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XVII.

Die prüfenden Blicke Ihrer Exzellenz und das indiskrete, beinahe aufgeregte Forschen der Gräfin Heinau deuchten Flavia schier unerträglich.

Sie benutzte den Augenblick, wo die jugendliche Pflegemama ihren Verehrern die kleine Hand zum Kuß reichen mußte und das allgemeine »Gesegnete Mahlzeit!«- Sagen jung und alt für ein Weilchen beschäftigte, um unbemerkt einen Nebensalon zu betreten und leise durch die Flucht der Zimmer weiter zu wandeln, bis zu dem letzten dämmerig stillen Gemach, zu welchem das Stimmengewirr der animierten Dinergäste kaum noch herüberklang.

Ein altdeutsches Leuchterweibchen hing von der getäfelten Decke, großmächtige, sehr bequeme Möbel im englischen Stil standen auf dem herrlichen Perserteppich, Waffen, ein großes Ölporträt des hochseligen Landesfürsten, sowie dasjenige der liebreizenden ersten Gemahlin des Präsidenten prangten an den Wänden, und hochgefüllte Bücherschränke, der vollgepackte Diplomatenschreibtisch, Aktenstöße und verschlossene Ledermappen verrieten es auf den ersten Blick, daß Flavia das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz betreten hatte.

Einen Moment blieb das junge Mädchen zögernd vor dem Gemälde stehen, von welchem Götzens Mutter mit denselben dunklen Augen wie der Sohn auf sie niedersah.

Dieselbe Leidenschaftlichkeit sprühte auch aus ihrem Blick, und Flavia erinnert sich, von der Pflegemama gehört zu haben, daß die reizende Gräfin Abensberg ein Trotzköpfchen par excellence gewesen, daß ihr leicht aufbrausendes Wesen sie pikant und reizvoll gemacht habe, und daß Götz viel von ihrem Charakter erbte, nur mit dem Unterschied, daß sich bei ihm alle Empfindungen sehr viel schroffer und unliebenswürdiger äußerten.

Flavia schüttelte mit glänzenden Augen das Haupt.

Nein, das taten sie nicht!

Götz war nicht unliebenswürdig, er war nur bis zur Rücksichtslosigkeit offen und ehrlich in seinen Ansichten, er war zu stolz, um etwas zu heucheln, was er nicht empfand.

Die Menschen aber verstehen solch rückhaltlose Aufrichtigkeit nicht und verurteilen sie.

Fräulein von Husby trat in die tiefe Fensternische und blickte nachdenklich in die dunkle Nacht hinaus.

Wo stürmte Graf Götz hin, als er sie soeben verließ?

Wandert er vielleicht ruhelos in seinem Zimmer auf und nieder, sein Hirn zermarternd um einen Ausweg aus all diesen Wirren?

Macht er sich vielleicht klar, wie unklug er handelt, – steht vielleicht sein Vater mit strengem Blick vor ihm und stellt ihm zum letztenmal die Wahl zwischen Glanz und Reichtum an der Seite einer Flavia Husby – oder Elend und Niedrigkeit in einer Hütte, welche seine Liebe für zwei Herzen baut?

Und wird er sich doch noch besinnen, wird er wiederkehren, um alles nachzuholen, was er soeben an Galanterien gegen die reiche Erbin versäumte?

Flavia schauert zusammen bei diesem Gedanken, er tut ihr weh wie ein physischer Schmerz,

Unten rollt ein Wagen und flüchtige Pferdehufe knattern auf dem Pflaster.

Eine Equipage jagt in schnellstem Tempo aus dem Hof, die Laternen blitzen wie Irrlichter, einen Augenblick nur, dann verschwindet sie wie ein Phantom hinter den Gebüschen der Promenade.

Flavia hebt jählings das Haupt und preßt die Hände gegen das Herz.

In solchem Tempo jagt nur ein Mensch, welcher um jeden Preis einem Schicksal entgehen will, – dies ist keine Fahrt, sondern eine Flucht.

Graf Götz?

Ja, er ist es, er muß es sein, Flavia fühlt und empfindet es!

Und obwohl sie es selber ist, vor welcher er in Nacht und Dunkel hinausflieht wie vor einem bösen Geist, so ist es ihr dennoch, als müsse sich ein Jubelschrei von ihren Lippen ringen, als müsse sie die Arme nach dem wilden, trotzigen Mann ausbreiten und voll Begeisterung rufen: »O, wie liebe ich dich um deines Hasses willen! Wie schön macht dich diese unselige Tat in meinen Augen! Wie edel und stolz deucht mir der Nacken, welcher sich nicht dem Golde beugt, wie golden das Herz, welches treu zu seiner Liebe hält, ›und kam alles Wetter gleich auf es zu schla'n!‹«

O, selig, überselig jenes Weib, für welches ein Mann derartige Opfer bringt!

Neidlos gönnt ihr Flavia das Glück, wenn sie es auch in diesem Augenblick deutlich empfindet, daß ihres Schicksals Würfel gefallen sind.

Ein leiser, unsicherer Schritt hinter ihr in dem Zimmer.

Das junge Mädchen wendet das Haupt, sie steht halb versteckt hinter dem schweren Fenstervorhang und wird nicht von dem Präsidenten gesehen, welcher hastig an seinen Schreibtisch tritt und mit unsicheren Händen einen Brief öffnet.

Ein Abschiedswort von Götz! zuckt es durch Flavias Sinn.

Der alte Herr stützt sich schwer auf die Tischplatte, neigt sich vor und starrt auf das Papier. Das knistert und schwankt seltsam in setner Hand.

Einen Augenblick Totenstille, dann ein leiser, ächzender Laut von den farblosen Lippen Seiner Exzellenz, die hagere Gestalt des alten Herrn sinkt auf den Sessel nieder und sein Antlitz preßt sich auf die bebenden Hände.

Wie eine momentane Schwäche überkommt es ihn, er tastet um sich.

Schon steht Flavia an seiner Seite und stützt ihn, – wie man ein krankes Kind beschwichtigt, lehnt sie das greise Haupt an ihre Brust, und Exzellenz Abensberg schaut nicht auf zu der Charitas, welche sich über ihn neigt, sondern schließt leise stöhnend die Augen und murmelt: »Er ging, Malwine – er sagt sich für ewige Zeiten los von uns – es war alles umsonst – verloren – mein Sohn, mein Sohn!« ...

Eine weiche, warme Hand streicht über die Stirn des tief erschütterten Mannes, so zart und liebevoll, wie Malwines energische kühle Rechte nie das Haupt des Gatten berührt.

»Ja, er ging, Exzellenz, – aber nicht, um unterzugehen in den hohen Lebenswogen, sondern um dereinst als geläuterter, glücklicher Mann wiederzukehren, welcher alles, was er ist und erreichte, der eigenen Kraft und seiner Liebe verdankt!«

Überrascht starrt sie der alte Herr aus den tränenverschleierten Augen an.

»Fräulein Flavia – Sie – Sie?!«

»Ich bin es, Exzellenz! – Regen Sie sich nicht auf. Diese Stunde scheint nur bitter-schwer, – sie ist es aber nicht!«

Welch wundersame Zuversicht in der weichen Glockenstimme! Wie ein Rauschen von Engelsschwingen geht es von der weißen Mädchengestalt aus.

Der trübe Blick des Präsidenten belebt sich, aber sein Haupt lehnt noch wie gebrochen an der Schulter der lieblichen Trösterin.

»Woher wissen Sie – wer sagte Ihnen von unserem Unglück, Fräulein Flavia?« fragt er leise.

»Tante Heinau weihte mich ein,« ,sagte das junge Mädchen schlicht, »und ich hätte für mein Leben gern alles getan und geopfert, um diese schwere Stunde von Ihnen abzuwenden, Exzellenz!«

Da richtete sich der alte Herr beinahe entsetzt empor.

»Die Gräfin sprach zu Ihnen von unserem leichtsinnigen Sohn, von unseren Plänen, welche wir geschmiedet, ihn auf andere, bessere Wege zu lenken – von allem sprach sie Ihnen, Fräulein Flavia? – O, welch unerhörte, grausame Indiskretion!«

Sie sank an seiner Seite nieder, nahm seine eiskalten, bebenden Hände liebevoll in die ihren und blickte wie verklärt zu ihm auf.

»Keine Indiskretion, Exzellenz, sondern eine Aufrichtigkeit, welche ich der Gräfin zeitlebens aufs innigste danken werde! Denn sie lehrte mich einen Mann kennen, welcher selbst von Vater und Mutter so hart verurteilt wird, und welcher dennoch unsere vollste Sympathie verdient!«

»Sprechen Sie von Götz, Flavia?« fragte der Präsident erstaunt.

»Von ihm, Exzellenz!«

»Sie wissen auch, daß Götz um Sie...«

»Werben sollte! – Ja, Exzellenz, auch das weiß ich!« – vollendete sie mit einem wahrhaft verklärten Lächeln, neigte sich und drückte die Lippen, zart wie ein Blütenkelch, auf seine zuckenden Finger. «Und ich danke es Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin, daß Ihre Wahl auf mich gefallen war, – sehe ich doch daraus, wie gut Sie mir gesonnen sind!«

»Aber Götz hat sich sehr wenig liebenswürdig benommen – er – er hat Sie aufs schmählichste gekränkt und beleidigt!« rang es sich wie ein qualvoller Aufschrei von den Lippen des Grafen.

Sie schüttelte das Köpfchen.

»Nicht im mindesten, Exzellenz! Er hat sich benommen wie ein Mann, dem die Liebe ebenso heilig ist, wie die Ehre!«

»Ich verstehe Sie nicht –«

»Sie verlangten von Ihrem Herrn Sohn, daß er um mich freien sollte, Exzellenz« – fuhr Flavia in herzlichem Flüstern fort, »und vergaßen es, daß sein Herz bereits einer anderen gehört, daß er sein Wort verpfändet, daß er Treue gelobt und Treue halten wollte! Wissen Sie, Herr Graf, wie es tut, wenn man das Herz aus der Brust reißen, wenn man alles, was das Leben reich, sonnig, wertvoll macht, in den Staub treten soll, um einer Fremden, Ungeliebten willen? Wäre Graf Götz in Wahrheit so leichtsinnig, wie man glaubt, so hätte er seinen Treueschwur gewissenlos gebrochen, hätte sich leichtfertig über Gefühle hinweggesetzt, welche des Menschen heiligste sein sollen, hätte eine Scheinehe geschlossen, um den Eltern zu Willen zu sein und sich Reichtum und Namen zu erhalten! – O, glauben Sie mir, Exzellenz, tausend andere junge Männer hätten den Roman mit der ›armen Tochter aus dem Volke‹ lachend abgebrochen, um sich feig und gewissenlos das Wohlleben zu sichern, ohne welches nach modernen Begriffen kein Glück möglich ist! – Graf Götz aber ist viel zu ehrenhaft, viel zu brav und rechtlich, um über ein gebrochenes Herz den Weg zur Höhe zu nehmen! Ihr Herr Sohn hatte den seltenen Mut, alles hinzugeben und zu opfem – um seiner Ideale willen!«

Flavia hatte immer erregter, immer inniger und dringlicher gesprochen, und der Präsident legte momentan die Hand über die Augen und stöhnte leise auf. »Wie wunderbar Sie das alles auffassen und zu drehen wissen! Es fehlt nicht viel, so machen Sie mir aus dem verlorenen Sohn einen Tugendhelden und Märtyrer! – Sie liebes, herziges Kind! Gott lohne Ihnen diese guten Worte, die ersten, welche ich über den Jungen höre! – Wenn ich sie Ihnen auch nicht ganz nachfühlen kann, so haben sie mir doch in dieser Stunde gar innig wohlgetan!«

»Und warum können Sie dieselben nicht nachfühlen, Exzellenz?« – klang es beinahe flehend zu ihm auf.

»Macht man auch aus Liebe Schulden?«

Sie senkte das Köpfchen. »Ich glaube, ja, Exzellenz, – wenn die Erwählte sehr arm ist. . .«

»O, Sie liebe Unschuld! – Und begegnet man seinen Eltern voll frechen Trotzes, wenn man so viel hohen Idealen nachstrebt?«

»Graf Götz ist nervös, gereizt. – Der Kampf um die Liebe hat ihn verbittert...«

»Der Kampf um das Dasein dürfte ihn noch mehr aufregen.«

Sie hob die gefalteten Hände in jäher Angst.

»Dieser Kampf wird ihm dienlich und gut sein, er wird einen ganzen, einen tüchtigen Mann aus ihm machen, – wenn – ach, wenn ihm auf seinem nun so schweren Lebensweg der Zorn der Eltern keine Felsen türmt! Herr Graf! Da ist niemand, welcher für den Fernen bittet, lassen Sie mich es tun! – Ihre Vergebung kann ich ja jetzt noch nicht für ihn erflehen, denn die muß er sich selber verdienen und einst selber einholen! Aber haben Sie Geduld mit ihm! – Machen Sie es als irdischer Vater mit ihm, wie es der liebe Herrgott mit dem Bäumlein tut, welches nicht sogleich gute Frucht tragen will, – gönnen Sie ihm noch Frist! Gar mancher verlorene Sohn kehrt zurück und ward in Liebe und Versöhnung wiedergefunden zu seines und des Vaters schönstem Glück! – Tun Sie jetzt im ersten Schmerz und Zorn keine Schritte, um den jungen Flüchtling zu strafen! Enterben Sie Graf Götz noch nicht, – setzen Sie noch keinen anderen endgültig in seine Rechte ein. Breiten Sie die Hände nicht mehr über ihn, aber ziehen Sie dieselben auch nicht völlig von ihm zurück! Strafen Sie ihn durch Schweigen und Verleugnen, – im Herzen aber heben Sie ihm den alten Platz noch auf, damit er wenigstens dessen Tür nicht verschlossen findet, wenn er einst heimkehrt als ein Sohn, dessen man sich nicht zu schämen braucht!«

Flavia hatte immer schneller, immer erregter gesprochen, ihr Antlitz spiegelte ihre Erregung und war doch so mild und friedlich dabei, wie das eines Schutzengels, welcher die silberrauschenden Schwingen schirmend um ein verirrtes Menschenkind breitet.

Exzellenz Abensberg hatte die bleiche Hand auf das Köpfchen der Sprecherin gelegt und blickte ihr wie träumend in die leuchtenden Augen. Solch warme, innige Herzensklänge hatte er nie zuvor vernommen.

Seiner ersten, heißgeliebten Gattin waren sie fremd gewesen, denn diese war wohl voll übermütiger, schier ausgelassener Zärtlichkeit gewesen, aber dabei doch ein schelmisches Trotzköpfchen geblieben, welchem die weichen, innigen Laute der Seele gefehlt hatten.

Malwine kannte kein Bitten, kein süßes Flehen, sie war ein steinernes Bild, welches wohl über einen energischen, klugen Kopf, nicht aber über ein Herz verfügte, und Anna-Kathrin glich vorerst noch einem gehorsamen, freundlichen Kind, welches in Gegenwart des Vaters meist schwieg, oder in formeller Wohlerzogenheit für seine Güte dankte, ohne dieselbe jemals durch direkte Bitten und Wünsche in Anspruch zu nehmen. Wie anders Flavia!

Welch ein Himmelreich demütiger Nächstenliebe und Barmherzigkeit leuchtete aus den wundervollen Augen, welch eine Welt voll süßen Empfindens klang durch ihre Stimme!

Die drang tief ins Herz des erbitterten alten Herrn und füllte es mit staunender Rührung. »Sie braves, gutes Kind!« sagte er tief aufatmend, »Sie hat der liebe Herrgott selber in dieser Stunde an meine Seite gestellt! Welch ein Glauben an den guten Kern eines Menschen! Welch eine Zuversicht! Und all diese fromme Fürbitte tun Sie, Flavia, – Sie, die allen Grund hätten, meinem Sohn aufs bitterste zu zürnen?« – Und der Präsident bedeckte abermals laut aufseufzend das farblose Antlitz mit der Hand. »Ach, daß Götz in diesem Augenblick hätte neben mir stehen, daß er Sie hätte hören können, Flavia! – Wahrlich, er hätte seinen guten Engel erkannt und wäre nie von ihm gewichen!«

»Exzellenz ... man scheint in den Salons aufzubrechen...«

»Scheiden Sie nicht von mir, Fräulein Flavia; gedenken Sie meines Kummers und kehren Sie bald zu mir zurück mit Ihrem Trost und Zuspruch!«

Sie drückte herzlich seine Hand.

»Und meine Bitte?« flehte sie leise.

Er nickte ihr mechanisch zu. »Deren werde ich eingedenk sein, so oft Zorn und Bitterkeit mich übermannen wollen, ach, und ich fürchte, die nächste Zeit wird mir viel schwere Stunden bringen!«

»Die Zukunft bringt desto sonnigere!«

»Wer weiß es! Die Bahn, welche Götz betreten, führt steil bergab! – Gott weiß, was aus ihm werden wird!«

»In den nächsten Jahren ein Mensch, welchen die Wogen des Schicksals wild umherschleudern – dann aber ein geprüfter, geläuterter Mann, welcher zur rechten Zeit das rettende Land gewinnt –«

»Oder stirbt und verdirbt.«

»Nimmermehr! Das Leben wird seine Schule, nicht sein Untergang sein! Denken Sie an den verlorenen Sohn aus der Schrift!«

Der Graf schüttelte wehmütig das Haupt.

»Götz stirbt lieber, als daß er sich durch seine Heimkehr demütigt! O, Sie kennen seinen Trotz und falschen Stolz nicht! Ja, wenn Sie im rechten Moment an seiner Seite stünden, Flavia, wenn Ihre Stimme an sein Herz klopfen könnte, wie an das meine – dann, ja, dann fände er wohl noch einmal den Weg zurück!«

Das junge Mädchen schaute beinahe betroffen auf, ein wundersamer Ausdruck lag plötzlich auf ihrem seelenvollen Gesicht.

»Wenn das sein könnte!« stammelte sie.

»Eine weiße Taube kann nicht in den Sturm hinausfliegen, um den flügellahmen jungen Adler zu suchen!«

Heiße Glut flammte über Flavias Antlitz.

Sie richtete sich plötzlich wieder hoch auf – sie schien abermals zu wachsen wie zuvor an der Seite des jungen Offiziers.

Sie war kein scheues, befangenes Kind mehr, sie war ein energisches, mutiges Weib geworden. Einen Augenblick kämpfte sie mit sich, ob sie einen Gedanken, welcher sie jäh durchzuckte, aussprechen solle oder nicht, dann lächelte sie dem alten Mann noch einmal ermutigend zu und trat ein paar Damen und Herren entgegen, welche sich lachend und scherzend dem Zimmer näherten.

Sie schien den Präsidenten in diesem Augenblick von unliebsamer Gesellschaft befreien zu wollen, Seine Exzellenz aber bemerkte ihre Absicht, er erhob sich mit energischem Ruck und begab sich zu seinen Gästen, ganz Kavalier und Wirt, nur das nervöse Zucken seines Gesichts verschärfte sich, und sein Aussehen war noch wachsfarbener als sonst.

Als er Flavia die Hand zum Abschied reichte, sagte er mit müder, bittender Stimme: »Auf Wiedersehen!« und das junge Mädchen blickte ihm fest in die Augen, wie bei einem Gelöbnis, und antwortete: »Ezzellenz sollen mit mir zufrieden sein!«

Die Lichter in dem Haus des Präsidenten waren erloschen.

Aller Augen hatten sich zum Schlaf geschlossen, selbst Seine Exzellenz war müde und erschöpft in die Kissen zurückgesunken, nachdem er zuvor noch eine lange Aussprache mit seiner Gemahlin gehabt.

Nachdem die sanfte, liebe Stimme Flavias mit ihren Worten voll innigen Trostes und fester Zuversicht wie Balsam in sein so schmerzlich verwundetes Herz gefallen, wirkte die so unbeschreiblich ruhige und gelassene Art Malwinens ebenfalls beschwichtigend auf ihn ein.

Außerdem war der Präsident ein hochgradig nervöser Mann, welcher so völlig in seinem Berufe aufging, daß ihn auch jetzt, wie stets im Leben, seine häuslichen Angelegenheiten sehr viel weniger nahe gingen, als diejenigen seines Dienstes. Das war eine wunderliche Eigenheit, welche stets sehr markant bei ihm hervorgetreten war.

Man hatte ihn immer einen Streber und übereifrigen Beamten genannt, und als er sich verhältnismäßig spät verheiratete – der Tod seiner beiden älteren Brüder machte ihn in unvorhergesehener Weise zum Majoratsherrn und bedingte seine Ehe –, hatte er der reizenden kleinen Gräfin bald darauf das Programm überreicht, nach welchem er ihr gemeinsames Leben zu regeln wünschte.

»Ich habe keine Zeit und kein Interesse für unsern Hausstand,« erklärte er; »ich eigne mich weder zum Familienvater noch zum Wirt, denn mein Beruf erfüllt mich vollständig und nimmt mich durchaus in Anspruch. – Alles, was unser Haus und seine internen Angelegenheiten anbelangt, ist deine Sache, liebe Frau. Ich setze das Vertrauen in dich, daß du unsere Kinder erziehen und den Hausstand leiten wirst. Richte alles selbständig nach deinem Willen ein und belästige mich nie mit Dingen, welche mir unverständlich und unsympathisch sind. Ich werde mich nie in deine Sachen mischen, verlange aber, daß du auch den Meinen fern stehst.« Und so geschah es.

Die lebenslustige kleine Gräfin berief eine alte, erfahrene Wirtschafterin, welche in Küche und Keller aufs vortrefflichste herrschte, und als die Kinder geboren wurden, traten Gouvernanten und ein Erzieher in ihre Rechte und walteten ihres Amtes.

Die junge Mama war so viel beschäftigt, die große Geselligkeit, Theater, Konzerte, Reisen nahmen sie völlig in Anspruch, und wenn man ihr mit einer Klage über den etwas ungebärdigen und trotzigen Götz kam, so ward sie entweder selber übellaunig und sehr heftig, oder sie hatte einen guten Tag, und dann lachte sie und fand den Jungen sehr spaßhaft, seine Erziehungsthyrannen aber pedantisch und engherzig.

Wendeten sich die Ratlosen um energische Beihilfe an den Grafen, so erfuhren sie auch hier eine ungehaltene Zurückweisung, denn Seine Exzellenz hatte mehr zu tun, als sich in die Miseren der Kinderstube zu mischen. Seit Malwine mit energischen Händen das Szepter in Haus und Hof führte, überkam den Grafen eine große Beruhigung.

Es war ihm ein sehr angenehmes Gefühl, die Verantwortlichkeit auf eine andere Person übertragen zu können, und er ward auch in der Tat nie mehr mit häuslichen Zwistfragen behelligt, seit seine zweite Gemahlin ihre Pflichten übernommen und aufs gewissenhafteste ausfüllte.

Das Unglück mit Götz hatte ihn, trotz allem, was so vorbereitend voranging, dennoch wie ein überraschender Schlag getroffen, und die heimliche Flucht des Sohnes aus dem Elternhaus wirkte im ersten Augenblick geradezu vernichtend.

Und gerade jetzt hatte der Präsident den Kopf so voll anderer, wichtiger Sachen, daß die zuversichtlichen Worte Flavias ihm wie eine Erlösung aus Wirbel und Wogen deuchten, und die überaus gleichmütige Art, wie Malwine die verblüffende Nachricht aufnahm, seiner Aufregung ein wohltuendes Schlummerlied sang.

Ja, Malwine hatte unendlich ruhig und vernünftig gesprochen, wie von einem schweren Wetter, welches kommen mußte, um die schwüle Luft zu klären.

Nach der Beanlagung des jungen Grafen war es kaum denkbar gewesen, daß er je durch vernünftiges Zureden und die Sorge seiner Eltern zur Besinnung kam. Er gehörte eben zu den Brauseköpfen und Renitenten, welche erst mit dem Schädel anrennen müssen, ehe sie an eine Wand glauben.

Götz muß die schwere Schule des Lebens durchmachen, er muß sich selber zur Erkenntnis durchringen, er muß aus Erfahrung klug werden.

Wer nicht hören will, muß fühlen.

»Wir haben das Beste gewollt und bezweckt,« sagte sie zum Schluß; »wenn Götz unsere Hand, die ihm den rechten Weg weist, zurückstößt, so muß er sehen, wie er allein und ohne Hilfe im Leben fertig wird. Unsere Pflicht ist es jetzt, konsequent zu bleiben. Nur wenn er sieht, daß es dir mit deinen Worten Ernst war, wenn er das Hunngern, Garben und Arbeiten unter der Knute Fremder satt bekommt, geht er wohl noch in sich. – Sorge dich um nichts, Bolko; ich werde alles, was die nächste Zeit bringt, abwickeln und dir nach Kräften fernhalten.«

Ja, Malwine hatte recht! Sie, die Eltern, hatten sich keine Vorwürfe zu machen, und der leichtsinnige Bursche mochte ernten, was er gesät hatte; wenn Götz sein Wappenschild von sich wirft, wird es der brave, solide Quirin desto höher in Ehren halten.

Und Seine Exzellenz schloß bei diesem Gedanken seufzend die Augen und schlief ermattet ein. Malwine fand nicht gleich die Ruhe.

Ihr blasses, regungsloses Antlitz lag mit weit offenen Augen in den Kissen und der Zug herber Erbitterung spielte schroffer als je um die Lippen.

Nicht, daß ihr Herz von Sorge oder Vorwürfen gequält ward!

Was hatte sie sich vorzuwerfen? Nichts!

Hatte sie auch nur im mindesten ihre Pflichten verabsäumt? Nein!

Hatte sie nicht alles getan, was zu einer guten Erziehung der Kinder nötig war?

Hatte sie nicht an Quirin und Anna-Kathrin die besten Resultate erzielt?

Wenn Götz ein mißratener Sohn war, so lag die Schuld wahrlich nicht an ihr!

Alles hatte sie den Kindern gegeben – alles, was zum Wohl und zur Pflege des Körpers und der Seele nötig war.

Malwine konnte ruhig, ohne Gewissensbisse, schlafen; – aber sie fand keinen Schlaf.

Hatte sie den Kindern wahrlich alles gegeben, was sie von einer Mutter fordern können?

Sie grübelte, sann – sie fand nichts. Und doch sprach eine leise, anklagende Stimme in ihrem Innern: »Nein, du gabst ihnen nicht alles! Gerade an dem Besten, Wichtigsten hast du deine reichen Kinder so bettelarm gelassen!« ,

Was war das Beste, Wichtigste?

Malwine preßt die Lippen aufeinander. Sie weiß es nicht.

Aber das ist ja der Fluch ihres Lebens, daß sie für alle Güte, für alle Aufopferung nur Undank erntet!

Die harten Worte des Stiefsohns, welche er ihr bei der letzten Unterredung sowohl, wie in dem Abschiedsbrief gesagt, sind wie ätzendes Gift in ihre Seele gefallen und machen sie noch verbitterter, noch verschlossener als zuvor.

Nicht sie trägt Schuld an dem Unglück, welches der heutige Tag gebracht, wahrlich nicht – denn sie tat ihre Pflicht.


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