatte, trat er unwillkürlich vor den Spiegel und besah sich, ob er der »Tod« wäre.
Er fand nichts und doch kannte er sein Gesicht nicht recht, das ihm aus dem Facetteglas entgegen sah. Ueber dem Spiegel kreuzten sich zwei Flinten. Diese waren so auffällig deutlich, daß neben ihnen alles zurücktrat. Er wollte sie erlangen, aber er vermochte seine Arme nicht hochzurecken.
Er war gelähmt.