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Freiherr von Altenburg saß in seinem Zimmer, stützte das Haupt in beide Hände und starrte auf einen Brief hernieder, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Tische lag. Wie ein Träumender überlas er den Inhalt, wieder und wieder. Es geschehen viel absonderliche Dinge in der Welt, begegnen sie einem jedoch direkt, so schüttelt man den Kopf und reibt sich die Stirn, um zu erforschen, ob man wohl träume. Just so erging es dem jungen Offizier. Die Handschrift seiner Mutter war Tatsache, aber die Neuigkeit, die sie ihm mitteilte, ein Mirakel.
Da war plötzlich auf ihrem kleinen, armseligen Landgut ein Unterhändler erschienen und hatte einen außerordentlichen Kaufpreis geboten. Der älteste Sohn, den Frau von Altenburg in Kenntnis gesetzt hatte, fand dieses Anerbieten verdächtig und ließ die Ländereien auf Kohlen- oder Metallager untersuchen. Nichts fand sich vor, der verkappte Kaufliebhaber jedoch ließ sein Angebot beinah verdoppeln, und die Gutsherrin, die Universalerbin ihres Mannes war, schloß ohne Besinnen den Kauf ab.
Für den trockenen Sandboden und die neuangepflanzten kleinen Waldungen hatte sie eine fast unglaubliche Summe erhalten, und sie benachrichtigte soeben ihren Sohn Eitel, daß sie diese unter ihre Kinder verteilen wolle, um ihnen die Möglichkeit an die Hand zu geben, sich einen eigenen Hausstand zu gründen.
Glühende Blutwellen stiegen in Wangen nnd Stirn Altenburgs; er preßte die Häude gegen die Brust und hatte zum erstenmal im Leben das Empfinden, als müsse er himmelhoch jauchzen vor Glückseligkeit und Wonne!
Was ihm vor wenig Tagen beinahe noch als eine Unmöglichkeit erschienen, was er ersehnt und erhofft hatte als ein fernes, traumhaftes Glück, das war plötzlich wie durch ein Wunder verwirklicht worden, das hob sich leuchtend wie eine Sonne aus dunkler Nacht und tauchte ihm Herz und Seele in blendende Helle. Ein kleiner, wolkenhafter Schatten nur zog schnell und wehmütig durch diesen Glanz, das war der Gedanke, seine liebe, traute Heimat, die Scholle, an der er mit Leib und Seele gehangen, für immer dahingehen zu müssen. Dennoch schied er von diesem Vaterhaus in dem beglückendsten aller Gefühle, sich selber nun ein Daheim zu schaffen, das Weib seiner Liebe zu eigen zu gewinnen, sie heimzuführen, zu einem Glück ohne Not.
Die Hand des jungen Mannes bebte, als er hastig ein paar Zeilen an seinen lieben, getreuen Freund Sobolefskoi niederschrieb, Mit kurzen Worten benachrichtigte er ihn von dem Geschehenen und bat ihn, General von Groppen und Lena auf seinen Besuch vorzubereiten, in wenigen Stunden würde er kommen als glückseligster Mensch in deutschen Landen, und diesmal würde er einen Strauß von Myrten und Orangen tragen, auf den, so Gott will, kein Rauhreif fällt!
Unverhängt waren die Fenster. Silbern und klar füllte das Mondlicht die Zimmer des Fürsten Sobolefskoi und tauchte die kniende Gestalt des verwachsenen Mannes in glorienhaften Schein. Vor dem hochlehnigen Sessel im Erker war er zusammengebrochen. Seine gefalteten Hände lagen auf der goldenen Kapsel, die das Stücklein Leinwand barg, darauf die Augen seiner Mutter lächelten. – Regungslos lag er da, nur seine bleichen Lippen regten sich im Gebet. Da klangen Schritte auf der Steintreppe draußen, da zitterte Glockenton durch das Vestibül. Der Körper des Russen zuckte und bebte, seine Hände krampften sich in jäher Verzweiflung zusammen. Langsam hob er das Haupt und lauschte. Ja, er war es; er stieg die Stufen nach der ersten Etage empor – jetzt trat er in den Salon – jetzt wohl in Lenas Zimmer.
Kalter Schweiß bedeckte die Stirn des Kranken; er sprang auf und hob die gerungenen Hände zum Himmel: »Nimm deine Hand nicht von mir, Mutter, sei bei mir und laß mich stark sein, nur kurze Zeit noch, auf daß ich Sieger bleibe in dem Kampf!«
Auf die Blütenzweige vor dem Fenster fiel der nächtliche Tau wie Tränen des Mitleids hernieder, und während der Freiherr von Altenburg auf die bebenden Lippen seiner Braut den ersten Kuß drückte, neigte sich Alexandrowitsch in jähem Schrecken über die leblose Gestalt des Fürsten und trug den Bewußtlosen auf sein Lager zurück.
Kein Glück und kein Stern. In der Nacht, da Daniel Sobolefskoi geboren wurde, heulte der Sturm um die Fenster von Miskow, faßte das Banner auf dem Turm und riß es hernieder, das Meer ging hoch und trieb ein Schiff auf die Klippen, da gellten die Notsignale der Unglücklichen durch das Unwetter. – So wurde er geboren, und so wurde sein Schicksal. Der Sturm folgte ihm mit düsteren Schwingen, rüttelte und schüttelte seinen Lebensbaum, daß er weder Blüte noch Frucht trug, und brach ihm das Herz in tausendfacher Qual, wie einst die roten Herzen im Wappenschild des Schloßbanners zerrissen waren. Was ihn aber begleitete von Land zu Land und von Tag zu Tag, das waren die Hilferufe des Elends, die Seufzer und Klagen des Unglücks, und wie einst in seiner Geburtsstunde ein Fürst Sobolefskoi Hilfe und Rettung auf das Meer geschickt, so wurde auch Daniel ein Freund und Helfer aller Not, ein Arzt, der zum Segen Tausender rettend an die Krankenlager trat und doch selber den Tod im Herzen trug.
Der Juni streute seine roten Liebesrosen auf das Haupt der jungfräulichen Erde, und die Glocken klangen heller und jubelnder denn jemals vom Turm, dem Hochzeitszug der Königin Minne ihr Willkommen zuzurufen. Da kränzte man auch Lenas Stirn mit bräutlichem Grün, und Daniel, auf dessen flehenden Wunsch die Hochzeit beschleunigt war, legte seine zitternde Hand auf ihr Haupt und regte die Lippen, ohne daß man seine Worte verstand.
Wie das Flackern des Irrsinns ging es durch sein Auge, da er in ihr liebliches, schleierumwalltes Antlitz sah, und das Fieber trieb neue Glut auf seine Wangen und gab seinen Zügen einen fremden, fast grausigen Ausdruck.
Es wird still um ihn her; die Wagenräder, die drunten rollten, schienen sich zermalmend über seine Brust zu wälzen. – Alexandrowitsch hatte seinen Herrn noch nie so krank gesehen wie heute. Schon seit seinem letzten Ohnmachtsanfall mußte er das Bett hüten, er war zu schwach gewesen, um sich erheben zu können, aber er hatte mit beinahe trotzigem Eigensinn auf die Hochzeit des Fräulein von Groppen bestanden, und nun war es doch zu viel der Aufregung gewesen. Schon während der letzten Nacht hatte der Fürst in wirren Phantasien seine Mutter angerufen, und auch jetzt riß ihn das Fieber aus den Kissen empor. – Ein Lachen schallte durch das Zimmer, ein Lachen in leidenschaftlichem Schluchzen erstickt, und dann schrie er beinahe drohend auf: »Halte dein Wort, Mutter! In dieser Stunde ist es an der Zeit, daß du solchen Leides Übermaß von mir nimmst! Komm und erfülle, was du zugesagt, sonst wird mein Glaube an dich zerbrechen wie mein Glaube an Gott und alle Heiligen, die die Schuldlosen verdammen und leiden lassen, die grausam und ungerecht sind, und die mein Gebet hatten erhören müssen – wenn sie existierten!« – Er schüttelte die geballten Hände, und Alexandrowitsch schauderte bei dem Ausbruch solcher Verzweiflung.
Da klopfte es leise an die Tür des Nebenzimmers. Ein Diener brachte das Postpaket, das aus Rußland kam und vom Zollamt abgeholt worden war. Vielleicht zerstreute es die wilden Phantasien des Kranken, Alexandrowitsch erstattete Meldung, und Daniel richtete die starren Augen wie geistesabwesend auf die kleine Kiste und murmelte: »öffne!«
Das Holz splitterte auseinander, und ein kleines metallausgelegtes Schiebfach, in dem ein Päckchen versiegelter Papiere lag, wurde sichtbar. Ein offener Brief obenauf. Alexandrowitsch las, seinen russischen Inhalt auf einen apathischen Wink des Fürsten vor. Der Haushofmeister von Miskow teilte seinem Herrn und Gebieter mit, daß ein Blitzstrahl den alten Schloßbau getroffen und gezündet habe. Glücklicherweise sei man des Feuers bald Herr geworden, nur zwei Zimmer, die des verstorbenen
Kammerherrn, seien fast völlig ausgebrannt. Der antike Sekretär des hochseligen Fürsten sei ebenfalls ein Raub der Flammen geworden, nur das feuerfeste Gefach, das nebst seinem Inhalt anbei übersandt werde, habe man unversehrt den Trümmern entnehmen können.
Mechanisch streckte Daniel die Hand aus und faßte die Papiere, die in der Glut braun und mürbe geworden waren.
Seine Gedanken waren weit entfernt, da, wo der Priester zwei Hände zum Bund für alle Zeit ineinander legte; als aber Alexandrowitsch das Schweigen abermals bricht und den Fürst darauf aufmerksam macht, daß es wohl wichtige Dokumente seien, die der verstorbene Kammerherr so sicher verwahrt habe, warf er einen schnellen, fieberheißen Blick auf die Schriften. Briefe waren es; aus dem einen fiel ein Zettel. »Totenschein – Eglantina – die Hofluft der Bretter...«
Der Kranke sah hastig nach der Unterschrift. »Wera Czakaroff.« – Wera Czakaroff? Der Name war ihm so bekannt, wo hatte er ihn bereits gehört? Daniel rieb sich die brennende Stirn, plötzlich zuckte er zusammen, ein gurgelnder Laut der Überraschung rang sich über seine Lippen. Lenas Mutter! Wie kam ein Handschreiben von ihr in den Besitz des Fürsten Sobolefskoi? Er richtete sich jählings in den Kissen empor, und der treue Pfleger schlug die Fenstervorhänge zurück.
»Lieber Gregor,« liest Daniel – vor seinen Augen flimmerte es vor Aufregung, das Blatt schwankte in seinen Händen, und ein unartikuliertes Murmeln ging in ein Stöhnen und Röcheln über. – Seine Mutter schickte ihren gefälschten Totenschein – seine Mutter verließ Mann und Kind – seine Mutter war die Sängerin Wera Czakaroff!
Ein markerschütternder Schrei gellte durch das stille Zimmer, und als Alexandrowitsch voll Entsetzen zusprang, fiel der Körper des Kranken schwer und steif in seine Arme zurück.
Ein Schlaganfall! Das Hochzeitshaus hallte plötzlich wider von den Angstrufen und dem Getreibe höchster Verwirrung. Noch lebte der Fürst, als ein Arzt an sein Lager trat, aber es schien eine Lähmung eingetreten zu sein, die jeden Moment eine neue, tödliche Wiederholung des Anfalls befürchten ließ. Noch waren die Wagen nicht von der Kirche zurückgekehrt, als sich die ersten Anzeichen neu erwachenden Bewußtseins bemerkbar machten. Fürst Sobolefskoi öffnete die Augen und starrte regungslos ins Leere. Tränen rollten über seine eingesunkenen Wangen, und ein Zug unaussprechlichen Schmerzes lag um seine Lippen. Da leerte er den Becher seiner Leiden bis auf die letzte, bitterste Hefe. »Kann wohl ein Weib ihres Kindleins vergessen?« – Herniedergebrochen aus seiner strahlenden Höhe ist das Gnadenbild, das seines Lebens Kleinod gewesen, ja, seine Mutter hatte ihres Kindleins vergessen, hatte es verlassen in seinem Elend, hatte von ihm scheiden können ohne eine Träne des Herzeleids. Verlassen war er gewesen, verlassen sein Leben lang. – In Lug und Trug zerrann sein frommer Kinderglaube; nicht die engelgleiche Lichtgestalt seiner Mutter trat an das Totenbett des Schmerzensreich, all sein Leid von ihm zu nehmen, ihn emporzutragen auf den heiligen Schwingen der Liebe, dahin, wo die Märtyrer das Antlitz Gottes schauen – statt ihrer kam die Verzweiflung mit verzerrten Lippen und schrie dem Sterbenden ins Ohr: »Deine Mutter ging von dir und kannte dich nicht! Einen Stein konnte deine Verlassenheit erbarmen, deine Mutter erbarmte sich nicht!« – Ja, verlassen war er, verwaist bis in den Tod hinein.
Horch, Wagen rollten drunten, Lena, das holde bräutliche Weib kehrte zurück, Lena, Lena, seine Schwester! – Ein wundersames Beben und Zittern ging durch die Glieder des Sterbenden, ein tiefes Aufseufzen hob plötzlich seine Brust, und ein süßer, nie gekannter Friede kam über ihn. Lena, seine Schwester! Wohin entfloh plötzlich die wilde, verzweifelte Eifersucht, die begehrliche Liebe seines Herzens? Still war es plötzlich in ihm geworden, ein Jauchzen und Jubeln ging durch seine Seele: »Lena, meine Schwester!« Und die Starrheit seines Armes löste sich; er konnte die Hände ineinanderlegen und beten. Tränen stürzten aus seinen Augen, wie verklärt lächelte das Antlitz des mißgestalteten Mannes. »Mutter!« rief er laut, »vergib mir, was ich soeben in Gedanken an dir gesündigt!« Und dann zog es durch seine Seele wie ein seliges Verstehen und Begreifen. Nein, sie hatte ihn nicht verlassen, sie war nur von ihm gegangen, einen Engel zu senden, der länger und beglückender als sie das einsame Leben des Sohnes schmückte! Und sie erhörte sein Gebet und nahm seiner Leiden schwerstes von ihm, das seiner schmerzensreichen Liebe. Nun war der Friede und das Glück gekommen, nun schaute er die lebenden Augen seiner Mutter, und Lena stand vor ihm, nicht mehr das Weib seiner Sehnsucht, sondern die Schwester, deren Hand er sonder Leid und Qual in die seines jungen Freundes legen konnte. Er faßte den Brief und reichte ihn Alexandrowitsch. »Verbrenne ihn!« flüsterte er, »hier vor meinen Augen.« Die Flamme schlug auf, und Daniel starrte mit weit offenen Augen in ihr Licht. Und wie sie flackerte und glühte, so zuckte auch noch einmal die Lebensflamme des Sterbenden empor. Das Fieber schürte sie und malte ihm mit phantastischem Finger wirre Bilder ins Hirn.
Er war wieder in Miskow. Der Sturm tobte um das Schloß; Eiskörner prasselten gegen die Scheiben und im Rauchfang schrillte und fauchte es wie Geisterspuk. Unter seinen Füßen schwankte es – er brach zusammen, Schmerz schauerte durch Rücken und Leib – und wie er die Augen öffnete, schlugen Flammen empor und verschlangen das Bild seiner Mutter!
Daniel schreit gellend auf, und Alexandrowitsch wirft erschrocken die brennenden Papiere in den Kamin, in der Tür aber steht Lena und eilt in bebender Angst an das Lager des Fürsten, seine von Grauen geschüttelten Glieder mit den Armen zu umschließen.
Da starrt er sie an wie eine Vision, seine gekrampften Hände losen sich und umschlingen ihren backen. »Mütterchen, Mütterchen, du kommst doch noch zu mir!«
Sein Haupt sinkt langsam zurück, sein Auge, schon halb gebrochen, strahlt auf von unendlicher Glückseligkeit, voll scheuen Entzückens; wie gebannt hängt sein Blick an der schlanken Frauengestalt, die gleich einer Engelserscheinung vor ihm steht. Ja, es ist seine Mutter; das weiße Gewand umglänzt sie, die blonden Locken küssen ihre Stirn, und mit dunklen Augen neigt sie sich liebevoll über ihn, wie vor langer Zeit, da sie dem hilflos daliegenden Kinde zuflüsterte: »Sei getrost, mein kleiner Schmerzensreich, ich habe ein hartes Schicksal über dich gebracht, aber ich komme dereinst und nehme alles Weh und Herzeleid wieder von dir!«
»Mütterchen, bist du bei mir?« fragt er noch einmal mit umflortem Blick. Tränen ersticken Lenas Stimme, sie neigt sich schweigend über ihn und küßt ihm Stirn und Lippen.
Ein seliges, zitterndes Aufatmen, das arme Haupt sinkt an ihre Brust, und Daniel Sobolefskoi schließt die Augen wie zu süßem Traum. Schwerer und schwerer fällt er in ihren Armen zusammen, wie ein Hauch weht's noch einmal über seine Lippen: »Mutter!« Und dann wird's still – totenstill.
Groppen, Jolante und Altenburg traten ein, schluchzend brach Lena an dem Sterbebett zusammen, und der General neigte sich tief erschüttert, die erkalteten Hände des treuesten Freundes zu küssen.
Daniel war nicht mehr verlassen, sein lächelndes Antlitz schien die Weinenden zu fragen: Was klagt ihr um mich? Ich habe gekämpft und gesiegt, und der Tod hat gesühnt, was das Leben an mir verschuldet.« – –
Fürst Sobolefskoi war in der Familiengruft zu Miskow beigesetzt, das Banner, das bei seiner Geburt zerriß und nicht erneuert worden war, rauschte seine Totenklage in den Wind, als der Letzte des Geschlechts zur ewigen Ruhe gebettet wurde. Auf seinem Herzen lag eine goldene Kapsel, seine Hände umschlossen das Kruzifix, das im Sterbezimmer seines Vaters aus jener Stelle des Parketts gelegen, wo das Haupt des Erschossenen geruht.
Die russischen Besitzungen hatte der Verblichene einem entfernten Verwandten, dem Grafen Arlowsk, testamentarisch zugesprochen, sein Barvermögen erbten die Töchter des Generals von Groppen, und ein Kodizill bestimmte das neuangekaufte Stammgut der Freiherren von Altenburg dem zweitgeborenen Sohn Eitel dieser Familie als Hochzeitsgabe.
Das war eine große, unbeschreibliche Freude für den jungen Offizier, der erst durch diese Bestimmung den wahren Namen des Käufers vernahm, und gerührten Herzens die mehr als freundschaftliche List erfuhr, durch die Fürst Sobolefskoi sein und Lenas Lebensglück begründet hatte. Trotz des außerordentlichen Vermögens seiner jungen Gemahlin lebte der Freiherr in schlichten und wahrhaft vornehmen Verhältnissen, und die einzigen Feste, die er mit Vorliebe besuchte, waren die des Hofes. Er hatte Lena in jene Galerie geführt, in der der unerklärbare Zauber der Hofluft ihn zur Erkenntnis seiner selbst gebracht. Ihr allein verdankte er das Glück, das ihm wie verheißungsvolles Morgenrot entgegenwinkte.
Auch Herr von Flanken war ein sehr berühmter Mann geworden. Sein Bild »Fuchs im Bau« hatte sich der ehrenvollsten Kritiken zu erfreuen gehabt und war für hohen Preis nach einer freien deutschen Reichsstadt verkauft worden, Herr von Flanken überwies die Summe armen Malern in Italien. Jolante strahlte vor Stolz und drang stürmisch in den Gatten, »noch mehr Meisterwerke zu schaffen«! Da sein bescheidenes Sträuben nichts half, rettete er sich durch eine List. »Gut,« sagte er, »ich habe einen großartigen Gedanken, ich werde mal eine Venus malen! Nur muß ich mich zuvor nach einem Modell umschauen!« Da fand Frau Jolante plötzlich, daß es des Ruhms genug sei und schloß ihrem Gatten sehr energisch Pinsel und Leinewand in den diebessicheren Geldschrank ein. So mußte sich der gottbegnadete Künstler seufzend in den barbarischen Willen der Hausfrau fügen.
In der Osteria hat die Entstehungsgeschichte von »Fuchs im Bau« lange Zeit Stoff zur größten Heiterkeit gegeben, doch hat man stets eine sehr liebenswürdige Diskretion gewahrt. Da Frau Jolante mit den Jahren doch erfuhr, was ihr Gatte eigentlich an dem Gemälde geschaffen hatte – das Loch und den Titel! – so habe ich jetzt die Erlaubnis erhalten, das amüsante Geheimnis auszuplaudern. Flanken, der schmunzelnd glückliche Hausherr, hat gar keine Angst mehr vor den Vorwürfen seiner Frau, denn das »Elfchen« ist eine sehr behaglich dicke kleine Mutter geworden, die sich mit beneidenswertem Phlegma im Schaukelstuhl wippt, sich von ihrem Goliath jede Treppenstufe heraustragen und bei jeder kleinsten Gelegenheit ritterlich bedienen läßt. Er gehorcht, noch ebenso galant und verliebt wie als Bräutigam, jedem ihrer Winke, und sie revanchiert sich dafür und ißt jeden Donnerstag mit sichtlichem Vergnügen Sauerkraut und Pökelfleisch mit ihm.
Die Ehe des Freiherrn von Altenburg ist für das große Publikum etwas ganz Außergewöhnliches; ein junges Paar, das sich nicht in den Strudel der Welt stürzt, sondern seines Glückes höchste Vollkommenheit in dem stillen, traulichen Heim findet, das begreift die Gegenwart eigentlich nicht recht.
Ursula hat es längst aufgegeben, diese Einsiedler hinaus zu Spiel und Tanz zu locken. Gräfin Lohe ist vollkommen Weltdame geworden, und zu Mark-Wolffraths größtem Amüsement ist es sogar schon vorgekommen, daß sie ihn wegen Vernachlässigung seines äußeren Menschen – er hatte vergessen, sich den Schnurrbart etwas »schick« brennen zu lassen – ganz entrüstet getadelt hatte!
Die Hofluft ist ihr Lebenselement geworden, und als Herr von Kuffstein nebst dem Herrn Doktor zum erstenmal zu Besuch kam, stemmte er die Hände in die Seiten und fragte mit verschmitztem Blinzeln: »Na, Urschel-Purschel, wollen wir wieder eine Bierreise machen und's mit den dressierten Gänsen riskieren?!« Diesmal fand seine Tochter eine solche Idee »haarsträubend«! und Papa Julius räsonnierte: »Der Mark-Wolffrath verdirbt alle guten Sitten; der Bengel, geht nur dahin, wo es drei Taler Entree kostet!« sprach's, servierte dem Herrn Doktor
noch ein Frankfurter Würstchen und wuchtete davon, um »den Flanken« abzuholen.
Dort öffnete ihm Frantusch Niekchen die Tür. Er hatte seine Zeit abgedient und war bei seinem Herrn »Rittmeister« als Livreebursche weiter im Dienst geblieben. Aber der brave Niekchen sah recht niedergedrückt aus, still und ergeben, magerer und blasser denn sonst. Dem übermütigen Monsieur war allerdings vom Schicksal übel mitgespielt worden. Da trat er eines Tages kreuzfidel vor seinen Herrn und sprach: »Leutnant! Trog' ich seit gestern Ringel am Finger!« Und er präsentierte einen gewaltigen Siegelring mit Achatstein! »Hot sik Köchin altes, vermögendes von General Groppen, olle Fingern abgeleckt nach mir, hot sie mir gemacht plausibel, daß nix heiraten is gut, heiraten abber is besser. Hob ich gesaggt: wann Marinka will sein Taubchen sanftes, guttmütiges, sull sie werden Frau vom Frantusch Niekchen – und nu is Hochzeit in nächste Woch', wann nix is Dreckwetter.«
Flanken hatte bedenklich das Haupt geschüttelt und den betörten Jüngling gewarnt, aber das Sparkassenbuch der alten Heiratslustigen blendete seine Augen. So war das Malheur geschehen. Als Niekchen nach einem Vierteljahr kläglich vor seinem Gebieter erschien, fünf rote Fingerabdrücke auf der Wange, und ehrlich bekannte: »Is sik nix Taubchen, Rittmeister, is sik Drache, alter, bissiger!« da kam guter Rat zu spät, und Herr von Flanken nickte nur: »Siehste wohl!«
General von Groppen nahm nach kurzer Zeit seinen Abschied und zog sich auf das Land zurück, ein eifriger Nimrod zu werden. Die Hofluft war ein allzu gefährliches Gift und taugte nicht für ihn, darum ging er ihr aus dem Wege. Er war charakterfest genug, sich beizeiten dem verführerischen Zauber zu entziehen,
dem der junge Graf Antigna in so trauriger Weise zum Opfer gefallen war. Eine exzentrische und eigenartige Natur war er wohl stets gewesen, und der Umschwung, der den menschenscheuen Gelehrten aus dem Studierzimmer plötzlich auf das spiegelnde Parkett schleuderte, mußte wohl zu groß gewesen sein. Da umwehte es ihn süß und schmeichelnd und sank wie ein rosiger Schleier über seine Augen, daß er blindlings in die fremde, lockende Welt hineintaumelte. Vom Schreibtisch an das Champagnerbüfett, aus der nüchternen Einsamkeit des Studierzimmers in die tollen Wirbel großstädtischen Lebens! – Ja, wäre es bei den Hoffesten geblieben! Die Flöten und Geigen aber, die ihm dort so zauberisch entgegenklangen, glichen nur dem Lied der Nachtigall, es rief ihn in die blühende, wonnige Welt, unbekümmert darum, wenn er auf Abwege geriet, die finster und voll wüsten Lärms waren.
Viele nannten den jungen Grafen verrückt, da er in fast krankhafter Vorliebe für rote Mohnblüten sein Zimmer täglich mit diesen Blumen schmücken ließ, auch das Opium rauchen führte man auf diese Passion zurück. Seit Prinzessin Kordelia verlobt war und die Feste der Saison sich jagten, hatte er diese unselige Angewohnheit in unvernünftigster Weise übertrieben, und es war nur eine ganz natürliche Folge, daß das Gift sein Opfer forderte. Ein schweres Nervenfieber warf ihn nieder, und als die Fackeln zur Hochzeitsfeier der Prinzessin in feierlichem Tanze durch das Schloß flammten, neigte Henry Antigna das Haupt und schloß die Augen zum ewigen Schlaf.
Seine Mutter aber nahm ein kleines Bild von der Brust des Toten und legte es auf einem Strauße welken Mohns in die Kaminflammen – zum erstenmal im Leben zitterte die weiße, energische Frauenhand.
Als aber der Weihrauch durch den Saal wallte und alle, die da einen großen Namen hatten, sich versammelten, dem Verstorbenen
die letzte Ehre zu erweisen, stand Gräfin Antigna wie gewohnt inmitten des Gemaches und neigte das Haupt zum Gruß. Bleich und ruhig wie stets war ihr Antlitz, nur das verbindliche Lächeln fehlte, und die Tränen, die an den Wimpern perlten, entstellten nicht. Fest und zwingend wie einst auf Henrys Schultern, lag ihre weiße Hand auf dem Haupt des jüngsten Sohnes.
Blumenfülle deckte den Sarg, das Auge der Gräfin aber weilte unverwandt auf dem glänzenden Ritterhelm, der zu seinen Häupten stand.
Hofluft war es, die Gräfin Antigna geatmet hatte, seit sie selbständig die Füßchen regen konnte, und alle die kleinen Stäubchen überlieferter Anschauungen waren ihr zu Fleisch und Blut geworden, zu einem Panzer, an dem die Pfeile des Schicksals wirkungslos abprallten.
Ja, Hofluft, du seltsame, unerforschliche Zauberin, mannigfach wie die Farben des Regenbogens schillert dein duftiger Hauch, und tausendfach, wie die Lippen, die dich atmen, ist der Einfluß, den du auf die Seele ausübst. Hofluft, wehe mir auch künftighin deine wundersamen Mären ins Ohr – Hofluft, du liebliches Gemisch von Sonne, Mond, Sternenglanz und Veilchenduft.