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XI.

Den Schluß der Vorstellung bildete die Schnitzeljagd. Wenige Minuten genügten Helwig, um die Uniform mit dem Jagdzivil zu vertauschen.

Und die Fanfare ertönte. Der Schnitzelreiter streute seine Papierlocken durch den Raum. Langsam, erst die Damen, dann die Herren, ritten sie, jeder einzeln im gemessenen Schritt unter der weit zurückgenommenen Portiere in den Zirkusraum ein und am entgegengesetzten Ende wieder heraus, um dann nach einem Ritt über den weiten Gang zwischen den Ställen hinter den Tribünen von neuem in gleicher Weise die Fährte zu verfolgen. Lebhafter wurden die Tempi der Musik. Trab und Galopp lösten den Schritt ab; Reiter und Reiterinnen mischten sich durcheinander, ein lustig buntes Bild; junge, schlanke, vornehme Gestalten, das Rokokogewand neben der Kürassier-Uniform; das englische, rote Jagdkleid mit weißen Beinkleidern und hohen, glänzenden Stiefeln neben dem einfachen dunkelen Jagdzivil, eine Blume im Knopfloch, oder die Enden eines kleinen, farbigen Tuches herausschauend aus dem Täschchen auf der Brust.

Aus Brettern gefügte Wände, mit Bächen, Strauchwerk und Gräben bemalt, künstlich gewundene Hecken wurden hereingeschafft; sie bildeten die Hindernisse, welche die Herren vom Sport gewohnt sind, leicht und sicher zu nehmen. Immer lebhafter wurde die Musik; erregt, ja wild, einzeln, in Zwischenräumen, bald mehrere zusammen und schnell hintereinander, wie es Temperament, Geschicklichkeit von Mensch und Tier, auch der immer und überall waltende Gott Zufall mit sich brachten, stürmten unter dem Schmettern der Trompeten Roß und Reiter über die Hindernisse hinweg – heraus und herein, herein und heraus, die nachgeahmte Jagd querfeldein zu vollenden. Selbstverständlich waren die Damen von diesen Leistungen ausgeschlossen.

Doch, um auch hier das Ende mit dem Schönsten zu krönen, sollten die Damen bei dem allgemeinen Trabreiten auf glattem Boden ohne jegliches Hindernis am Schluß der großen Jagd die Zuschauer durch ihre Teilnahme wieder erfreuen.

Darum hielten sie jetzt in einem der kleinen Gänge, welche eine Verbindung mit dem großen Mittelwege und dem Eingange von draußen herstellten.

Adelens rotbraune »Bella« war ein gut zugerittenes, doch immer noch recht empfindsames Tier. War es die Musik, die bis hierher drang, das blendende Gaslicht, die ganze ungewohnte Umgebung, vielleicht das nervöse Spielen mit dem Zügel in der Hand der jungen Frau, welche sorglos sogar die Handschuhe abgestreift hatte: das Pferd wurde unruhig und wollte nicht stehen. Adele war eine tüchtige Reiterin geworden, der neckende Kampf mit dem stolzen, feurigen Tier gefiel ihr. Bella wurde immer unruhiger, ihre Herrin gebrauchte die Gerte. Bella stieg in die Höhe – die Nachbarinnen Adelens kreischten laut auf und ritten zurück. Die junge Frau aber lachte sorglos und mit festem Sitz und sicherem Griff steuerte sie ihr Pferd ein paar Schritte vor, in den großen Mittelgang hinein.

Im gleichen Augenblick brausten mit Hopp und Heh die Jäger in vollem Galopp vorüber. Bella wollte mit – unglücklicherweise kam gerade ein Soldat mit riesigen Brettern voll mächtigen, blau gemalten Wellen über den Weg – Bella scheute und bog zur Seite aus. Diesmal erschrak auch die kühne Reiterin. Die Zügel lockerten sich in der kleinen, sonst so sicheren Hand; das Tier griff aus – der Raum war eben wieder frei und leer – und plötzlich wehte ein scharfer Luftzug. Als wittere sie das Freie, hob Bella den Kopf der Richtung zu, wo, eben von dem Winde aufgestoßen, ein Thor weit offen stand, inmitten der hohen dunkeln Holzwand – Bella war in wenig Sätzen draußen.

Im selben Zeitpunkte tauchte Kanstedt an dem anderen Ende in der Rundung auf – die Reiter schienen sich etwas verzögert zu haben. Er sah, wie das Tier durchging, er hörte Adelens Ruf um Hilfe, und schnell ritt er nach.

Ein weiter Platz dehnte sich draußen in unbestimmte Ferne. Hier und da standen zerstreut einzelne alte Bäume, Zeugen längst vergangener Herrlichkeit eines früheren Parkes, zwischen denen jetzt nur Schutt und Abfall gedieh. Holperig und steinig zog sich der Boden unter dem Schnee dahin, dann und wann die schimmernde Fläche ungleich unterbrechend; hier und da türmten sich hohe Haufen von Sand und Geröll, nirgends war eine Spur von menschlicher Wohnung oder menschlichem Leben. Nur eine schmale Abplattung des unebenen Bodens, die sich von dem nunmehr geöffneten Thor neben dem Gebäude entlang nach der Verkehrsstraße hinzog, ließ erkennen, daß jeweilig die Arbeiter während des Baues ihren Weg hierher genommen haben mochten.

Eben trug der Schnee hier allerdings die Spuren eines feinen Damenstiefels. Man bemerkte es aber nicht, denn, durch die Wand gedeckt, lag der Pfad vollständig im Dunkel.

Weiter hinaus auf der Fläche war es hell, der Schnee leuchtete von unten, am Himmel hoch stand der Mond und goß sein Licht darüber hin. Ab und zu freilich warfen Schutt und Geröll trügerische Schatten, gleich riesigen Nachtgespenstern standen die mächtigen Stämme da und reichten mit ihren breiten, laublosen, dunkelen Ästen unheimlich finster in das rings vibrierende Licht.

Ob von diesen erschreckt, ob von dem Schnee geblendet, immer wieder von neuem scheuend, wie gejagt, raste Bella dahin. Mal glitt sie aus auf der gefrorenen Ebene oder stolperte über das Geröll, war aber immer sofort wieder auf.

In angstvoller Eile setzte Kanstedt dem Pferde und seiner gefährdeten Reiterin nach; er vermochte sie nicht einzuholen.

Einige Minuten schon mochte die wilde Jagd hier draußen währen; drinnen schien niemand in dem Tumult der fröhlichen Schnitzeljagd den Unfall bemerkt zu haben; immer noch waren die beiden Reiter allein auf der glitzernden, stolperigen Ebene in dem blendenden, betäubenden Schneeglanze. Aufmerksam behielt Kanstedt jede Bewegung des scheuen Pferdes im Auge; seine Angst stieg, denn Adele schien vollständig die Herrschaft über ihr Tier verloren zu haben.

Da stürzte die Stute über einen Schutthaufen; endlich – schon berührte Helwigs Hand den schleifenden Zügel. Doch mit einem Satz warf sich das Tier zurück, wandte sich scharf nach rechts und jagte, außer sich, auf eine Gruppe von Bäumen zu, der Form nach Weidenpappeln.

»Gütiger Gott!« – Jetzt erinnerte sich Kanstedt, daß hinter diesen Bäumen der Boden steil abfiel zu dem Bett, in das man einen Arm des Flusses abgedämmt hatte, um hier die Räder der großen Mühlen und Fabriken zu treiben. Schon hörte er das Wasser rauschen von dem mächtigen Wehr – er fühlte, daß sein Fuchs immer matter und zugleich aufgeregter wurde, daß er nicht allzu lange mehr imstande sein würde, dem Willen seines Reiters zu gehorchen.

Und mit kaltem, kühnem Mannesmut und der Kraft eines Verzweifelnden zwang er den Fuchs mit einem Satz hart bis an den Uferrand; dann aber geschickt und sicher, wie es nur der tüchtigste Reiter vermag, parierte er das Tier. Eine schnelle scharfe Wendung auf dem winzigen Raum – und mit mächtigem Sprung warf sich der Fuchs der schräg herauf- und heranrasenden Bella entgegen, um sie knapp vor dem Todessprung in die Tiefe aufzuhalten.

Die Pferde prallten gegeneinander. Schon fühlte Helwig, wie der Boden unter den Hinterhufen seines durch den Stoß zurückscheuenden Pferdes wich – er dachte nur an Adele.

»Laß los«! schrie er in der Verzweiflung zu dieser herüber, und nachdem es ihm gelungen, sich selbst schnell aus dem Sattel zu bringen, reichte er helfend die Arme nach ihr hin.

Ob sie ihn verstanden, ob sie die Gefahr, welche da unten gähnte, erkannt, oder ob sie die letzte Kraft verlassen hatte: die junge Frau flog von dem eben zum Sprung ansetzenden Pferde. Selbst in die Kniee gebrochen, fing Helwig die Sinkende auf.

Da polterte und klatschte es von der Tiefe herauf; der Fuchs war den Abhang heruntergestürzt; noch eine Sekunde und von neuem schlugen die Wasser zusammen: auch die rotbraune Stute hatte das Rennen beendet.

Zur vollen Bewußtlosigkeit erschöpft, lag die junge Frau da, wie sie Helwigs Armen entfallen war, den Kopf gegen sein Knie gelehnt; er aber wußte nur, daß sie dem Tode glücklich entronnen waren und daß er sie gerettet hatte. – »Adele,« jauchzte er, alles vergessend, »komm zu dir, Liebste, es ist alles vorüber!« Da hob sie die Lider langsam und schwer; dann aber leuchtete es auf in den dunklen sammetweichen Sternen mit blitzendem Strahl – die blassen Wangen erglühten in ihrem wunderbaren Karmin:

»Du liebst mich doch, Helwig,« flüsterte sie – »ich weiß es wohl, daß du mich nicht lassen kannst. Und so schwer hast du mir es gemacht, du böser Mann,« es klang leise kosend – »erst die Todesnot hat dich wieder zu mir geführt. Aber nun« – und leidenschaftlich schlangen sich die Arme der jungen Frau um seinen Nacken – »bist du gut! Ich liebe dich und habe dich immer geliebt, darum mußte ich dich schließlich wieder haben! Nun bleibst du mein für alle Zeit!«

Im Nu stand er auf den Füßen und hatte sie mit sich emporgezogen; mit starkem Arm hielt er sie wehrend von sich ab, starr und finster sah er ringsum – auf Adele, auf sich selbst, als gälte es sich erst in dem Augenblick zurecht zu finden.

Da wob – o weh – kein blinkendes Sonnenlicht durch lispelnde Zweige, da war kein farbiges Blühen am maiengrünen Hag, noch süßer Vogelsang am duftenden Rain – Winter lag über der Welt, tiefer, schneidender Winter mit erstarrendem Schnee und durchdringendem Wind, den Helwig trotz der Erregung mit bitterer Genauigkeit durch die Kleider fühlte, der ihm, die heiße Stirn empfindlich kühlend, seine Gedanken und Empfindungen klären half.

Diese Frau in dem glänzenden Gewand, das ihren Reiz mit seinen verführerischen Künsten noch erhöhte (auch das bemerkte Helwig mit qualvoll verschärftem Bewußtsein), diese Frau, die da, umflossen vom Mondenlicht, leuchtend sich abhob aus der Nacht wie ein bestrickender Dämon, das war nicht die Adele, die sich einst an seine Brust geschmiegt.

Oder doch, sie war es. Nur daß in dem jungen Mädchen das Weib noch geschlummert hatte, schön und bezaubernd, ja! Aber auch raffiniert, kokett, verführerisch und frivol, wie die Zeit, welche das Rokoko erfunden: ein Weib, das mit allem Heiligen ein Spiel getrieben, eins nur ernst genommen hat: Glanz, Pracht und Genuß.

Jetzt schmeckte er den Puder von ihrem Haar auf seinen Lippen – und ein Gefühl des Abscheues überkam ihn vor der Leidenschaft, welche die Sprache der Liebe gestohlen hatte; ein schmerzlicher Riß ging durch sein Herz. – »Nein,« sagte er bestimmt: er wollte sagen, »ich liebe dich nicht – länger« – sie aber sah ihn an und hob bittend, verzweifelnd die Hände.

Und die Züge unserer Liebe behalten selbst, wenn sie gestorben ist, noch auf lange hin einen bestrickenden Reiz. Helwigs Blick wich diesen Zügen aus; er fiel auf die Hand der jungen Frau. An dem schlanken, weißen Finger dieser Hand schimmerte ein glatter, goldener Reif. – »Nein«! klang es noch einmal und schmerzlich, eben.

Lichter tauchten auf in der Ferne, kleine gelbe Punkte auf dem weißen Schnee – hier eins, da eins – sie wurden größer, Stimmen wurden hörbar, unterschieden sich. –

»Hier!« rief Helwig, »hier!« – Mächtig wie ein befreiender Klang hallte es über die gefrorene Schnee-Ebene hin. –

Die rotbraune Bella hatte eben den steilen Rand auf die Höhe erklettert, zitternd an allen Gliedern, mit hängendem Schweif, die Ohren zurückgelegt, Hals und Kopf suchend gestreckt, tastete sie pustend und schnaubend über den Boden. Das Wasser troff aus der langen Mähne, rann von dem feinen Fell. –

Rodenheim war der erste zur Stelle; er sah das triefende Pferd, den Sattel leer. »Dela, Dela«! schrie er verzweiflungsvoll.

Die junge Frau schlug die Hände vor das Gesicht: »Helwig – habe Mitleid, sprich schnell ein ander Wort!«

»Nein,« sagte er noch einmal und diesmal fest. – »Sie haben es selbst so gewollt,« murmelte er dumpf.

Kurz und entschlossen faßt Helwig Adelen an der Hand und führt sie aus den bergenden Bäumen hervor. »Hierher, Rodenheim, Ihre Frau ist hier und unversehrt!«

»Dela,« jubelte Thilo, »Herzblatt« – und in ehrlich überströmenden, ein wenig plumpen Worten gab er seinen Empfindungen Ausdruck und hüllte dann Adele in den vorsorglich mitgenommenen Pelz.

»Kanstedt, liebster bester Kanstedt, Sie haben mir meine Frau gerettet!« brach er dann aus ...

»Ich habe mir Mühe gegeben,« meinte Helwig mit glücklichem Versuch, der beklemmenden Lage Herr zu werden, indem er sie scherzhaft gestaltete.

Adele schwieg; sie zitterte; schwer und schleppend schritt sie neben dem Gatten hin, der sie sorglich stützte.

Plötzlich, als habe sie etwas gräßlich Entsetzliches befallen, schreckt sie zusammen und läßt den Arm des Gatten fahren mit einem Schrei.

»Nichts, o nichts.« Eine schnelle Fassung blieb Adelen treu, wie allen denen, die in allen Fällen immer zuerst an sich denken. »Ich habe mich gestoßen, an einen Stein,« war dann die Antwort auf seine Frage.

Von dem Wind bewegt, hin und her flackern die rötlich gelben Flammen der Windlichter und Laternen unstät und trübe über den weißen glitzernden Schnee. »Wie Irrlichter,« murmelt sie leise.

»Wünschest du etwas?« meint Thilo zärtlich besorgt. Sie schüttelt den Kopf; sie zieht die Kapuze über das Gesicht. Sie vermag nicht zu reden; sie will nichts hören, nichts sehen, nichts sinnen und denken.

Und doch, immer wieder von neuem sieht sie des Geliebten Blick haften auf dem glatten goldnen Reif an ihrer Hand; hört sie sein trennendes Wort.

Unstät und flackernd, einem Irrlicht gleich, tauchte immer wieder aus dem Chaos ihrer Empfindungen auf der Gedanke einer Möglichkeit, der sich, ohne daß sie sich dessen klar bewußt ward, in einem Wunsch an das Schicksal richtet; ein Gedanke, nein, der Schatten nur von einem Gedanken, der, ob er sie auch zuerst entsetzt, nun doch um ihre Seele gleich einem bösen Zauber immer enger seine Kreise spannt.

Frau von Rodenheim hatte doch eine wunderbare Natur! Sie empfing am andern Morgen die nicht endenwollenden Besuche ihrer teilnehmenden Freunde in höchst geschmackvoller Toilette und ausgezeichneter Stimmung. Man amüsierte sich über den Zwischenfall, der eine unfreiwillige, doch echte Parforcejagd an Stelle der künstlich nachgeahmten gewesen, von welcher die gnädige Frau nicht einmal einen Schnupfen davongetragen hatte.

An eben demselben Morgen war die Gräfin Berg von einem toten Knaben entbunden worden. Der Kleine hatte sich zu früh in die Welt gewagt.

Auch hier fehlte die Teilnahme nicht, nur wurden natürlich keine Besuche vorgelassen. Die Gräfin war körperlich so krank, meinte der Arzt, daß das traurige Ereignis kaum einen Eindruck auf ihr Gemüt zu machen schien.

Vielleicht hatte aber ein anderes Ereignis, von dem er nichts wußte, die Kräfte der jungen Frau zu sehr erschöpft, um nach dem Jammer, daß ihr ganzes Glück eine einzige Täuschung gewesen, die sich heute darin einreihende noch besonders zu empfinden; sie erschien ja fast als deren natürliche Folge! Eva sprach nicht, sie bewegte sich nicht, nur wenn ihr Gatte ab und zu im Zimmer erschien, lief ein Schauer über die zarte Gestalt. Sie wollte den Kopf zur Seite wenden, aber sie war zu schwach, wollte ihm die Hand entziehen, die er diesmal in aufrichtigem Kummer und Mitleid zwischen seine Finger nahm, auch dazu fehlte die physische Kraft. Er strich ihr das Haar aus der feuchten Stirn; er schlang wie in guten Stunden die langen blonden Strähne, welche das blasse Gesichtchen auf dem weißen Kissen umflossen, um seine Finger: arme kleine Frau, daß es so kommen mußte!

Und die Seele der armen kleinen Frau krümmte sich wie ein Wurm, wenn er zertreten wird. Die Augen fielen ihr zu.

Der Graf hatte keine Ahnung von dem, was Eva in Wahrheit bewegte und was sie litt, eben wirklich gut und liebevoll – er streichelte ihre Wangen und küßte sie.

Wie die Sonnenblume ihrem Gotte folgen muß, so regte sich gleichwohl auch in Eva, aller erlittenen Kränkung ungeachtet, bei ihres Gatten Zärtlichkeit, was er und seine Küsse ein- für allemal zum Leben erweckt.

»Verzeih!« flüsterte sie. Sie dachte doch wieder nur an ihn, und daß sie ihm eine Täuschung bereitet.

»Liebe Eva!« – Er war gerührt: »Wenn du nur erst gesund bist, dann ist alles gut!«

Wieder konnte die kleine Frau nicht anders, ja, auch sie war keine Heldin – sie schlug die Augen auf; sie blickte ihn an; eine leise Röte stieg in ihre Wangen; dunkler wurde die matte Iris der großen Augen, heller der schon halb erloschene Glanz. Es war, als wenn ein fliehendes Leben zurückkehrte, und mit seiner ersten Regung auch das alte Gefühl, nur daß es die junge Frau vor sich selbst entschuldigen zu müssen glaubte.

Eine eigentümliche Empfindung überkam den Grafen endlich doch gegenüber diesem Blicke, der so keusch, so rein, so selbstvergessen war, in dem er heute nicht alles verstand.

Nicht, daß ihn das kleine Begegnis mit der schönen Witwe drückte, er würde gelacht haben, hätte ihm jemand dergleichen gesagt. Überdies war die ganze Sache nur ein Zufall gewesen, ein ganz annehmbarer gewiß, aber doch ein Zufall nur.

Auch die klügsten Frauenköpfe werden gelegentlich wieder von närrischen Launen heimgesucht, wie der bestgeschulte Philister zuweilen wieder in einen Jugendstreich verfällt. Mrs. Bower aber war trotz ihrer Klugheit ein sehr launenreiches Geschöpf. Hatte die Seltsamkeit des ganzen Abends die schöne Frau mehr als gewöhnlich erregt; hatte die Persönlichkeit des Grafen, die allerdings heute glänzend zur Geltung kam, einen lebendigern Eindruck auf ihr Herz gemacht oder drängte ihr Naturell darauf, endlich einmal die lang geübte Zurückhaltung dem Grafen und der Gesellschaft gegenüber fallen zu lassen – genug: einem plötzlichen Eindruck folgend, hatte Mrs. Bower ihren Arm aus dem des Barons gelöst, sobald sie dem Stande des Grafen nahe gekommen – es wurden hier grade ein paar Pferde vorübergeführt, und so war der Baron wirklich, ohne es zu bemerken, vorübergedrängt. Mrs. Bower war dann zu dem Grafen getreten, der eben noch bei seinem Rappen stand. Als ein galanter Mann hatte der Rittmeister durchaus nichts gegen die warme Bewunderung der schönen Frau; aber er wußte doch, was er sich, der Gesellschaft und seiner Frau schuldig war, er hatte durchaus keine Lust, sich bloßzustellen. Und da er in der nächsten Biegung des Weges seinen Kommandeur auftauchen sah, vor dessen Blicken ihn glücklicherweise eine vorspringende Wand noch deckte, lud er Mrs. Bower artig ein, sich den hintern Raum zu besehen, den jener Teppich eben in Form einer Portiere zurückgehoben, von dem vordern schied. Wie im Spiel zog er an der Schnur, die den schweren Stoff hielt; sie gab nach, der Teppich fiel herunter. »Gefangen also!« lachte Mrs. Bower und blickte sich um in dem abgeschlossenen, dämmernden Raum – dann mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich gegen den Grafen, legte ihre beiden Hände auf dessen Schultern und sah mit heißen Blicken zu ihm auf. Die Lage war seltsam genug, und so war es am Ende nur natürlich, daß er seinen Arm um ihre Taille geschlungen, ihre Lippen sich gefunden hatten. Nicht minder begreiflich war es wieder, daß sie beide in diesem Augenblick weder die leisen Worte zwischen Kanstedt und Eva draußen hörten, noch bemerkten, daß diese während einer Sekunde Dauer die lautlosen Zuschauer der sonderbaren Scene geworden waren.

Wenige Minuten später und der Graf und Mrs. Bower hatten sich voneinander verabschiedet, ganz und lediglich en bon camarade, wie die exotische Witwe noch besonders betonte. Auch sie hatte ihre kühle, freie Haltung wiedergewonnen.

Nein, dies Zwischenspiel bedrängte den Grafen nicht.

Mrs. Bower war ihm einstweilen nicht mehr als eine unter den andern, nach denen seine Hand reichte, wie nach einem Glase Wein, wenn es auf dem Buffet steht und man Durst hat. Instinktiv aber fühlte er, daß Eva in ihrem Empfinden über ihm stand. Ob er auch diese »Sentimentalität«, diese »Motten im Temperament«, die bei ihm durchaus keine wohnliche Stätte fanden, bespöttelte: es bedrückte ihn doch.

Allein, nachdem er einmal sein Leben klargelegt, alles überwunden hatte oder zu überwinden strebte, was ihn peinlich beengen wollte, hatte der Graf im Weggelangen über Bedrückendes eine Virtuosität erlangt, um die ihn mancher beneidete, die ihn nimmer im Stiche ließ.

Und so war es nicht zu verwundern, daß das dunkel verhangene Zimmer ihm bald den Atem beengte – und da fiel es ihm glücklich ein, daß es Zeit zum Dienst war.

»Du mußt ruhen, Eva,« sagte er; sein Ton war weich und voll. Er neigte sich über die kleine, blasse Frau in den weißen Kissen; die Locken seines Bartes streiften in flüchtigem Kuß die feuchte Stirn, seine Hand umschloß ihre Finger und mit elastischem Schritt verließ er das Gemach. – Von allen Kräften verlassen, sank die kleine Frau zurück.

»Schade um den Jungen,« meinte der Graf, als er eben durch die Flucht der Zimmer eilend in das gelangte, wo die winzig kleine Leiche auf rotseidenem Kissen unter weißem Linnen aufgebahrt lag. Ein Zug echt aufrichtiger Trauer trat in sein stolzes Gesicht; die Hand zuckte, das Tuch zu heben, sein Kind noch einmal anzusehen! Aber der Tod ist kein erbaulicher Anblick und eine fatale Erinnerung für jemand, der das Leben genießen will. Die Sache war schon störend genug; wozu sich noch mehr erregen, wo nichts zu ändern war!

Hastig schreitet er vorüber, nervös sucht er nach Handschuhen und Mütze – »man muß nicht daran denken!« Er schlägt mit der Gerte durch die Luft, daß es pfeift – »Kinder ersetzen sich« – noch einmal pfeift die Gerte; er schreitet die Treppe hinunter, beinahe hätte er selbst gepfiffen, er besann sich noch zur rechten Zeit.

Dann geht er nach dem Casino, er will nur einmal vorsprechen, etwas fragen, in die Blätter sehen. Er mag die Condolenzen nicht, er hat Unglück gehabt, Pech; er will keines haben! Er eilt wieder fort, er will nach dem Klub.

»Ich gehe mit dir nach Haus, Heino,« sagte Kanstedt, der ihm hier auf dem Wege begegnete, mit warmem Freundeswort. »Ich begreife, daß du nicht gern allein bist.«

Und um Eva's willen zwang Helwig Kanstedt jeden Groll gegen den Grafen hinunter, überwand er alles, was ihm den einstigen Freund entfremden, ja, verächtlich machen mußte, verbrachte er jede freie Stunde bei diesem, damit nicht irgend ein unbedachter Schritt, wie er eben schlecht für die Verhältnisse passen würde, den Grafen selbst noch mehr schädigen und damit die arme Frau noch mehr verletzen möchte. Auch als das kleine tote Wesen fortgebracht wurde, begleitete er den Grafen auf diesem traurigen Gange.

Eva nickte, als sie davon erfuhr. Es schien ihr fast selbstverständlich, daß er bei allem war, was sie anging; sie war beruhigt, daß solch ein Freund ihrem Gatten zur Seite stand, auch daß ein Mensch in der Welt war, auf den sie bauen konnte – der etwas für sie übrig hatte. So schimmerte es doch wie der lichte Strahl eines Sternes in dunkler Nacht tröstend durch ihren Kummer.

In dem Maße, als dann der jungen Frau die Kräfte wiederkamen, machte sich auch die Trauer um die begrabene süße Hoffnung geltend, – doch der Kummer um den Gatten überwog jene Trauer. Immer noch lebte ja die große Liebe in ihrem Herzen, und an diese zumeist dachte Eva in ihren einsamen Stunden.

Weder die Gesundheit noch die Stimmung der jungen Frau eigneten sich für geselligen Verkehr. Dennoch hätte es sein müssen, würde sie sich mit der letzten Kraft dazu gezwungen haben. So aber kamen ihr diesmal die traurigen Verhältnisse zu Hülfe: es war konventionell vollständig richtig, daß Bergs die Saison pausierten.

Wohl trieb auch jetzt wieder der natürliche Anstand den Grafen, freundlich, ja aufrichtig zärtlich gegen seine Frau zu sein, wie er es ja immer, je nach Stimmung, sein konnte und gewesen war. Es überkamen ihn sogar edelmütige Anfälle, wo er meinte, Eva an den langen Winterabenden etwas Gesellschaft leisten zu müssen, und dann wirklich wieder bezaubernd sein konnte.

Doch leidende Frauen sind gerade nicht amüsant, im Gegenteil bedrückend, beklemmend für den physisch so viel kraftvoller und psychisch so viel weniger zur Geduld angelegten und darum reizbarem Mann. Nur wirklich echte Liebe oder ein tapferes, ehrliches Pflichtgefühl hält in solchen trüben Stunden mit dem Weibe aus, das meistens aus Liebe zum Leiden kommt.

Der Graf kannte Beides nicht. Bald wurde es ihm schwer, seine Liebenswürdigkeit zu behaupten, er langweilte sich. Und da unter dieser Empfindung auch der letzte Versuch, eine Zärtlichkeit aufrecht zu erhalten, erstarb, meinte er einfach, »das könnte auch niemand verlangen, und es sei gescheiter, dergleichen öde Abende zu unterlassen.«

Und da es nun der Graf in seiner Häuslichkeit nicht wohl aushalten konnte, die konventionelle und damit auch die kameradschaftliche Geselligkeit unter den Verhältnissen zum Teil ganz fort fiel, begann er nach und nach seine Junggesellengewohnheiten wieder aufzunehmen, wie es ihm früher schon recht leicht geworden war und wozu er entschieden mehr denn jeder andere beanlagt zu sein schien. Er ging in den Klub, wo man jeden Abend ein Spielchen oder eine andere Unterhaltung fand, welche seinen Bedürfnissen entsprach; ab und zu auch einmal zu Mrs. Bower.

Rittmeister Graf Berg hatte die Frauen niemals ernsthaft genommen: doch gleich den Perlen des schäumenden Weines liebte er den Verkehr mit dem schönen Geschlecht als etwas, das so selbstverständlich zu dem Bankett des Lebens gehört, wie eben Sekt zu einem feinen Diner. Ebenso hatte sich der Rittmeister an das Behagliche einer eleganten Häuslichkeit gewöhnt, wie sie auch bei Mrs. Bower waltete.

Auf diese Weise blieb Eva immer mehr allein. Besuche kamen selten. Die Gräfin nahm auch niemand an; sie war viel zu traurig.

Selbst Helwig Kanstedt erschien nur dann und wann auf einen Augenblick. Den Tag über nahm ihn der Dienst in Anspruch; am Abend aber, da der Graf auf seiner wieder eingerissenen Gewohnheit, nie zu Hause zu sein, bestand, konnte er nicht wohl die Gräfin besuchen. Es war ihm leid und er entbehrte den ihm liebgewordenen Gedankenaustausch mit Eva, und doch fühlte er, daß es so am besten sei! Denn ob auch der Bote schuldlos ist an der Schmerzensnachricht, die er bringt: man ist ihm gleichwohl gram. So auch scheut man den Blick desjenigen, der um unsere Leiden weiß, namentlich wenn diese Niederlagen bedeuten, – besitzt er selbst zufällig ein großmütig feinfühliges Herz, so scheut er selbst sich, uns an etwas zu erinnern, was unfehlbar mit seinem Erscheinen von neuem wieder lebendig werden muß.

Wie dankbar auch Eva Kanstedt war für seine zarte Verschwiegenheit, und wie er hinwiederum alles gethan haben würde für das Glück und die Ruhe der jungen Frau: die Erinnerung an jene traurige Stunde bedrückte sie beide.

Einmal nur hatten sie derselben, wenn auch nicht mit direkten Worten, gedacht. Es war, als Kanstedt die Gräfin zum ersten mal nach ihrer Krankheit wiedersah. Der Graf selbst hatte ihn mit hinüber genommen in das blaue Zimmer, um seiner Frau guten Tag zu sagen.

»Wie gut Sie doch sind, Herr von Kanstedt!« begann Eva in dem ersten freien Moment; – der Rittmeister hatte sich an Fräulein von Schletten gewandt, welche gleichfalls zu einem ersten Besuche bei der Gräfin vorgelassen worden war. – »Ich danke Ihnen für alles – alles!« – sie brach ab – Thränen traten in die großen, tiefen Augen; dann, sich zusammennehmend, fuhr Eva fort: »Möchten Sie so glücklich werden, wie Sie zu sein verdienen!«

»Glücklich?« – Ein bitteres Lächeln legte sich um des Hauptmanns Mund: »Glauben Sie, das Glück gehe nach Verdienst, Frau Gräfin? – Ich glaube nein; ebenso wenig wie die Liebe.« –

Das war nach seinen Erfahrungen ein durchaus naheliegender Gedanke. Allein er hätte es hier nicht sagen dürfen. Er erschrak. Eine dunkle Röte übergoß das bleiche Gesichtchen der jungen Frau.

»Verzeihen Sie, gnädigste Gräfin,« sagte er schnell, »und glauben Sie, daß ich das nur im allgemeinen behauptet, auf das Allgemeine bezogen habe.«

Eva sah ihn an: »Ja, ich glaube Ihnen immer, immer. Ich würde mich ja vor mir selbst schämen müssen, wenn ich Sie mißverstehen könnte.«

Ein schönes, befriedigtes Lächeln ging über sein Gesicht: »Dann noch eins, Gräfin,« begann er warm: »Sie thun mir auch einen Gefallen ...«

Auch Eva lächelte; sie meinte, sie müsse es ihm doch beweisen, daß sie ihn nicht mißverstanden.

Und Kanstedt, der es an sich erfahren, was ihm die Arbeit gewesen, als es galt, das herbste Leid seines Lebens zu überwinden; was sie ihm immer noch war, wenn es galt, fest zu bleiben in Ehre und Pflicht, das Bild Adelens zu bannen, das stets von neuem verwirrend vor seine Seele trat: – er gedachte auch der verlassenen einsamen Frau mit einer ernsten Beschäftigung den besten Halt, das beste Mittel zu reichen, sich kräftigen zu können in sich selbst; um in den allgemeinen Interessen einen Ersatz zu finden für die zerstörten Hoffnungen des eigenen Herzens; sich mit allem, was an Schönem und Edlem hoch über dem Einzelleben steht, erheben zu lernen: auch über das persönliche Geschick.

Kanstedt bat Eva, sobald es ihre Kräfte erlaubten, wieder mit Malerei und Lektüre, als einem regelmäßig geordneten Studium, zu beginnen.

Die junge Frau machte erstaunte, fast starre Augen; es schien ihr im Augenblick alles sehr nutzlos in der Welt, sie sah sogar eben recht abwesend aus. Das aber beirrte ihn nicht.

»Ich meine es gut, Gräfin Eva,« bat er noch einmal.

»Ich weiß,« nickte Eva wie bezwungen.

»Versprechen Sie es mir.« Er bot ihr seine Hand.

Sie legte die schmalen Finger hinein, nickte noch einmal, und heiterer klang es: »Ich denke daran.«

Und Helwig Kanstedt sorgte nach wie vor für die Lektüre der jungen Frau. Ihr zuliebe las er manches leichte Werk, wozu er sich sonst kaum die Zeit genommen haben würde; mehr und mehr aber wählte er Bücher mit ernsterm, wissenschaftlichem Inhalt, wie sie zur Vertiefung und Kräftigung auch der weiblichen Bildung gehören. Ebenso überwachte er Evas Fortkommen im Zeichnen und Malen.

Kaum merklich, doch stetig und sicher, begann eine Wandlung in der jungen Frau. Sie trauerte nicht weniger über alles, was sie betroffen; sie liebte ihren Gatten eben so heiß: aber es begann sich etwas neben dieser Trauer, neben dieser Liebe zu regen, ganz leise und allmählich; es wagte aber sich zu behaupten. Zuerst hatte sich Eva beschäftigt, weil sie es versprochen; dann wurde es ihr eine liebe Gewohnheit, ein Trost, ein Halt in den langen, einsamen Stunden. Immer mehr dann keimte der Gedanke in der jungen Frau, daß unser Leben doch noch eine andere Bestimmung haben müsse, als uns thatlos elend oder thöricht glücklich hindämmern zu lassen.

Dennoch gab es auch hin und wieder lichte Stunden für die arme Eva, hatte der Rittmeister generöse Augenblicke für seine Frau. War diese doch noch viel zu jung, ihre Liebe doch noch viel zu groß, um nicht immer wieder zu hoffen auf das Glück, oder eine Glorie zu weben um des Geliebten Haupt, vor der jeder Schatten verblich.


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