Nataly von Eschstruth
Hofluft
Nataly von Eschstruth

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VI.

Vierzehn Tage waren seit dem Groppenschen Ball vergangen.

Daniel Sobolefskoi lag in seinem Zimmer auf dem Diwan, um eine kurze Siesta zu halten. So hatte sein Kammerdiener dem General antworten lassen, als dieser sich nach des Fürsten Verbleiben erkundigen ließ.

Groppen schüttelte lachend den Kopf, »Na ja, da haben wir's! Muß jetzt am Tage schlafen, weil er zu lange im Mondschein geschwärmt hat! Sollte man es glauben! Sein Leben lang war der Mensch die Solidität selber, und plötzlich – seit kaum zehn Tagen, fängt er trotz seines grauen Kopfes noch an, über die Stränge zu schlagen!« Tante Dorette sah von ihrer feinen Stickerei empor und schüttelte ebenfalls den Kopf. »Sehr töricht von ihm; wer in so schwacher Haut steckt, sollte lieber schlafen in der Nacht, als in den Cafés herumzuflanieren! Ist es vielleicht ein besonderer Magnet, der ihn in so überraschender Weise aus der altgewohnten Bahn zieht?«

Der General stäubte die Zigarette ab und zuckte in seiner leichtlebigen Art die Achseln. »Hoffen wir's! Der kleine Kerl war beinahe dreißig Jahre lang ein Duckmäuser, und das ist Unnatur. Den Schwabenstreich, den jeder Staubgeborene der Göttin Erfahrung als Tribut zahlen muß, hat Daniel ihr bis jetzt in geradezu beängstigender Weise vorenthalten, und darum will ich wirklich wünschen, daß er noch einmal über einen Zirkusreifen oder eine Theaterkulisse Purzelbaum schlägt, ehe er als verkörperte Nüchternheit in die Grube fährt!«

Die jungen Damen traten ein, und Drau von Loguth brach das Gespräch ab. Aber von Stund an ruhte ihr Blick oft voll aufrichtiger Sorge auf dem Antlitz des Russen. Er sah kränker aus denn je, bleich, abgemagert und todmüde; aus tiefdunklen Augenhöhlen schweifte sein unsteter, silberglänzender Blick, und die Hand, die oftmals das Haupt stützen mußte, ließ kaum noch ein blaues Geäder durch die wächserne Haut schimmern.

Ja, Daniel Sobolefskoi lag wieder auf dem Ruhebett, um einen kurzen Schlaf zu tun. Er wollte von niemand gestört sein, und so war es totenstill uno dämmerig in dem Salon, nur die Uhr tickte ein monotones Schlummerlied. Dennoch kam kein Schlaf in seine fieberheißen Augen. Gegen den zähnefletschenden Kopf einer gewaltigen Wolfsschur, welche über den Diwan gebreitet war, drückte er sein häßliches, ungestaltetes Haupt. Seine gebrechliche Gestalt war zusammengebogen, wie die eines Gnomen, der auf der Mauer liegt, und seine Finger wühlten in nervösem Spiel in den dichten Flocken des Felles. In seinen Zügen zuckte und arbeitete es, bald lachte, bald frohlockte er, und dann wieder entrang sich ein lautes Aufstöhnen der kranken Brust.

Ja, Daniel Sobolefskoi hatte seinen elenden Körper Nacht für Nacht hinausgeschleppt in Schnee und Winterkälte, hatte voll wilden Trotzes die Zähne zusammengebissen, wenn seine Kräfte ihn verlassen wollten. Stundenlang hatte er bei Wind und Wetter auf der Straße gestanden, gegenüber dem Hause, darin der Freiherr von Altenburg drei Treppen hoch seine bescheidene Wohnung gefunden, und hatte lange vergeblich geharrt, bis er die Zeit ausgekundschaftet hatte, zu der eine hohe, vom Mantel umhüllte Gestalt aus dein Rahmen der Haustür trat.

Behutsam, leise und geschmeidig wie ein Raubtier, das ein Wild beschleicht, folgte er dem Verhaßten, keuchend bei der Hast seines schnellen Schrittes, Qualen erduldend beim Ankämpfen gegen die scharfe Schneeluft, die bei jedem Atemzug die Brust wie Dolch und Schwert traf, Lange, weite Wege mußte er oft vergeblich zurücklegen, bis er endlich auf der richtigen Fährte war, bis das Ziel der späten Promenaden meistens ein und dasselbe war. Kein Kaffeehaus, kein Lokal, daraus Spiel und Sang erschallte, nein! Dazu hatte der arme Edelmann im Rock des Königs kein Geld! – Ingrimmig hatte Daniel zuerst die Erfahrung gemacht, daß die Gewissenhaftigkeit und das Ehrgefühl des jungen Offiziers größer waren, als die Versuchungen eines modernen Babel. Der Dämon hatte seine Krallen bis in das Herzblut des verwachsenen Mannes geschlagen, und wie ein Mephisto die Fallstricke vor den Füßen seines Opfers ausspannt, hatte auch Sobolefskoi Netze gelegt, seinen Gegner darin zu erdrosseln. Als Freund hatte er sich in beinahe aufdringlicher Liebenswürdigkeit an Altenburgs Fersen geheftet. Sein Vertrauen zu gewinnen, spielte er die gewagtesten Komödien, und als der junge Mann ihm endlich nähertrat und sich ihm mehr anschloß als anderen Herren – um Lenas willen – da hob Mephisto die funkelnden Säckel seines Reichtums, hing den Deckmantel der Liebe über seinen Pferdefuß und sprach: »Nimm von meinem Überfluß, junger Freund! Ich fordere kein einziges dieser Goldstücke jemals von dir zurück. Lebe, genieße! Stürze dich dem Vergnügen in die Arme, je wilder, desto besser, man ist nur einmal jung! Und ich? Ich hab' ja meine Freude dran!«

So hatte sich die Schlange an dem mittellosen Mann emporgeringelt, hatte ihn mit den Augen der Versucherin angefunkelt und bereits ihr giftig Haupt gereckt, ihn in das Herz zu stechen. Altenburg aber hatte im Kampf mit ihr gesiegt wie ein Held, und wenn Daniel auch seiner moralischen Niederlage fluchte, so hatte sein Auge dennoch voll Bewunderung aufgeleuchtet, als es einen Blick in dies ehrenfeste Jünglingsherz getan. Aber sein böser Geist, der mächtig wachgerüttelte, deckte mit schwarzem Fittich das sehende Auge des Fürsten.

Eine neue Falle gestellt! – Und heimlich beobachtete und verfolgte er den Freiherrn auf Schritt und Tritt, um eine schwache Stelle zu finden, an der die Axt an den stolzen Eichbaum gelegt werden konnte.

Kein Kaffeehaus, keine Spielhölle! Eitel von Altenburg blieb in ärmlicher, kleiner Gasse vor einem turmhohen Hause stehen, öffnete mit einem eigenen Hausschlüssel und verweilte darin von zehn Uhr bis oft lange nach Mitternacht.

Wo ging er hin? Daniel triumphierte bereits. Er hatte sich zwei Abende nacheinander in dem wenig herrschaftlichen Hause einschließen lassen und es einem Zufall verdankt, daß er spät in der Nacht durch ein paar heimkehrende Näherinnen wieder befreit wurde. Am dritten Abend kam endlich der junge Offizier. Er trug bei diesen Promenaden stets Zivil, schritt hastig durch den Flur des Vorderhauses und eilte nach dem rechten Quergebäude des Hofes.

Wie ein Schatten schlich ihm Sobolefskoi nach, Er hörte den Schritt auf der hölzernen Treppe klingen. Hoch – immer höher ging es. Im vierten Stock klopfte er an die Tür.

Andern Tags hatte es Sobolefskoi ausgekundschaftet, daß dort ein alter Tanzlehrer wohnte, ein Franzose, dessen allerliebste Enkelin bei dem Ballett engagiert war.

Aha! – Ging Altenburg jemals auf die Billetts der Akademie ins Theater, so war es angeblich stets in das Opernhaus, »weil er Musik so sehr liebe!« Daniel Sobolefskoi hatte laut aufgelacht, seit langer Zeit zum erstenmal wieder schallend aufgelacht. Und jetzt lag er auf dem Diwan und spann wüste, phantastische Träume. Das Kaminfeuer flammte auf; wenn sein greller Schein den Wolfskopf streifte, funkelten die grünen Glasaugen wie Phosphor.

Der Bucklige stierte in die zuckende Glut, auch sein Blick flimmerte wie der eines Raubtieres. Der Plan war reif. Er sollte den durchkreuzen, den die Liebe ihm, dem Ausgestoßenen des Glücks, zur Verzweiflung ersonnen.

Drei Wochen lang war es her, seit Altenburg an Lenas Seite gesessen, um während eines langen Soupers voll stets wachsenden Interesses in die dunklen Mädchenaugen zu schauen, die zu ihm anders emporblickten, wie zu jedem andern. Arm in Arm waren sie im Tanz dahingeschwebt, die erste Schleife hatte Lenas Hand auf der Brust des fremden, von allen andern kaum beachteten Mannes geheftet, und in Lenas Zimmer hatte später ein einziger Kotillonstrauß auf dem Schreibtisch gelegen, an dem die stanniolumwickelten Stiele umgebogen waren, um ihn zu kennzeichnen.

Daniel Sobolefskoi hatte die Hände gegen die Brust gepreßt und gewaltsam die Augen geschlossen, dennoch hatte er den kleinen Strauß wie ein Schreckgespenst die ganze Nacht hindurch gesehen, in wüstem, musikdurchgelltem Traum. Was hatte er verbrochen, daß das Schicksal ihn so unbarmherzig und ruhelos durch sein ganzes Leben verfolgte? Wie ein Kainszeichen brandmarkte ihn seine Mißgestalt, die ihn aus dem Paradiese der Liebe und des Glücks ausstieß wie einen Paria; Krankheit und physische Schmerzen peinigten ihn, solange er denken konnte, einsam und verlassen seit Jugend auf, ärmer als das in Lumpen gehüllte Kind, das eine Mutter auf den Armen wiegte, das seine Tränen an einem Mutterherzen weinen konnte!

Wie ein Fluch hatte ihn das Unglück verfolgt, ungehört war sein Jammergeschrei verhallt, unerfüllt war das flehende Gebet seines Lebens geblieben – was hatte Daniel Sobolefskoi gefrevelt, daß sein Gott ihn so ganz und gar verlassen hatte?

Soweit er zurückdenken konnte, hatte er keine schlechte Tat begangen. Sein Wollen und Wünschen war brav und gut. Wie ein Märtyrer hatte er sein schuldlos Haupt unter die Geißelhiebe der Welt gebeugt und in demütiger Geduld auf Haß mit Liebe geantwortet. Und die Heiligen im Himmel schien es zu erbarmen, er fand die dunklen Augen, die seines Lebens Sehnsucht waren. Aber er sollte sie lieben, ohne sie zu begehren, er sollte sie nur gefunden haben, um sie wieder zu verlieren. So reißt man dem Verschmachtenden den Becher von den Lippen. Entsagen! Wieder gellte es ihm mitleidslos in die Ohren. Entsagen! Wieder traf es ihn mit scharfem Stachel in das Herz. Der Engel der Ergebung aber war während der langen Pilgerfahrt über Stein und Dorn matt geworden, seine gefalteten Hände konnten den Dämon nicht mehr niederhalten, er wuchs wie ein Riese und triumphierte. Daniel hatte es mitansehen müssen, wie sich fremde Hände nach dem Kleinod seiner Seele ausstreckten. Er beobachtete, wie die Liebe in Lenas Herz erwachte, wie der Freiherr von Altenburg in der Nähe des liebreizenden Mädchens ein anderer wurde. Nach dem Groppenschen Ball hatten beide sich verschiedentlich wiedergesehen, und er, Daniel, war ein Narr, wenn er Fallstricke legte, sie waren zu goldenen Fäden geworden, die Altenburg mehr denn je zu dem Hause des Generals zogen. Sie liebten sich! Jeder Blick, jedes Wort verriet es, und wenn der junge Offizier auch in stolzem Trotz noch nicht um die Hand der reichen Erbin warb, so würde dennoch ein Tag kommen, wo die Allgewalt der Leidenschaft die Dämme niederriß, die übertriebenes Ehrgefühl in den Weg getürmt. Darum auf zur Tat, ehe es zu spät war! Daniel hatte nicht umsonst gearbeitet, er wollte auch ernten. Sein Entschluß stand fest, die Beobachtungen, die er gemacht, nun auch zu verwerten. Vor Lenas Augen stand das Bild des Geliebten in reiner, makelloser Glorie da, als der Inbegriff alles Edelsinns, aller Rechtschaffenheit, verkörpert in der ritterlichen Gestalt Eitels.

Aber Fürst Sobolefskoi wird dieses Spiegelbild ins rechte Licht drehen; ein einziger Lufthauch, der über den Hof jenes fünfstöckigen Hauses weht, darin des französischen Tanzmeisters Enkelin wohnt, soll es treffen, und das strahlende Bild wird unter ihm so jählings trübe werden, daß es Lena voll Abscheu aus der stolzen Hand schleudert!

Das Feuer im Kamin knisterte auf wie boshaftes Kichern, und die zusammengekauerten Glieder des Russen dehnten sich auf dem Wolfsfell. Mit kurzem Ruck der Entschlossenheit glitt er von seinem Lager und wühlte noch einmal die hageren Finger durch sein struppiges Haar; dann schritt er zur Tür, öffnete leise und trat auf den hellen, durchwärmten Flur hinaus. Die teppichbelegte Treppe dämpfte seinen Schritt, der Fürst durcheilte die Salons der ersten Etage und blieb sekundenlang vor dem Empfangszimmer der jungen Dame stehen.

Auf seiner Stirn trotzte ein fast grausamer Wille, derselbe rachsüchtige Zug lagerte um seinen Mund, der schon im Schloß von Miskow des Kindes Antlitz verzerrte, wenn er unerbittliche Strafen für irgendeinen Peiniger ersann.

Und er legte die Hand hart auf die Klinke und trat ein.

»Lena?!« rang es sich rauh und heiser von seinen Lippen.

Keine Antwort. Aber ein wunderliches Geräusch drang von einem Sessel zu ihm herüber, es klang wie lautes Aufschluchzen.

Der Bucklige durchmaß hastig das Zimmer, und abermals hallte es »Lena!« durch den stillen Salon: diesmal aber war es ein Ausruf des Schreckens, und die Finger der gekrampften Hand lösten sich zitternd, um den Arm des jungen Mädchens zu umspannen. »Lena – du weinst?«

In den weichen Plüschpolstern lag ihre schlanke Gestalt. Der weiße Seidendamast einer Soupertoilette floß bereits in schimmernden Falten zum Teppich nieder, Goldreifen blitzten, und Blumenkelche dufteten schon an der Brust. Aber sie waren geknickt und streuten ihre Blätter nieder, ebenso wie die frischen Fliederzweige im Haar matt und halb gelöst herniederhingen. Sie regte sich nicht, nur ein heißes, leidenschaftliches Weinen schüttelte unmerklich ihre Glieder.

»Lena! Allmächtiger Gott, was ist geschehen?« Wie umgewandelt war der Ausdruck in Daniels Zügen, verzehrende Herzensangst blickte aus seinen Augen, und neben ihr auf die Knie niedersinkend, streichelte er wie ein Kind ihre Hand.

Ein leiser, schneller Druck dieser war die Antwort.

»Lena, ich beschwöre dich, welch ein Schmerz ist dir widerfahren?« flehte es zu ihr empor. »Ich habe dich seit deiner Kindheit nicht mehr weinen sehen, diese Tränen ängstigen mich! Sprich zu mir ... vertraue dich mir an ... du weißt's, daß ich mein Herzblut gebe, wenn ich dir helfen kann!«

Da schlangen sich ihre Arme krampfhaft um seinen Nacken, und das schöne, tränenbetaute Antlitz sank wie eine gebrochene Blüte auf seine Schulter, mit dem halberstickten Aufschrei: »Onkel Daniel – er stirbt!«

Der mißgestaltete Mann zuckte zusammen. »Wer stirbt, Lena?«

Er fühlte, wie ihr Körper zitterte und zusammenschauderte.

»Altenburg!«

»Undenkbar; ich sah ihn heute morgen, was soll ihm passiert sein?«

Da richtete sie sich empor und drückte die Hände gegen das wehe Herz. »Gestürzt – mit dem Pferde – durch unglücklichen Fall in Glasscherben – eine schwere Halswunde!« rang es sich von ihren Lippen.

Er hatte sich erhoben. Ein wunderliches Frösteln durchlief ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Er hätte frohlocken mögen, und dennoch preßte ihm der Jammer die Kehle zusammen. »Beruhige dich, mein Liebling, fasse dich!« tröstete er mit weicher, zärtlicher Stimme, »wer weiß, mit welch irrigem und übertriebenem Gerücht man dich erschreckt hat. Erzähle mir ausführlich, was du von einem vermeintlichen Unfall Altenburgs gehört hast, ich bin überzeugt, es ist ein Märchen!«

Lena schüttelte aufgeregt das Köpfchen. »Flanken hat alles mit angesehen,« flüsterte sie hastig. »Beide Herren sind zusammen geritten – Altenburg leichtsinnigerweise auf einem fast völlig unzugerittenen Vollblutrappen seines Vetters Lanken! Bei dem Überqueren einer Straße stürzte von einem dicht vorausfahrenden Wagen ein Flaschenkorb, und das junge Pferd, durch das Klirren erschreckt, bäumte sich auf und – und –« Lena drückte die Hände gegen die Schläfen und schluchzte laut auf! »Onkel Daniel, Gott im Himmel mög's verhüten, daß er stirbt!«

Sobolefskoi blickte starr vor sich nieder. Seine Zähne schnitten in die Lippen, tiefe Atemzüge hoben seine Brust. Ihm war, als solle auch er die Hände falten und voll leidenschaftlicher Angst flehen: »Ja, verhüte es, daß dieser Hoffnungsstrahl wieder erlischt, allmächtiger Gott! Wer so viel süßes Glück genossen wie Altenburg, dem diese dunklen Augen in Liebe zugelächelt, der stirbt reich und schön! Ich aber bin arm und elend und soll das einzige hingeben, was mir lieb ist auf dieser Welt, darum hilf mir, du Gott der ewigen Gerechtigkeit!«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann umschloß Lena die Hand des Fürsten abermals mit bebendem Druck. »Onkel Daniel,« flüsterte sie, »kennst du die Qualen des Hangens und Bangens, eines Harrens in Zweifel und Ungewißheit? Ich weiß, daß er schwer krank ist, daß er vielleicht in diesem Augenblick mit dem Tode ringt, und kein Mensch ist auf der weiten Welt, der mir Nachricht bringt, den ich vertrauensvoll an das Krankenlager senden könnte.«

»Lena, ist es nur Mitleid, daß du also an seinem Schicksal teilnimmst?« Seine Stimme klang halb erstickt, und ihre Wimpern senkten sich, da sein wunderlicher Blick ihr Auge traf. Sie antwortete nicht, sie schlug nur die Hände vor das bleiche Antlitz.

Fürst Sobolefskoi neigte sich näher, sein Atem streifte fast ihre Wange. »Du liebst ihn!« tönte es leise, wie klangloses Zischen in ihr Ohr.

Da hob sie das Haupt und sah ihn an, Tränen glänzten an den Wimpern, aber ein Lächeln, süß und glückselig, verklärte ihr Angesicht, »Ja, Onkel Daniel, ich liebe ihn! Keinem Menschen auf Gottes weiter Welt will ich es anvertrauen, als dir allein, du treue Seele, du mein einziger, mein bester Freund, den ich besitze.«

Wie ein Schwindel erfaßte es ihn, seine Knie zitterten, langsam sank er auf den Sessel, und als das junge Mädchen in leidenschaftlicher Erregung an seiner Seite niederkniete und ein jubelndes Bekenntnis alles dessen ablegte, was Daniel längst wußte, als ihre Seele vor ihm rang in Liebe und Todesangst um des Geliebten Leben, da strich er mit eiskalter Hand über ihr lockig Haar und murmelte: »Ich habe es geahnt und gewußt, daß diese Stunde kommen würde.« Noch einmal zuckte es blitzartig durch seine Gedanken, ihr zu sagen, daß Altenburg wohl nicht so verlassen sei, wie sie wähne, aber er preßte die Lippen zusammen und schwieg.

Nein, er konnte ihr nicht das Herz brechen, nicht in diesem Augenblick, wo er voll tiefer Zerknirschung hätte in die Knie sinken mögen vor seinem Gott, von dessen Wegen er in den letzten Tagen so vielfach abgewichen war, und der plötzlich dennoch seine barmherzige Hand ausstreckte, nach seinem Willen den Konflikt zu lösen. Daniel starrte mit weitgeöffneten Augen ins Leere. Sein leicht erregter, phantastischer Kinderglaube sah bereits den goldenen Weg, den des Allmächtigen Gnade ihm aufgetan.

Eitel würde sterben wie ein Glücklicher, den ein Blitzschlag aus dem Arm der Liebe reißt, er würde im blühenden Sommer des Lebens dahingehen, damit noch ein letzter Sonnenstrahl mild versöhnend auf den Spätherbst eines im Schatten verkümmerten Reises fallen konnte.

»Onkel Daniel!« flehte Lena, »du siehst die Angst, die ich um ihn leide! Hab' Mitleid, hab' Erbarmen: leiste mir den größten Liebesdienst, den mir je ein Mensch leisten kann, du bist Arzt, fahre zu Altenburgs Wohnung und sieh, wie es um ihn steht.«

Er nickte schweigend mit dem Haupt und erhob sich.

Da schlang sie die Arme um seinen Nacken uno sah ihn mit unbeschreiblichen! Blick an. So nah, so zauberschön in ihrer tränenfeuchten Qual hatte Daniel ihre Augen noch nie gesehen, noch nie waren sie den dunklen Sternen, welche er in der goldnen Kapsel auf der Brust trug, so ähnlich gewesen!

»Onkel Daniel, gelobe es mir, daß du alles für ihn tun willst, was in Menschenkräften steht! Du treuer, selbstloser Samariter, der schon an so viele Krankenlager als ein Gottgesandter getreten ist, um zu helfen und zu retten, du, der Wissen und Kenntnisse gleich dem besten Arzt besitzt, du wirst auch diesmal voll opfermutiger Liebe alles einsetzen, diesmal, wo du weißt, daß du mit seinem Leben auch das meine erhältst!«

Er sah nur in ihre Augen und legte seine Hand mechanisch in die ihre.

»Versprich es mir!«

»Ich gelobe es!«

Ein tiefer Atemzug der Erleichterung hob ihre Brust, mit zitternden Fingern rührte sie die Schelle.

»Du fährst doch gleich?« bat sie abermals, und da er regungslos dastand und nurr zustimmend den Kopf bewegte, fiel es ihr auf, wie bleich und fremd er aussah. Es mußte an dem unsicheren Kerzenlicht und ihren umflorten Augen liegen. Noch einmal streckte sie ihm in aufwallender Dankbarkeit die Hände entgegen, er schien es nicht zu sehen, den Blick wie gebannt in den ihren gesenkt, schritt er alsdann unsicheren Schrittes an ihr vorbei durch die Tür.

 

Herr von Fanken saß vor seinem hölzernen Tisch und stützte sinnend den Kopf in die Hand. Es erging ihm ähnlich wie dem Löwen, wenn er auf den Geschmack des Blutes gekommen. Vor ihm lagen drei Balleinladungen, und Frantusch Niekchen trabte soeben zum Briefkasten, um schleunigst die Antwortschreiben zu befördern, die den gütigen Gastgebern versichern sollten, daß der Herr Premierleutnant »mit größtem Vergnügen usw. usw. Folge leisten werde.«

Wer hätte das vor vier Wochen geglaubt! Flanken gedachte kopfschüttelnd des Dichterwortes, das die Hofluft als etwas so ganz Absonderliches beschreibt. Der Mann hatte entschieden recht, denn wenn solch ein Wehen, Strahlen und Duften einem derart nüchternen und prosaischen Gesellen wie ihm den Kopf verdrehen konnte, dann mußte es tatsächlich ein Zaubergemisch von Sonne, Mond und Veilchenduft sein.

Auf dem Groppenschen Ball hatte zwar nicht die echte, rechte Hofluft geweht, aber sie hatte doch das Köpfchen der Prinzessin umsäuselt und mit ihrem Blütenstaub die Athmosphäre des Saales erfüllt, das merkte Flanken daran, daß es ihm plötzlich so sehnsuchtsvoll und lyrisch zumute wurde, wie bei Mondschein und Veilchenduft. Oder waren Jolantes kleine Hände daran schuld? Sie spielten gar zu allerliebst mit dem Fächer und wehten mit ihm die Goldlocken zurück, so daß sich eine davon gleich wie eine Schlange an dem Ärmel des Ulanen emporringelte. Oder war ihre Balltoilette schuld? So etwas Duftiges und Spinnwebfeines war im Grunde genommen der einzig richtige Anzug für eine Dame, da sah man erst, was für Puppenspielzeug solch ein kleines Ding ist, und kann solch ein Wunder gar nicht genug anstaunen. Es weilten allerdings auch manche Kraftjungfrauen in den Ballsälen, allein diese muteten Flanken beinahe wie etwas Unnatürliches an. Die Frauen sind das Mittelding zwischen Engel und Mensch, oder direkt Engel, denen man nur die Flügel genommen, damit sie nicht allzu rasch in ihre himmlische Heimat zurückflattern.

In Flankens Seele lebten noch Ideale, und die in seinem Herzen fast unbewußt das Köpfchen hebende Liebe lächelte wie ein Kind, das harmlosen Sinnes noch an Märchen glaubt.

In Gedanken versunken saß er inmitten seiner blauen Tabakswölkchen da und überlegte, wie es wohl anzufangen sei, daß er Jolante auch einmal zu einem Walzer engagieren könnte! Es müßte doch rein des Teufels sein, wenn er nicht tanzen lernte, wenn er nicht die paar Schritte und Schleifer schnell begreifen sollte! Davon war er überzeugt, aber – Flanken fuhr mit gespreizten Fingern durch sein Kraushaar – lernen wollte er ja gern, aber wie und wo? Da lag der Hase im Pfeffer. Konnte ein so alter Mensch wie er noch Tanzstunde nehmen? Das würde einen schönen Spektakel bei den Kameraden geben! Und wenn auch der Tanzmeister diskret wäre, so würde sich Flanken doch lieber einen Finger abbeißen, ehe er sich vor so einem wildfremden Menschen mit täppischen Bocksprüngen lächerlich machte. Außerdem – mit wem sollte er tanzen? Ein Lehrer, ein Musiker und einer, der als Dame tanzte, das waren bereits drei Personen, die ins Vertrauen gezogen werden müßten. Nein, vor soviel Publikum ließ sich kein würdiger Mann die Beine gelenkig machen!

Flanken seufzte tief auf und hob gleichzeitig lauschend den Kopf. Was war denn das für eine Katzenmusik da drüben?

Fein und silberhell, aber dabei sehr deutlich vernahm er nebenan, in dem Zimmer seiner Wirtin, wohlbekannte Klänge. Das war derselbe Walzer, von dem Jolante neulich mit leuchtenden Augen, hochatmend und heiß erglüht, gesagt hatte: »Es mag eine triviale Melodie sein, aber gleichviel, es tanzt sich himmlisch danach!«

Die Tür öffnete sich und Niekchen trat ein, um eine ausgebürstete

Uniform wieder in den Schrank zu hängen. Mit drei gewaltigen Schritten stand sein Herr neben ihm, faßte den braven Polen beim Genick und zog ihn zu der Wand hin, »Niekchen! Hörst du was?!«

Der so außergewöhnlich Behandelte duckte sich wie ein Jagdhund vor der Peitsche und machte ein Gesicht, als erwarte er fürchterliche Dinge durch die Wand zu erlauschen,

»Na, hörste was?!« wiederholte Flanken ungeduldig und ließ den Kragen der alten Jagdjoppe, die Niekchen im Hause auftragen durfte, los.

»Hör ik nur Spieldosel von Wirtin unsrigres!« schüttelte er enttäuscht den schwarzlockigen Kopf.

»Mehr verlange ich gar nicht! Kennst du vielleicht das Stück, welches sie eben spielt?«

Die schlanke Figur des Ulanen schnellte wieder empor, und ein sehr fröhliches Lachen ließ momentan die Hähne durch den Schnurrbart blitzen, »Werrd ik doch kennen Gchunkelwalzer, Herr Leutnant!«

Flanken blickte auf die Füße seines Scherasmin hernieder, die sich in der heißblütigen Art seiner Nation sofort im Takt bewegten.

»Du kannst wohl gar tanzen?« beinahe klang's wie heller Neid in der Stimme des Fragers,

Die Augen des Polen blitzten. »Kann ik tanzen besser wie fixestes Madel, Leutnant. Hob ik gemacht unzähliges Masur – und Polka – und Krakowiak –«

»Damit kannst du mir aus dem Tornister fallen! Aber Walzer – « Flankens Hand legte sich wuchtig ans die Schulter des geschmeidigen Gesellen, »kannst du auch Walzer tanzen?«

»Oh! – oh!!« und Niekchens Mimik und Handbewegung sagten alles weitere.

Da blitzte es durch die Gedanken des Premierleutnants wie ein großes, großes Licht, »Dann wirst du mich das Walzertanzen lehren, Niekchen!« sprach er feierlich, »geh hinüber zu der Frau Wirtin und sag' ein schönes Kompliment und frag', ob sie uns mal ihre Spieldose pumpen wollte! Aber nicht verraten, daß wir hier tanzen werden, verstanden, Kerl? Sag', ich sei ein musikalischer Mensch und wollte gern das Instrument spielen lernen – ja so – das spielt sich von allein. Na, dann sag' nur, ich hätte ganz kannibalische Kopfschmerzen und da wollte ich mich ein bißchen aufheitern!«

Sämtliche Gelenke an Frantusch Niekchen tanzten bereits als er wie ein Wirbelwind durch die Tür stob, den Befehl auszuführen.

Flanken aber faßte den schweren Eichentisch mit beiden Händen und trug ihn, wie andere Sterbliche vielleicht ein Fußbänkchen durch das Zimmer transportieren, in die Ofenecke, Teppiche gab es Gott sei Dank nicht zu rollen, und nachdem noch die Schemel beiseite geschoben und ein Briefkuvert als störendes Hindernis sorgsam beseitigt worden, sah sich der blonde Riese wohlgefällig in seinem Tanzsaal um und schaute dem Lehrmeister Niekchen erwartungsvoll entgegen, als dieser das Zimmer wieder betrat.

Sein Gesicht war hochgerötet, seine Hände leer.

»Nun? wo bleibt denn die Musik?!«

»Hob ik gefragt Madel von Wirtin unsrigtes nach Schunkelwalzerkastel, hot aber gesagt Marinka ausverschämtes, daß bei Wirtin is grußes Damenappell mit Kaffeevergnieken, und daß Wirtin närrisches darum kann nix hergeben Spieldosel!«

»Soll doch ein Schock-Donnerwetter –! Tanzen die Damen denn auch?«

»Sitzen gonz mausestill aus Kanapee und lossen immer Kaffeetasseln frisch füllen und wockeln mit Kinnbacken wie masurisch Rindd, wenn's widerkäut. Dozu muß Instrument Musik machen, bis Dame ausgehungertes konn nix mehr beitun, dann fangt's an allen Ecken an zu verzählen Neuigkeit, und Dosel spielt immer pressenti, damit nix Pause wird!«

»Das ist ja eine heitere Bescherung! Ja, Niekchen, da müssen wir die Stunde heute aufstecken, Blitz und Knall! und ich hätte so gern bis nächsten Mittwoch Walzer gelernt!«

»Können wir machen alles ohne Musik!«

»Nein, dann bleibe ich nicht im Takt!«

»Wenn Leutnant wird nix böse, Frantusch Niekchen konn Schunkelwalzer dazu pfeifen.«

Flanken starrte seinen Getreuen einen Moment sprachlos an, dann erglänzte sein frisch gerötetes Gesicht wie ein Vollmond, der sich siegreich über düstere Wolken hebt, und langsam ein Dreimarkstück aus der Börse nehmend, reichte er seinem Burschen anerkennend die Hand: »Die Idee war einen Taler wert, Niekchen! Vorwärts, es kann losgehen!«

Hei, wie das so flott schlurrte und schleifte, als der schwarzäugige Gesell vor seinem Gebieter Probe tanzte! Er hatte sich zuvor in Wichs geworfen, und der blondlockige Herkules sah schmunzelnd auf diesen graziösesten aller dreijährigen Ulanen, der, keck und elegant in jeder Bewegung, einem jeden Ballsaal zur Zierde gereicht haben würde. Ja, ja, Temperament gehörte dazu!

Voll ehrlichen Eifers setzte sich auch der Schüler in Bewegung. Wo aber bei Niekchen kaum eine Diele gebebt hatte, da zitterten unter des deutschen Edelmannes Füßen die Balken, und wo Niekchen leicht und beinahe lautlos die Schritte vormachte, da dröhnte es unter Flankens Sohle wie Donner und Wettergraus. Und wie man im besten Zuge war, und Niekchen, melodisch pfeifend, sich als zarte Schöne in den Armen seines noch sehr tolpatschigen Tänzers zu wiegen versuchte, da klopfte es erst zaghaft und dann immer energischer an die Tür.

Der Reigen stockte.

Flanken wischte keuchend mit dem Taschentuch über die Stirn, und Frantusch changierte auf seinen Wink behende zur Tür, um hinter dieser zu verschwinden. Mit ganz betretener Miene erschien er nach lautem Wortwechsel vieler Stimmen wieder vor dem Angesicht seines Herrn.

»Na, was gab's denn?«

»Woren sie Kopf an Kopf die Kränzchendamen von Wirtin geängstigtes und Madeln und Mietersleut und sunstiges Bagag' auf Kurridor. Haben sie all gekreuzigt und gesegnet sik und gefragt, was is bei Leutnant passiert? Is sik unten in Kellerwohnung alles Kalk von Stubendecke gebrochen, und hot Frau einfältiges geschrien, daß sik Haus stürzt ein! Und Kaffeedamen schreien mit, daß auf Tisch ihrigtem alle Tassen und Gläseln hoben geklirrt!«

Flanken kraulte sich verlegen hinter dem Ohr.

»Was Teufel, Niekchen! Das ist eine üble Entdeckung. Was hast du denn gesagt?!«

Der wackere Tanzmeister lächelte sehr verschmitzt.

»Nix Wohrheit hob ik gesagt, sundern hob gesagt: Leutnant meinigtes hot Kopfweh und will sik Zeit vertreiben. Wirtin dickfelliges hot nix wollen geben Spieldosel, da hot Frantusch Niekchen gemacht allein Musik mit Pfeifen und Stampfen, wos is polnisches Kunzert!«

»Alle Hagel! Das hast du den Damen geantwortet? Waren wohl sehr giftig, he?«

»Nix giftig, Leutnant. Hot Wirtin reumütiges roten Kopf gekriegt und gelocht: Sag' zu deine schwerrkranken Patient, daß er soll haben Spieldosel sofort!« und mit triumphierendem Lächeln wandte er sich abermals zur Tür, an die es schüchtern klopfte, und nahm würdevoll das annoncierte Instrument in Empfang.

Flanken strich sich nachdenklich das Kinn. »Stell sie auf den Tisch, Niekchen, und dann geh hinüber zum Meister Knieriem und kaufe mir zwei schöne, weiche Filzpantoffeln! Die ersten werden's sein, die ich an die Füße bekomme, aber was tut man nicht alles, um einen Walzer zu lernen!« Gott Amor aber saß auf der Tischkante und hielt sich die Seiten vor Lachen. Er lernt doch gar viele wunderliche Heilige in seiner Praxis kennen, einem solchen Original aber, wie dem Herrn von Flanken, war er zuvor noch nicht begegnet. Schnell zog er eine Feder aus dem Flügelchen und notierte sich den außerordentlichen Fall, denn es gibt eine Menge ungläubiger Menschen in der Welt, die alles schwarz auf weiß haben wollen.

Die Filzpantoffeln wurden gekauft, und Tanzmeister Niekchen hat sein Meisterstück gemacht.


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